Gerade deshalb schreiben!
„Es ist gut, sterblich zu sein“, lautet ein provokante Zeile von Jouni Inkala, und das ist nicht die einzige ungewöhnliche Einsicht, auf die man in seinem jüngsten Band „Der Gedankenstrich eines Augenblicks“ trifft, dem zweiten auf Deutsch erschienenen nach „Aus dem Hause und dem Geschlechte“ (1995). Er gehe „auf Tuchfühlung mit den Geheimnissen des Lebens“, schreibt sein Übersetzer Stefan Moster sehr treffend in dem knappen Nachwort. Diese zunächst etwas allgemein anmutende Aussage dringt tatsächlich zielsicher ins Herz der Gedichte, denn sie benennt im Wesentlichen, was Inkalas Lyrik charakterisiert, nämlich ein sinnliches, sensibles Annähern, ein neugieriges Hinterfragen der Dinge, eine Welthaltigkeit, die von ungewöhnlichen Perspektiven aufgerüttelt und aufgestört ist. Da springt eine Frau „erst viertausend Jahre nach ihrem Freund“ Ikarus von der Galerie eines Kaufhauses, da wachsen Haare nach innen, ins Gehirn, oder lernt ein Wind auf dem Weg von Rußland unterwegs die finnische Sprache. Nicht alle Bilder erschließen sich unmittelbar, doch sind die Gedichte souverän genug, avanciertere Passagen nicht isoliert dastehen zu lassen und sie in einen traditionelleren Kontext zu stellen.
Die Auswahl für den schmalen Band ist sechs Originalsammlungen entnommen, das erklärt vielleicht seine Vielgestaltigkeit. Dennoch wirken die Gedichte insgesamt, dank kluger Selektion, wenig disparat, denn die Mischung aus sehr konkreten Elementen mit abstrakten Überlegungen und die zum Teil diskontinuierliche Metaphorik gehören zu den Merkmalen von Inkalas Lyrik, die sich nicht voreilig mit dem Vorgefundenen zufrieden gibt.
Im Garten lag noch ein halber Meter Schnee,
aber in der Mitte brach ein
glühender Kreis Krokusse auf.
Diese Beobachtung ist nur die Initialzündung für eine Fragenkolonne, die in der Natur ein Zeichen sieht und Analogien ableitet („Ikebana, von wem gemacht? / Der Anfangsbuchstabe des Daseins? / Der letzte Hauch im Alphabet des Griechischen?“), die am Ende in einen Zustand glücklichen, kompaßlosen Umherirrens, sei es in einer neuen Stadt, sei es im Wald, mündet. Zugleich ist das Gedicht ein Paradebeispiel für Inkalas abschweifende Bildlichkeit, die jedes Gedicht an einen Ausgang führt, den man am Beginn weder erwarten noch absehen kann.
Das Leben und das Schreiben liegen in vielen von Inkalas Gedichten nahe beieinander, nicht als erschriebenes Leben, sondern als Mitschriften des Daseins. „Jetzt weiß ich, welche Schwierigkeiten Leonardo und Raffael / hatten vor jedem neuen Bild. Ich schreibe einen Brief / in einer Sprache, die nicht in meinem Munde bleibt“, bekennt der Dichter, und man darf wohl die Vorstellung vom Brief auf das Gedicht ausweiten. In einem anderen Gedicht ist der Autor von Musen umzingelt und bedrängt, die erst im letzten Moment, als die Eindrücke überhand nehmen und ein Wort kaum noch wahrscheinlich ist, „deinen Körper voller Unglauben und / Müdigkeit zum Schreibtisch“ führen. Nun ist zwar das Schreiben über das eigene Schreiben ein beliebter Topos, doch hier wird er auf kluge Weise umkreist. „Ich war nichts Besonderes, schuf keine unsterblichen Werke“, heißt es in dem „Epitaph des Aischylos“, auf dem seine Teilnahme an kriegerischen Geschehnissen und seine Heimkehr aus den Schlachten verzeichnet sind, als wären sie die wahrhaft entscheidenden Ereignisse, nicht die mit keinem Wort erwähnten Dramen. Ein Understatement, das zum Widerspruch reizt, aber einmal die Wertigkeiten grundsätzlich verschiebt. „Die Geburt eines Klassikers“ löst die vermeintliche Bedeutung eines Autors in einen Kontext verschiedenster Weltereignisse auf, als nur eines von vielen. Das bedeutet jedoch keine Desavouierung des Geschriebenen schlechthin, wie die folgenden Zeilen belegen:
In einem Kriegssommer kann die Sonne den Rücken eines Buches
ausbleichen. Aber gegen seine als innere Organe wohlgenährten
Gedanken richtet sie nichts aus, die Peinigerin.
Die Idee vom „Gedankenstrich eines Augenblicks“ zieht sich leitmotivisch durch den ganzen Band. Der Gedankenstrich: eine Linie, die Sätze zugleich verbindet und ausklammert, die abrupt anfängt und ebenso abrupt wieder abbricht, vergleichbar mit dem Dasein aller Dinge, vergleichbar mit den abgezählten Herzschlägen („Herz, imaginierter Raum, / in den nur eine bestimmte Zahl von Schlägen / passt.“) Unter der Bedingung der Endlichkeit künden Inkalas Gedichte von dem großen Glück, am Leben zu sein und die Dinge zu genießen, nicht trotz, sondern gerade wegen ihrer Kurzfristigkeit. Sie kriechen dem Leben in die Taschen und suchen das Kleingeld, sie schlüpfen in die Verse und knüpfen die Bilder zu kuriosen Entdeckungen zusammen. Mit ihnen kann man das Wundern lernen, sie sind echte Staun-Lektionen.
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Kommentare
Es ist gut, sterblich zu sein
Es ist gut, sterblich zu sein
was ist daran provokant, der Dichter hat recht, das ist alles
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