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Kritik

Unterm Pflaster die Abgründe

Über Wolfgang Herrndorfs letzten Roman
Hamburg

15.1. 2011 17:36

Gerade werden die Filmrechte verhandelt. Und das ist vielleicht der Punkt, wo ich dann doch so eine Art von Ressentiment empfinde: 25 Jahre am Existenzminimum rumgekrebst und gehofft, einmal eine 2-Zimmer-Wohnung mit Ausblick zu haben. Jetzt könnte ich sechsstellige Summen verdienen, und es gibt nichts, was mir egaler wäre.

So notierte es Wolfgang Herrndorf in seinem Blog Arbeit und Struktur, in welchem er angefangen von einer psychotischen Episode über seinen Kampf mit einem Glioblastom, einem nicht heilbaren Hirntumor bis zu seinem Suizid im August 2013 seinem Leben – und das heißt vor allem: seiner Arbeit – schriftlich Struktur verlieh. Tatsächlich müssen die nachträglichen Verkaufserfolge ebenso bitter geschmeckt haben wie die Filmadaption von Tschick und der Buchpreis für Sand. Vielleicht jedoch hat ihn noch etwas anderes, weniger Offensichtliches gestört: Dass Tschick nicht wie gehofft das Genre der road novel aufrüttelte.

Zwei Jungs auf ihrem wildromantischen Roadtrip-Abenteuer lediglich eine Kassette vom Klimperheini Richard Claydermans mit auf den Weg zu geben oder den einen der Beiden am Ende als schwul zu outen, das änderte nichts daran, dass Tschick ein Jungsbuch war. Denn es ging um zwei Jungs, die ihre Jungsprobleme und Jungssehnsüchte auf Tour nahmen, Jungsdinge taten, Jungsgespräche führten und jungsmäßig scheiterten.

Aller minimalen Abweichungen zum Trotz: Tschick folgte noch einer klassischen Formel. Das war vielleicht auch ein Grund dafür, warum der Roman so erfolgreich war – denn Tschick wurde zu einem Buch, auf das ein leuchtend roter Sticker geklebt wurde. »Bestseller« stand da drauf, er sollte garantieren, dass es noch häufiger gekauft wurde. Die tragische Geschichte seines Autors und deren öffentlichkeitswirksame Aufarbeitung taten ihr Übriges. Da waren Zweifel unabdingbar. Viel mehr noch: Sie waren berechtigt. Nein, Tschick war kein Meisterwurf. Zumindest nicht in dem Sinne, als dass Herrndorf damit die Konventionen über den Haufen geworfen hätte, er hatte sich lediglich an ihre Grenzen herangetastet.

Aber zwischen den aufgepeppten Klischees fand sich immerhin das »verdreckte Mädchen«, das Maik und Tschick auf einer Müllkippe treffen. Das »wie ein Haufen Scheiße« stinkt, aber eine »tolle Figur« hat. Von dem sie erst mal gründlich ausgeschimpft werden, bevor sie einen Teil des Weges mit ihr zusammen bestreiten. Das »wunderschön« singt und mit dem sie sich nach 50 Jahren wiedertreffen wollen. In das sich Maik ein bisschen verliebt und das ihm, nachdem alles überstanden ist, einen Brief schreibt, weil sie sich mit ihm an der Weltzeituhr am Alexanderplatz treffen möchte, um ihm das geliehene Geld zurückzugeben oder vielleicht sogar das mit dem verpatzten Kuss nachzuholen. Isa gab der Geschichte der beiden Jungs noch eine andere Dimension, sie war der Katalysator für die interessantesten Ereignisse und Wendungen des Romans wie auch seiner Protagonisten. Isa ist allerdings ein bisschen verrückt.

»Verrückt sein heißt ja auch nur, dass man verrückt ist, und nicht bescheuert«, lautet nun der erste Satz von Bilder deiner großen Liebe, Herrndorfs letztem Roman. Unter dem Arbeitstitel Isa war er der Leserschaft seines Blogs bekannt, der Schriftsteller arbeitet bis kurz vor seinem Freitod an seiner Fertigstellung. Eine Woche, bevor er sich am Ufer des Hohenzollernkanals seine Walter PPK in den Mund schob und abdrückte, notierte er noch:

19.08.2013 11:00

Passig und Marcus kommen. Lesen Isa, halten es für machbar.

Kathrin Passig und Marcus Gärtner haben auf Wunsch des Autors die Lücken des unvollendet gebliebenen Romans geschlossen und ihn unter seinem Namen herausgegeben. Keine Arbeit, die den beiden engen Freund_innen Herrndorfs leichtgefallen wäre, wie sie selbst im Nachwort zugeben. »Möglich war das nur, weil die Stationenstruktur der Road Novel keine rigide Chronologie vorgibt. « Denn richtig: Auch Bilder deiner großen Liebe ist wie Tschick eine road novel, hängt Szenen aneinander, folgt Innenleben und Außenwahrnehmung von Isa Schmidt, dem Müllmädchen, das Maik und Tschick beibringt, wie denn per Schlauch ein Autotank abgezapft wird. Das vielleicht verrückt, aber keineswegs bescheuert ist – kein reines Klischee also.

Im Gegensatz zu Tschick markiert die episodenhaft aufbereitete Geschichte der Ausreißerin Isa den konsequenten Bruch mit den Konventionen des Genres. Alles, was es dazu brauchte, war ein einfacher, offensichtlicher Kunstgriff, der bisher nur selten angewendet wurde: Hier reisen keine Jungs durch die Gegend, sondern ein Mädchen. Von den Rittern der Tafelrunde über Karl Philipp Moritz – den Isa wohl nicht ohne Grund als ihren Lieblingsschriftsteller nennt – bis hin zu Jack Kerouac und zeitgenössischen Adaptionen von Faserland bis Das Ungeheuer: Traditionell sind es eben Jungs, die in road novels auf Reisen gehen, um ihre Jungsprobleme und Jungssehnsüchte in die Welt zu tragen. Daran haben auch Thelma & Louise wenig ändern können; wie auch, sind sie doch über die Klippe gefahren.

Anders aber in Bilder deiner großen Liebe. Isa, die mit kaum mehr als einem Tagebuch und zwei angesabberten Psycho-Pillen aus der Klapse ausreißt, begegnet zwar fast ausschließlich jungen wie alten Jungs, hört sich deren mal mehr, mal weniger hohles Palaver an und wird zur sexuellen Projektionsfläche. Wie auch Maik in Tschick will jedoch niemand Isa ernsthaft an die Wäsche. Der coole, wenngleich redselige Teenager mit den nervtötenden Schwestern möchte sich von ihr nicht den Schwanz lutschen lassen, obwohl sie ihm das im Gegenzug für nicht mehr als ein bisschen Kleingeld anbietet. Selbst der LKW-Fahrer, der irgendwann anhalten muss, um sich auf dem Standstreifen einen runterzuholen, will sich nicht von ihr aushelfen lassen.

Nein, niemand will Isa ficken, sie alle wollen sie nur als Wichsvorlage verwenden, als offenes Ohr für ihre jämmerlichen Sorgen oder ihre Geheimnisse, die sie nur der fremden femme fatale anvertrauen können. Weil die verrückt ist, nicht ganz richtig im Kopf. Vielleicht sogar bescheuert wirkt. Und weil es eben so läuft in road novels: An den Frauen wird das Innenleben abgelassen, ob es nun die Abgründe der Seele oder ein paar schleimige Samen sind. »Ich bin kein Mädchen wie andere Mädchen«, behauptet Isa selbst und weiter, dass sie eigentlich immer ein Junge sein wollte. Denn Jungs »wissen nicht überhaupt, was das bedeutet, einen Körper zu haben. « Degradiertes Lustobjekt zu sein, geistig wie körperlich.

Herrndorf porträtiert mit aller Härte eine patriarchalische und archaische Welt, die von psychischer, sexueller und körperlicher Gewalt durchdrungen ist. Bilder deiner großen Liebe zeichnet nicht das Bild einer Landschaft erfüllt von unbegrenzten Möglichkeiten, sondern die Klaustrophobie des Alltagslebens. »Ein Bauernhof, Wiesen, eine drehbare Litfasssäule, ein Fahrradständer. Deutschland.« Unterm Pflaster klaffen die Abgründe, darauf balanciert die gleichsam fragile wie resolute Isa. Psychisch angeschlagen, emotional gefestigt; ziellos und bestimmt wandert sie von einem Gespräch zum nächsten, als absolut apathische und damit bestmögliche Zuhörerin. Das Mädchen von der Müllkippe, auf der viel Müll abgeladen wird. »Die Hölle bin ich«, schreibt sie selbst, obwohl sich in ihr nur die anderen spiegeln.

Maik und Tschick auf ihrer Reise zu begegnen, ändert daran nur wenig. Die Beiden kommen eben nicht auf einem weißen Gaul daher geritten, sondern in einem rostigen Lada vorbeigebraust. Aber es ist ein Hoffnungsschimmer auf diesem schweren Weg, dessen Rand buchstäblich von Leichen gesäumt wird. Bei weitem nicht der einzige jedoch: Während Isa die Kilometer zurücklegt, kommt sie zugleich sich selbst näher. Stück für Stück erwandert und erschreibt sie sich die Welt in der gleichsam rohen wie feinfühligen Sprache Herrndorfs, der selbst im Banalen noch Tiefe auszuloten wusste. Ein abgeschlossenes coming of age steht jedoch nicht am Ende, das wäre dann wieder zu konventionell. Immerhin aber Einsichten. Sie wiegen mehr als jede Versöhnlichkeit.

Bilder deiner großen Liebe ist der letzte Roman eines Schriftstellers, der nichts zu verlieren hatte, weil all das, was er zwischenzeitlich gewonnen hatte, ihm nichts bedeutet hat. Er liest sich im Ganzen wie sein eigenes Schlusskapitel: schmerzhaft-schön und ungenügend, wie ein Abschied auf immer.

Wolfgang Herrndorf
Bilder deiner großen Liebe
Rowohlt
2014 · 144 Seiten · 16,95 Euro
ISBN:
978-3-87134-791-7

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