Eine kurze Geschichte vom Schrumpfen der Widersprüche
»Das Wort Pop braucht keinen Artikel«, behauptete Andreas Neumeister einst und hatte natürlich Recht. Denn Pop kann so vieles sein. Pop hat eine Story und eine Geschichte, die auf viele verschiedene Arten erzählt werden können. Aus radikal subjektiver Perspektive, in journalistischen Kolumnen oder im Pop-Format selbst, von toten oder quicklebendigen Vertreter_innen. Pop überwindet geografische Differenzen oder schafft sich welche durch regional gebundene Privatmythologien. Pop bildet immer schon seine ganz eigenen Phänomene heraus, die von der Bühne direkt ins Einfamilienhaus führen können. Pop wäre nichts ohne die Stars, die ihre Mythen begründen. Seit einiger Zeit hat Pop ein Magazin namens, richtig, Pop, das sich prächtig neben all den anderen Pop-Magazinen macht. Aber eine Theorie, hat Pop eine Theorie? Nein. Zumindest nicht die eine. Denn Pop hat viele Theorien, und kaum eine von ihnen versucht überhaupt erst, Pop zu erklären. Nicht, dass Pop selbsterklärend wäre: Es ist eben schwierig, etwas zu erklären, das alle Lebensbereiche durchdringt.
Früher war das noch einfacher. Da gab es Hoch-, Nieder- und später Subkulturen. Als Theodor W. Adorno gemeinsam mit Max Horkheimer seine Dialektik der Aufklärung schrieb, gab es so etwas wie eine Kulturindustrie vielleicht noch. Mittlerweile aber scheinen selbst die Grenzen zwischen Kultur und Industrie verschwommen zu sein, ist Pop zur amorphen Masse geworden. Im Reclam-Reader Texte zur Theorie des Pop steht Adornos griesgrämiges Résumé über Kulturindustrie nichtsdestotrotz am Anfang. Damit setzen die Herausgeber_innen – Charis Goer, Stefan Greif und Christoph Jacke – dem sorgsam aufbereiteten und mit nützlichen Zusatzinformationen gespickten Textkompendium eine Form von Kulturpessimismus und Abgrenzungsgehabe an den Anfang, die paradoxerweise erst das Subversionspotenzial von Pop bedingte. Pop war nicht unbedingt immer von sich aus dissident, Pops Aufmüpfigkeit war zum Teil auch auferzwungen.
So identifizierte auch Umberto Eco 1964, ein Jahr nach Adorno und elf nach Elvis’ ersten Aufnahmen, zwei Archetypen in der Diskussion um Massenkultur: Apopkalyptiker und Integrierte. Susan Sontag hingegen, die – wie seit Kurzem in ihrem Lang-Interview mit dem Pop(!)-Journalisten und Wissenschaftler (!) Jonathan Cott auf Deutsch nachzulesen ist – dafür war, »alle Trennungen aufzuheben«, konstruierte in ihren Anmerkungen zu ‚Camp‘ im selben Jahr eine Traditionslinie, die sich von den Präraffaeliten bis hin zu Roxy Music oder heute auch Lady Gaga verfolgen ließe. Womit der Kampf um die Distinktionsmerkmale oder aber ihrer Aufhebung noch lange nicht ausgestanden war, wie der chronologisch sortierte Reader zeigt. Leslie A. Fielder forderte 1968 die Schließung des Grabens, Dick Hebdige grübelte mehr als ein Jahrzehnt später über die (nicht ganz unfreiwillige) Vereinnahmung von Subkulturen durch den Kapitalismus und Diedrich Diederichsen – wie Eco gleich zwei Mal in diesem Band vertreten – differenzierte 1999 schon in »Pop I« und »Pop II«. In den neunziger Jahren, da sind sich alle späteren vertretenen Texte einig, fand ein Knick statt. Pop ging endgültig im Mainstream auf, die Verhältnisse wurden komplexer.
Es ist bezeichnend, dass die späteren, überwiegend aus dem deutschsprachigen Raum stammenden Texte zwar von Pop im Allgemeinen sprechen, im Speziellen aber ihre Beispiele in der Musik finden. Pop Art, deren Wirkungsmechanismen und Kalkuliertheit Max Imdahl unprätentiös von außen und Andy Warhol schwelgerisch von innen ausloten, wurde ins Design integriert oder absorbiert und Pop-Literatur, wie sie hier mit einem schwächeren Text – sehr (un)poppig: die Auswahl wurde offentlich durch rechtliche Fragen eingeschränkt – von Ralf-Rainer Rygulla vertreten wird, kommunizierte ab den neunziger Jahren maßgeblich über musikalische Codes. Als Pop-Musik ist Pop zumindest noch identifizierbar, in Sachen Kunst und Design oder Werbetexten und Literatur fiel die Unterscheidung schon nicht mehr so leicht. Die kurze Geschichte vom Schrumpfen der Widersprüche endet mit einer historischen Aufarbeitung Peter Wickes, der 2002 die wissenschaftliche Auseinandersetzung dem so schwer einzugrenzenden… Thema? Themenkomplex? Themenkomplexen? rekapituliert. Danach ist vorerst Schluss mit der Theorie des Pop.
Nicht ganz zu Unrecht jedoch, denn Pop ist schon lange am Ende der eigenen Geschichte angekommen. Pop ist nicht nur im Mainstream aufgegangen, der sich selbst gerade unter dem Namen Normcore wieder als Pop stilisiert, sondern hat auch bei der Digitalisierung unserer Lebensbereiche kräftig mitgemischt. Das hat die Pop-Industrie schwer getroffen und uns noch weniger Beschreibungs- und Analysewerkzeuge hinterlassen. Seit gut einem Jahrzehnt wird die Diskussion um Pop vorrangig im Internet weitergetrieben, meistens von angelsächsischen Autor_innen. Dass Goer, Greif und Jacke sich in der tradierten heimatlichen Theorieauseinandersetzung bedienen, mag vielleicht ebenfalls mit rechtlichen zu entschuldigen sein, es ist aber auch der große Mangel von Texte zur Theorie des Pop. Insbesondere die von Jacques Derridas Begriff der Hantologie geschulte Diskussion von Mark Fisher und Simon Reynolds liefert ihrem Kulturpessimismus zum Trotz durchaus Erkenntnisse, mittels derer sich das, was Diederichsen zufolge vielleicht »Pop III« genannt werden könnte, nähern ließe. Nichtsdestotrotz: Allein, dass sich das kleine gelbe Büchlein in eine ganze Reihe weiterer Einführungswerke einreiht, zeugt schon von Fortschritt. Und der ist schließlich immer schon Treibstoff und Quintessenz von Pop gewesen.
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