Kritik

„Ein feiner dunkler Riss“, der das Leben vom Tod trennt.

Hamburg

Das Autokino war für in der DDR Großgewordene der Inbegriff des fremden Lebens auf der anderen Seite der Welt. Es schien absurd, sich auf einem Parkplatz neben andere Autos zu stellen und durch die Frontscheibe auf eine riesige Leinwand zu starren. Natürlich sah man sich als DDR-Kind in dem engen Gehäuse eines „Trabant“ und nicht in einem ausufernden bequemen amerikanischen Schlitten. Wie auch der 13-jährige Held des Romans „Ein feiner dunkler Riss“, begriff man erst später, was ein wichtiger Nebeneffekt des Autokinos war. Aha, denkt Stanley, am Ende des Romans, wo er die Wagen auf den hinteren Parkplätzen schaukeln sieht, aha.

Noch zu Beginn des Romans, der vor der exotischen Kulisse des Autokinos Dew Drop (Tautropfen) spielt, glaubt Stanley noch an den Weihnachtsmann und dass Sex etwas ist, „das zwischen Fünf und Sieben liegt“. Auf den dazwischen liegenden 350 Seiten, die einen Sommer beschreiben, reift er heran, so dass er selbst sich am Ende aus dem Spiegel fremd anschaut.

Es ist das Amerika Ende der 1950er Jahre, Texas. Rassentrennung noch an der Tagesordnung. In der Familie Stanleys beginnt die liberale Mutter das Wort Nigger aus dem Sprachschatz zu streichen, während der Vater sich in einer „Nigger-Minstrel-Show“ köstlich amüsiert, wo Weiße sich das Gesicht schwarz und die Lippen weiß schminken. Die schwarze Köchin wird, als sie von ihrem Partner übel verprügelt wurde, in der Familie aufgenommen. Die Fäuste schwingen locker, bei Weißen und Schwarzen. Stanlays Vater setzt dem Freund seiner 16-jährigen Tochter tüchtig zu, Stanleys Freund Richard von seinem fanatisch religiösen Vater mit Stöcken und Riemen misshandelt, auch die Mutter wird regelmäßig malträtiert. Und weil Richard stets für den stets betrunkenen Vater arbeiten muss, streunt Stanley allein mit seinem Hund durch die Botanik. Er findet einen Metallkasten mit Briefen, das wird der Auslöser für eine kriminalistische Untersuchung, die der Jugendliche zunächst allein beginnt, dann von seiner Schwester assistiert, auch von Richard. Die professionelle Hilfe kommt von ganz unerwarteter Seite. Der schwarze Filmvorführer Buston, sehr dem Alkohol verfallen, dadurch von üblen Stimmungsschwankungen gebeutelt, war früher Polizist. Stanley freundet sich mit ihm an und er lernt zu recherchieren, zu kombinieren, Schlüsse zu ziehen. Beide haben keine Chance mit ihren Vermutungen zu einem Doppelmord zur Polizei zu gehen. Dennoch   erweist sich ihre Konstellation als fruchtbar. Buston kann die schwarze Hure, Mutter der einen Getöteten aufsuchen und Stanleys Schwester „recherchiert“ auf der „weißen Seite“ indem sie mit dem Bruder des anderen Opfers flirtet. Das geht zwar fast schief, die Schwester drohte selbst zum Opfer zu werden, führt aber die beiden Hobbykriminalisten weiter in ihrer Spur.

In der Figur Bustons scheint Lansdale vieles verschmolzen, was ihn zum Thema Schwarze bewegt. Das Ambivalente, keiner sagt sooft „Nigger“ im Roman, wie Buston, seine Stimmungsschwankung, ablehnend, düster, destruktiv bei zu viel Whiskey im Blut. Nüchtern ein gebildeter, kluger Mann, der auch bedauernd auf sein Leben schaut, in dem es mal eine kleine Familie gegeben hat. Diese Freundschaft macht Stanley selbständig, er verteidigt den betrunkenen Freund vor seinem Vater. Der Vater lernt diese ungewöhnliche Freundschaft zu akzeptieren.

Ungewöhnlich und sehr schaurig ist das Setting des Tatorts. Der Doppelmord ist genau so lang her, wie die schnellwachsenden Kiefern brauchen, um in den Himmel zu schießen. Stanley und seine Schwester entdecken an einer Kiefer eine rostige Wendeltreppe, die nirgendwohin führt. In den Kronen und an Ästen stecken verkohlte Fensterrahmen, auf dem Boden verwesen verkohlte Holzbretter. Jedes in die Höhe wachsende Teil des Verbrechensortes eine Anklage. Es kommt einem das Grimmsche Märchen in den Sinn: Die klare Sonne bringt´s an den Tag. Und so geht das auch bei den Untersuchungen des ungewöhnlichen Kriminalistenpaars: Es sind alles Bekannte, die sie nur fragen müssen, um Stück für Stück das Bild zusammenzusetzen, auch für den schönen gruseligen kopflosen Geist auf den Eisenbahnschienen findet sich eine Erklärung. Doch scheint die Lösung des Kriminalfalls eher der Motor für eine andere Geschichte zu sein: Das Erwachsenwerden Stans. Der Blick in die Gewalt in Familien, in die Ungerechtigkeit der Gesellschaft, der Rassentrennung, formt in ihm den Willen sich zu positionieren. Andererseits der Schwester bewundernd zuschauen, wie sie einen Mann nach dem anderen um den Finger wickelt. Das Kino beginnt seinen Zauber zu verlieren, was ist das Leben dagegen! Stan lässt sich nicht mehr erschrecken oder verzaubern, er hat Bustons Job übernommen, als der starb und führt die Filme selbst nun vor.

Natürlich verzichtet Lansdale nicht auf den typisch schnoddrig-witzigen Ton vieler amerikanischer Erzähler: Als der Vater den Freund der Tochter vermöbelt: „Hast du´s jetzt endlich kapiert, du Schmierlappen? Hast du´s kapiert?“ heißt es: „Chesters Verständnis schien nicht gerade zu wachsen, aber seine Stimme kletterte definitiv um einige Oktaven nach oben.“ Schließlich gibt es noch einen Vergleich mit den Wiener Sängerknaben. Aber dieser Ton nervt erstaunlicherweise nicht, er passt zu dem 13-Jährigen, dessen größte Sorge unlängst war, dass es den Weihnachtsmann nicht gab.

Landsdale ist ein bekannter amerikanischer Krimiautor, er wurde mit vielen Preisen ausgezeichnet, einige seiner Romane sind ins Deutsche übersetzt. Suhrkamp übernahm den zweiten Landsdale-Roman in Lizenz von dem kleinen Verlagshaus Golkonda.

Joe R. Lansdale
Ein feiner dunkler Riss
Aus dem amerikanischen Englisch von Heide Franck
Suhrkamp
2014 · 351 Seiten · 8,99 Euro
ISBN:
978-3-518-46497-7

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