123 Liebe-Gedichte
Der polnisch-deutsche Publizist Marcel Reich-Ranicki stellte auf Grund seiner umfassenden Kenntnisse und Erfahrungen fest: „Das Schönste, was die Polen in ihrer ganzen Geschichte geschaffen haben, ist die polnische Lyrik.“ Und wie zur Bestätigung erhielt die Lyrikerin Wisława Szymborska 1996 für ihr relativ schmales Werk den Nobelpreis für Literatur. Als 1998 ein Auswahlband mit Übersetzungen aus Rainer Strobelts Arbeiten in Polen veröffentlicht wurde, bedeutete das eine große Anerkennung durch ein fachkundiges Publikum.
Bereits im vergangenen Jahr legte der Autor seinen achten Band unter dem Titel „dein name steht/wie eine welt“ vor. Erklärend wird noch ergänzt: „123 Liebe-Gedichte“. Bereits der Obertitel ist mehrdeutig. Und den Leser erwarten keine „Liebesgedichte“, in denen sich Schmerz auf Herz reimt, es geht auch nicht um „liebe“ gleich harmlose Texte. Das Gegenteil ist eher der Fall. Vielmehr reflektiert und gestaltet der Verfasser seine Auffassung von Liebe „mittels Gedichten? Schwer- und Leichtgewichten?“ wie er sich selbst in einer Vorbemerkung leicht ironisch fragt. Dabei bleibt er im rein säkularen Bereich. Denn trotz aller Unwägbarkeiten ist die Liebe für ihn keine „Himmelsmacht“ wie im Schlager.
Rainer Strobelt hat sein Buch in einer Art Hegelschem Dreischritt gegliedert. I. so schön!, II. so schön?, III. so weit so gut … Dieser Ansatz findet sich des Öfteren, beispielsweise bei den Personalpronomina ich, du, es oder ich, du wir oder den bestimmten Artikeln der, die, das. Auf diese Weise thematisiert er unter anderem die überlieferte Ich- und die neuere Gender-Problematik. Mit großer Sicherheit und Meisterschaft werden die grammatischen, semantischen und phonetischen Gegebenheiten unserer Sprache genutzt, um überraschende und verblüffende Bezüge herzustellen. Das geschieht gleichfalls mit den philosophischen Begriffen Sein, Raum und Zeit. Der Erkenntnisgewinn bleibt nicht gering. Aber der ist nicht das Einzige. Wer Freude an der Sprache und dem sprachlichen Spiel hat, kommt voll auf seine Kosten und wird auf neue Denkrichtungen gebracht. Die gereifte Könnerschaft des Verfassers macht das möglich.
Schon immer bevorzugte er die Kleinschreibung und verzichtete auf Satzzeichen. Das ist keine anbiedernde Marotte, sondern unterstützt seinen Ausdruckswillen und sein Vorhaben, denn es entstehen mehr Offenheiten. Den Reim, nicht nur den Endreim, meidet der weithin. Doch zu Parodie und zu „Wortgeklingel“ setzt er ihn durchaus ein, auch in dem neuen Band. Denn es soll nicht unterschlagen werden, dass bei aller Problemstellung und „Ergründung der Wurzeln des Seins“ der Verfasser durchaus über Humor verfügt, an dem er den Leser teilhaben lässt: sanfte freunde/du bist schön/du bist ganz schön/du bist ganz schön gealtert.“ Die Bedeutung der Wörter, die Ironie und die Pointe ergeben sich erst aus dem Gesamtzusammenhang. Manchmal streift er das Makabre, wobei er sich selbst nicht ausschließt. Floskeln, der Volksmund und Redensarten stoßen zuweilen genauere Überle- gungen an. Hieß es im Mittelhochdeutschen „Dû bist mîn, ich bin dîn“, so setzt Strobelt aufschlussreich dagegen: gemein/du bist mein/ich bin mein/wir sind mein.
Rainer Strobelt hat sein neues Buch den polnischen Künstlern Antoni Janowski und Tamara Bołdak-Janowska gewidmet. Letztere half ihm in besonderer Weise bei der Herausgabe seiner ins Polnische übersetzten Texte (1998). Zusätzlich übernahm sie die graphische Gestaltung der weiteren Werke. Das Frontispiz des neuen Bandes stammt ebenfalls von ihr.
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