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Kritik

Der Unnahbare, Gezeichnete

Sven Marquardts Kampf gegen das Schreckgespenst des Vergessens
Hamburg

Eine kurze Umfrage auf den Straßen Berlins zum Thema Berghain würde ambivalent ausfallen. Während es manche unsinnig fänden, mehr als eine Stunde für ein bisschen Tanzmusik anzustehen, ist der Club am Wriezener Bahnhof für andere das Paradies auf Erden und selbst eine Reise aus Südeuropa in die deutsche Hauptstadt definitiv wert. Als queere Utopie wird es von den einen gefeiert, während andere die Türpolitik als rassistisch und sexistisch kritisieren. Das Berghain, so viel ist sicher, polarisiert wie kaum ein anderer Club. Die Betreiber äußern sich selten zum Hype oder den Vorwürfen. Frei nach Wittgenstein und Bauernregel: Worüber geredet werden soll, darüber muss man schweigen. Denn nur Schweigen ist Gold. Clubsterben, GEMA-Debakel und Publikumsfluktuationen hin und her: Das Geschäft läuft immer noch bestens.

Zum zehnjährigen Jubiläum des Clubs am neuen Standort – der Vorgängerclub Ostgut musste 2003 schließen – zeigt sich der berühmteste und wegen seiner Exzessivität berüchtigtste Club Berlins ungewohnt offenherzig. Für die Ausstellung 10 wurden die Tore der Halle, wo Monate zuvor das Staatsballett Berlin in Kooperation mit Techno-Produzenten aus dem Berghain-Umfeld das Stück Masse aufgeführt hatten, für ein breites Publikum geöffnet. Was dort gezeigt und wie es arrangiert wurde, das fiel nicht nur unterwältigend aus, es war den meisten der zahlreichen Besucher_innen wohl ziemlich egal: Hauptsache Berghain. Die Faszination, egal ob positiver oder negativer Natur, fällt ebenso breitenwirksam wie nachhaltig aus.

Wenn allerdings bei der hypothetischen Straßenumfrage die Frage gestellt würde, wer denn das Berghain in Personalunion symbolisiert, würde wohl Einstimmigkeit herrschen. Und richtig, selbst der Mensch, der dem Mythos seit jeher sein tätowiertes Gesicht leiht, lässt pünktlich zu den Festlichkeiten tief blicken: Sven Marquardt, Chef der angeblich »härtesten Tür der Welt«, veröffentlicht seine gemeinsam mit der Journalistin Judka Strittmatter – der Enkelin von Erwin Strittmatters – verfasste Autobiografie Die Nacht ist Leben. In der geht es selbstverständlich kaum um das Berghain. Selbst das mit den verlockenden Worten »How to get into Berghain« übertitelte Abschlusskapitel liefert keine Anleitungen. Pech aber auch.

Was stattdessen in Die Nacht ist Leben zu lesen ist, das ist eigentlich viel interessanter. »Wir sind Punks, wir sind schwul, wir gehen keiner geregelten Arbeit nach«, heißt es schon im ersten Kapitel mit genau dem selbstbewussten Trotz, mit dem der aspirierende Porträt- und Modefotograf zu Anfang der achtziger Jahre seine Rolle als Außenseiter bezog. Was auf der anderen Seite der Mauer, in Westberlin, für wenig Aufsehen gesorgt hätte, das gestaltete sich im Berlin der DDR völlig anders. Marquardt erinnert sich an das erste Aufbegehren mit Stecknadelpiercings und Make-Up, die ersten Kontakte zu Männern am Alexanderplatz und Schnaps, viel Schnaps. An willkürliche Polizeikontrollen, ein verzweifeltes Elternhaus und durchfeierte Nächte in kleinen Ost-Oasen jenseits des Alltagsgraus. Weder zeichnet er ein verklärtes noch ein bedrückendes Bild vom System: Sein Ton ist nüchtern und reflexiv, beizeiten liebevoll, wenn von seinen Weggefährt_innen von damals und heute erzählt.

Die Nacht ist Leben nicht allein die Geschichte eines Abweichlers, sondern auch die von engen Freundschaften jenseits der drögen Norm. Erst die zum Fotografenfreund Robert, die sich fast wie das Protokoll einer unerwiderten Liebe liest, und dann, später, die zum Türsteherkollegen Jan, die bis heute anhält. Oder die zu Undine, die wie alle Bindungen Marquardts nicht nur eine persönliche, sondern auch künstlerische ist. 

Als Fotografen zieht es Marquardt ebenso wie als Türsteher zu verlassenen Industrieruinen und Nachtgestalten hin. Die Nacht ist Leben beweist mit nur wenigen Schwarz/Weiß-Fotografien, dass er bereits in jungen Jahren ein außergewöhnliches Gespür für Stimmungen und Charaktere besaß. Mit seinen Fotos und den von ihm beschriebenen Projekten seiner Gefährten belebt er den »Ausdruck einer DDR, die es auch gab, die aber gern vergessen oder ignoriert wird« wieder. Denn obwohl im Kern eine Autobiografie, sind Marquardts Memoiren auch eine Bilanz des geteilten Berlins aus Ost-Perspektive.

»[W]ar man schon politisch, wenn man Fotos machte oder ein Leben führte, das vorgesetzte Normen durchbrach? «, fragt er sich an einer Stelle und eigentlich kann diese Frage nur mit einem klaren Ja beantwortet werden. Was aber wohl der schwule Punk aus der DDR dazu sagen würde, dass seine Bilder mittlerweile auf den Shirts des Modelabels Hugo Boss zu sehen sind? Die haben damals SA, SS und Wehrmacht eingekleidet. Dass er über die Zeit etwas altersmilde geworden ist, das gibt zumindest der Marquardt von heute offen zu.

Die Kapitel zur Nachwendezeit und dem Techno-Boom der Neunziger fallen dann überraschend knapp aus. Dass sich Westberlin dem jungen Künstler als »riesengroße[s] Mysterium aufgeblasen« – ganz also wie das Berghain heute – präsentiert, sorgt bei ihm für einen regelrechten Schock. Schnell aber ist der geborene Pankower auch dort zuhause, findet Halt in der Szene und neue Ausdrucksmöglichkeiten: Zu den Piercings aus Punkerzeiten kommen immer mehr Tattoos, die Marquardt versonnen als sein »Tagebuch« bezeichnet. Sie bestimmen bis heute das Bild des schweigsamen, ungnädigen Berghain-Türstehers. So ganz ungewollt ist das nicht: »Mit den Tattoos will ich auch ein Bild von mir erschaffen – das des Unnahbaren, Gezeichneten. Und ich will Bilder und Zitate bis zum Tage des eigenen Todes mit mir herumtragen«, gibt er zu. Ob ihm das noch gelingen wird, wenn er sich so nahbar, fast verletzlich zeigt? Hätte Marquardt es gar wie sein Arbeitgeber halten sollen: Schweigen, dem Mythos beim Wuchern zu schauen und dann die Früchte ernten?

So einfach will es sich Marquardt, der sich Nietzsches »Und alle Lust will Ewigkeit« aufs Bein hat tätowieren lassen, nicht machen. Viel mehr noch: Die Nacht ist Leben entspringt eine Mission. Es ist ein Kampf gegen das Schreckgespenst des Vergessens, das Marquardt im Prolog aufleben lässt. Darin erzählt er von seinem ältesten Model, Camilla Erblich, und wie diese sich über die Jahre an immer weniger erinnern konnte – bis der Tag kam, an dem der Fotograf sich entschließt, sie nie wieder anzurufen. Aus Angst, nicht erkannt zu werden. Vergessen zu werden. Vielleicht wird es ihm gelingen, sich mit Die Nacht ist Leben gegen das langsame Verschwinden zu wehren. Oder aber hinter dem Image des unbarmherzigen Türstehers endlich als vielschichtiger Mensch und ambitionierter Fotograf wahrgenommen zu werden. Das zumindest wäre ihm zu wünschen. Wer möchte schon auf ewig einem Mythos sein Gesicht leihen?

Sven Marquardt · Judka Strittmatter
Die Nacht ist Leben
Ullstein
2014 · 224 Seiten · 14,99 Euro
ISBN:
13 9783864930256

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