Brücken von Marguerite Porete zu Monica Vitti
Den Begriff Decreation hat Simone Weil geprägt. Sie meinte damit den Eintritt in die „wahre“ Schöpfung, ein Weg (für Weil der einzige), der zur Wahrheit führt. Carson selbst formuliert es härter, sie nennt Weils Dekreation, ein „Programm, mit dem sie ihr Selbst aus dem Weg schaffen wollte.“
Um Wahrheit geht es auch Anne Carson in ihrem jetzt von Anja Utler übersetzten Buch, das eben diesen Titel trägt, und dessen unterschiedliche Stationen zusammengehalten werden, von dem unerschrockenen Willen Carsons, einer Art von Wirklichkeit nachzuspüren, die inkognito bleibt, begonnen bei den Stationen, mit denen sie das Sterben der Mutter beschreibt, über die Frage, welches „etwas“ sich im Schlaf verbirgt. Welches archaische „etwas“ zwischen Hoffnung und Hoffnungslosigkeit in der Literatur von Aischylos bis Lacan festgemacht werden kann.
In TROTZ IHRER SCHMERZEN; NOCH EIN TAG stehen die Schlusszeilen:
„Sie auf dem Bett wie gekrümmte Zweige.
Ich, wie immer, nicht da.“
Diese schonungslosen Beobachtungen eines Abschieds, der längst stattgefunden hat, sind typisch für Carson.
Bewegend sagen wir, wenn wir meinen, dass man über dieses Gedicht, dieses Bild nicht einfach hinweggehen kann. Dass es etwas bewirkt. Vielleicht verändert. Das Gleichförmige durchbricht. Anstoß gibt. Möglichkeit zum Aufbruch.
Für diesen Aufbruch baut Carson ihren Lesern Brücken.
Exemplarisch für Carsons Art Brücken zu bauen, ist ihr Talent scheinbar Unzusammenhängendes zusammen zu bringen. Carson schlägt Bücken von den eigenen Träumen zu antiken Riten, von Virginia Woolf zu Homer, von Kant zu Monica Vitti. Schlafwandlerisch bahnt sie Wege, die der Leser dann allerdings allein weitergehen muss, eine Tatsache, die ihr im deutschen Sprachraum zuweilen die Kritik der Inkonsequenz eingebracht hat. Weil sie, (ich behaupte sehr bewusst) diese Lücken lässt, die nur das eigene Denken, das des Lesers füllen kann. Sie nimmt das Schreiben zu ernst, um einfache (und lückenlose) Antworten zu liefern.
Statt dessen hat sie den Mut, die gängigen Definitionen (die ja immer auch Grenzen sind), abzulehnen, in Frage zu stellen, ob sie passen, ob sie sich der eigenen Wahrheit anpassen, oder nur dazu zwingen, sich dieser von ihnen behaupteten Wirklichkeit anzupassen. Dieser überwältigende (und gefährliche) Mut, nicht nur zu existieren, sondern so voll und ganz zu sein, dass man sich selbst verliert und auf diese Weise, jenseits eines behaupteten (angepassten) Ichs, zurückkehrt in die Schöpfung, aus der man als Teil hervorgebracht wurde.
Vielleicht ist es das, was Marguerite Porete, Simone Weil und Sappho (von denen Carsons dreiteiliger Essay handelt) auf unterschiedliche, (aber immer sehr radikale) Weise eint, die Erkenntnis, dass nichts dem Leben, dem Sein, der Verbindung mit Liebe, Frieden und Harmonie mehr entgegensteht, als das „Ich“, das „Selbst“.
Ihre Erkenntnis, dass wir an der Unmöglichkeit von uns abzusehen, leiden. Und uns, im Gegensatz zu ihnen, weigern, das zu begreifen. So dass wir gefangen bleiben, in immer neuen halbherzigen (falschmünzerischen) Kreationen, aus Angst vor der Dekreation, aus Angst vor der Einsicht, dass die Auslöschung Auferstehung ist.
Das „Ich“, das „Selbst“, um das unsere Gesellschaft tanzt wie um ein goldenes Kalb, gilt es loszuwerden, zu überwinden, an seine Quelle zurückzuführen.
Immer wieder wechselt Carson die Formen. Ohne dass es Übergänge gibt, nichts wird umgewandelt, vielmehr hat der Leser das Gefühl einer absolut natürlichen Entwicklung der Gedanken, die vom Essay in ein Gedicht übergehen, von einem Libretto in einen Dialog, vom Schlaf zum Erhabenen. Carson geht es um etwas, das alle scheinbar unterschiedlichen Themengebiete vereint: „Nämlich die Leere in den Dingen, ehe wir unseren Nutzen aus ihnen ziehen, einen Blick auf die Wirklichkeit vor ihren Wirkungen.“
Carson umkreist diese Leerstelle, und entwickelt ihre Interpretation der Dekreation als Möglichkeit der Wahrheit ein Stück näher zu rücken.
Über Longinus Abhandlung vom Erhabenen schreibt sie: „Man schließt die Lektüre dieser vierzig (unvollendeten) Kapitel ohne eine klare Vorstellung davon ab, was das Erhabene denn nun eigentlich ausmacht. Aber ihre Dokumentationstechnik elektrisiert.“
Und ich habe das Gefühl, sie beschreibt damit ihre Art zu schreiben.
Sam Anderson schildert in der New York Times seinen Eindruck von Anne Carson: „Carson gives the impression – on the page, at readings – of someone from another world, either extraterrestrial or ancient, for whom our modern earthly categories are too artificial and simplistic to contain anything like the real truth she is determined to communicate.”
Ich spüre als Leserin, wie sich die einzelnen Puzzleteile verdichten, ohne jemals ein vollkommen klares Bild zu ergeben. Erst recht keines, das feststeht.
Carson erzählt nichts nach und eignet sich nichts an, vielleicht weil sie immer ihre eigene Definition eines Zitats im Kopf hat, „Ein Zitat (das als englisches quote mit der Quote [quota] zusammenhängt) ist ein Abschnitt oder Ausschnitt, das Stück einer Orange, die einem nicht gehört. Man saugt das Stück aus, wirft die Schale weg, läuft weiter. Das Vergnügen an einer Dokumentation speist sich zum Teil daraus, dass ihr etwas von Gaunerei anhaftet. Jemandes Leben oder Sätze zu plündern und dabei mit einem Standpunkt davonzukommen, den man „objektiv“ nennt, weil sich alles in ein Objekt verwandeln lässt, wenn man so damit umgeht, ist aufregend und gefährlich. Sehen wir uns an, wer die Kontrolle über diese Gefahr hat.“
Genau das tut sie ständig, sie sieht sich an, wer die Kontrolle hat. Noch einmal muss ich Sam Anderson zitieren, der schreibt: „This, I think, is the best catchall description of Carson. Wherever she goes, whatever she does, she is always a visiting [whatever]. “
Es ist dieses Verhalten Carsons als Besucherin, zurückhaltend, eben wie jemand, der die Dinge ansieht, ohne sie in Besitz zu nehmen, ohne ihnen ihre eigene Begrifflichkeit aufzuprägen (whatever), die ihre Sätze, ihre Art zu dokumentieren, derart elektrisierend macht. Fordernd, ohne auszuschließen.
Sie führt ein Gespräch. Mit sich selbst, mit den Gedanken anderer, aber auch und immer, mit dem Leser.
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