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Kritik

Das geheimnisvolle Gedicht

Hamburg

„Was nicht zur Erhellung des Sinnes beiträgt, sollte man weglassen.“

„Ein Enjambement sollte man als Sprechanweisung verstehen.“

„Ein Gedicht soll für sich selbst sprechen, auch wenn es sich oft erst ganz entschlüsselt, wenn ich etwas vom Dichterleben und von dessen Zeit weiß.“  

Solltitis. Das habe ich davon, dass ich das Buch so schnell gelesen habe, es blieben all die vielen ‚solls‘ und ‚mans‘ an mir kleben.

„Aber auch Modeerscheinungen, Philosophisches und Politisches werden aufgegriffen. Letzteres, trotz des Kabaretteffekts, wirkt auf mich oft vordergründig und naiv belehrend.“ Das gilt den Slam-Blagen, diesen Wichten. Sie sollten es sich hinter die Ohren schreiben.

Ohrklingelsätze. „Das Entscheidende in der Kunst ist das Können, nicht das Bekenntnis.“ Solche Sätze brettert Hensel dem Leser pausenlos an den Kopf, ich fand das, gelinde gesagt, irritierend. Vielleicht bin ich, ohne es zu wissen, einer der Brimborium-Leute im gegenwärtigen Kunstbetrieb?

„Einsichten, Erkenntnisse, gar Festlegungen gelten im gegenwärtigen Kunstbetrieb als altbacken-diktatorisch und werden oft mit großem theoretischem Brimborium für tot erklärt.“ (S. 10)

Ich las so schnell, um in dem Buch die Stellen zu finden, wo das im Literaturverzeichnis erwähnte Helm aus Phlox – aufzeigen: wer hat’s zu Ende gelesen? Dachte ich mir! – eingearbeitet wurde. Aber es kam nicht, ein Fall von schmückendem Referenz-Dropping im Anhang.

Kerstin Hensel schreibt anhand von langen Reihen von Beispielen über „starke, schwache und vollkommen misslungene Gedichte“. Für Laien schreibt sie, schreibt sie. Und hat dabei – nicht nur, aber hauptsächlich – schreibende Laien, das ‚Versschmiedegewerbe‘ vor Augen, die sie sanft auf Fehler und Fallgruben zu stupsen hofft.

Das ist ein recht exotischer Ansatz, darüber sollte man mal nachdenken. Würde es Sinn machen, z.B. über starke, schwache und vollkommen misslungene Fernsehsendungen‘ zu schreiben? Würde man ernsthaft die Kritik an langen Reihen von Splatter-B-Movies, Herz-Schmerz-Vorabend-Serien oder Reality-TV ansetzen und diese mit Beispielen gelungener Filmkunst kontrastieren?

Für die große Masse der Laien ist vollständig klar, behaupte ich jetzt frech, was ein starkes Gedicht ausmacht: es soll schön klingen, einfach verständlich sein und Kopf/Gefühl ansprechen. Die Toleranz bezüglich anspruchsvoller Gedichte ist seitens der Laien meist gar nicht gering, da reicht ein ‚nicht meins, ist mir zu anstrengend‘. Sie sind zufrieden in ihrer Nische, freuen sich an Blumengedichten in freiem Vers oder einer gereimten Reflexion. Warum sie belehren, in Bereiche treiben, die sie nicht interessieren?

Hensel hat kein Lehrbuch geschrieben, wer sich schreibend weiterentwickeln will, wird sicher mit Büchern wie etwa Martina Webers ‚Lyrik schreiben‘ mehr anfangen können. Hensel wendet sich an Leser, die ihr Urteil verbessern wollen. Das lenkt den Blick vor allem auf die Argumente, mit denen hier stark von schwach und völlig missraten geschieden wird und was die Höhenmesser auf dem Weg zum Lyrik-Olymp sind. Sie nennt einige Kriterien für Urteilskategorien – Dinge wie Musikalität, poetische Anschaulichkeit, das immer wieder eingeforderte ‚Geheimnis‘ im Gedicht – ihr Ansatz ist jedoch getragen von der beispielhaften Analyse ausgewählter Texte und führt die wenigen Kriterien nicht systematisch durch.

Sie hat es sich recht einfach gemacht, denn, my home is my castle, in so einem selbstgeschriebenen Buch gibt es niemanden, der itzige Widerworte gibt. In jedem Literaturforum würden ihr von den Autoren schwacher Gedichte der Gegenwind bei ihren Anmerkungen mit Orkanstärke ins Gesicht blasen; und das gilt erst recht bei den Fällen, in denen sie mutiger Weise große Namen abpudert – Nelly Sachs kommt mit dem Hinweis auf ein missratenes Gedicht davon, der arme Robert Walser wird gleich vollständig des Feldes verwiesen, weil ihr seine subversiven Spiele entweder nicht auffielen oder nicht gefielen (sein Understatement und die zurückgenommene Ironie ist in seiner Poesie keine andere als in der Prosa, würde ich meinen – und das diskutierte „Rachesonett“ als Beispiel für unfreiwillige Komik zu nehmen ist in jedem Fall hanebüchen).

Die thematische Gliederung des Buches – nach einigen überblicksartigen Kapiteln werden die Gedichte nach Themengruppen abgearbeitet - bietet keine argumentative Struktur, sondern eher eine Gliederung der ausgewählten Gedicht-Beispiele. Hensel liefert hübsche Miniaturen zu ausgewählten Gedichten in der Art von Lesehilfen oder ‚Enträtselungen‘, meist ein ‚starkes‘ Gedicht am Anfang, zitiert dazu eine ermüdende Liste von offensichtlich ‚schlechten‘ Gedichten und erläutert in der Länge und der Breite, wie sie zu ihrem Urteil kommt. Ein Beispiel für die Art von Gedichten, an denen sie sich abmüht, von Seite 166, man hat als Leser bis dorthin schon vieles ähnliches zu verdauen gehabt:

Der Job des Models ist zweifellos hart,
angetrieben vom modischen Diktat,
achten sie stets auf ihr Körpergewicht,
Kleidergröße vierunddreißig ist Pflicht.
Kalorienreiches sie daher meiden,
um schlank zu bleiben, oft Hunger leiden.

Seufz. Ob die Schreiber solcher Werke für Belehrungen aufgeschlossen sind?

Auch das Spiel bekommt in dem Buch nicht so viel Raum, wie der Titel erhoffen ließ. „In der Lyrik entsteht Komik meistens aus dem Spiel von Reim und Metrik. Das Spiel muss man freilich beherrschen, sonst entsteht nur Albernes.“ Und wieder surrt ein gymnasiallehrerscharfer Blick über die Halbgläser hinweg, mähend durch die Lyrik-Rabatten.

Hensels geht nicht so weit, ihre Sicht auf die Lyrik als die einzig mögliche darzustellen, den Vorbehalt der Subjektivität äußert sie explizit. Andererseits liegt ihr der Gedanke ebenso fern, dass ihre Ästhetik nur eine unter vielen möglichen Ästhetiken sein könnte. Daraus resultiert eine ebenfalls störende Blindheit für die Vorbedingungen des eigenen Ansatzes – ihre Argumente folgen gerade in den kontroversen Fällen häufig dem Urteil; d.h. weil das Gedicht schlecht ist, deshalb sind die verwendeten Ansätze/Techniken/Figuren schlecht, die, mit sich identisch, in einem guten Gedicht eben gut wären, gelegentlich äußert sie sogar selbst Verwunderung über diesen Sachverhalt. Intellektuelle Befragungen nach dem logischem Sinn oder der funktionalen Aufgabe einer Formulierung etc. genehmigt sich Hensel bei ‚schlechten‘ Gedichten in Hülle und Fülle, bewertet fehlende Logik sehr kritisch; bei ‚guten‘ Gedichten gehen dieselben Befragungen zwar ebenso ins Leere, was sie dort aber Tiefe, Gestaltungskraft und zur Not dem ‚Geheimnis‘ des guten Gedichts zuschreibt, d.h. der leserinduzierten Füllung der Leerstelle.

Für die lesenden Lyrikliebhaber wird Hensels Werk wenig Neues bieten, der große Teil der strittigeren – und bezüglich der Ästhetik meist spannenderen - Moderne ist explizit ausgeblendet und wird bestenfalls mit ein paar bissigen Seitenhieben bedacht. Ich bezweifle, dass das Buch Blicköffnungen für neue Formen anregt, eher befürchte ich, dass sie durch den deutlich konservativen, gelegentlich biederen Ansatz Hensels verhindert werden. Den Blick für sauberes Handwerk kann ihr Buch dennoch bei dem einen oder anderen schärfen, wenn es denn dem Leser gelingt, ihren apodiktischen Unterton auszublenden - man sollte sich, rate ich, darum bemühen.

Kerstin Hensel
Das verspielte Papier
Über starke, schwache und vollkommen misslungene Gedichte
Luchterhand, Random House
2014 · 240 Seiten · 14,99 Euro
ISBN:
978-3-630-87433-3

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