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Komm! Ins Offene haus für poesie
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Komm! Ins Offene haus für poesie
Kritik

Eine Welt voller Magie, düster und funkelnd.

Luke Pearson erzählt in der graphic novel „Was du nicht siehst“ virtuos von einer bizarren Welt und der fehlenden Aufmerksamkeit der Menschen
Hamburg

Düster ist es: Ein Auto fährt durch die dunkle Nacht, das Licht der Scheinwerfer streift einen Draht, Bäume, Sträucher, einen Totenschädel. Der Mann im Wagen sieht sie nicht, sieht auch nicht die tanzenden Bäume: Er starrt stur geradeaus. „Draußen auf dem Meer paddelt ein wachsamer Riese und lässt sich gluckernd unter die ölige Oberfläche gleiten.“ Der Horizont beginnt rötlich zu glühen. „Still und mit unendlicher Langmut harren manche Dinge ihrer Entdeckung“, heißt es – wie die Skelette, die im Gebüsch liegen.

Schnitt. Rückblende. Ein Paar liegt im Bett, frühmorgens, er macht sich an sie heran, will mit ihr schlafen, sie sagt: „Hör auf. Ich bin noch gar nicht wach.“ Er ist frustriert, dreht sich von ihr weg. „Eine schemenhafte Gestalt bohrt ihre Finger in den Körper des Mannes, durch seinen Hinterkopf bis in den Mund, umfasst Kiefer und Zunge, formt so seine Worte.“ Und er sagt: „Du bist einfach nur noch langweilig.“

Nach dieser Szene nimmt das Unheil seinen Lauf, in der düsteren Welt des Protagonisten. Sie ist bevölkert von unheimlichen schwarzen menschenähnlichen Gestalten, die niemand sieht, obwohl sie in allen Häusern sind. Im Weltall werfen zwei Monster mit Steinen auf die Erde: „Kacke! Wieder daneben.“ Und als die Frau einmal nachts bei ihrer Freundin übernachtet, eskaliert die Krise. Er dreht vor Eifersucht durch, sie  hält ihm vor, eine „Spaßbremse“ zu sein und wirft ihn hinaus. Dann, Wochen später, als sie getrennt leben, verschläft der Mann eine Verabredung  mit ihr, die natürlich stinksauer deswegen ist. Die E-Mails, die sie ihm schreibt, verschwinden im Spam-Ordner und werden von ihm nicht bemerkt. Auf einer Party bemerkt er die Frau nicht, die ihn immer wieder ansieht. Aber auch anderen Menschen geht es so: Ein alter Mann glaubt, Gespenster vorbeiziehen zu sehen, „aber es ist nur ein Licht in der Ferne. Während er in den Nachthimmel starrt, hebt seine Frau vom Bett ab, teilt sich in sechzehn Teile und setzt sich exakt wieder so zusammen wie zuvor.“ Und „niemand bemerkt den Eindringling, der eine Stunde lang im Flur steht und dann wieder verschwindet.“

Was du nicht siehst, Luke Pearson, reprodukt

Luke Pearson hat eine skurrile graphic novel geschrieben und gezeichnet, mit einer glaubhaften Geschichte voller unglaublicher Details. So sitzen in der Wohnung des Paars viele Anuriden, kleine Lebewesen mit einem langen Hals und sechs oder mehr Beinen, die man nie sieht, dank ihrer „hellseherischen Fähigkeiten und der unfassbaren Geschwindigkeit, mit der sie lautlos den Standort wechseln“. Und nach dem Rauswurf des Mannes folgt eine Seite mit weiteren Ereignissen: „Der Mond quietscht. Ein Fenster weint. Ein Hund murmelt etwas vor sich hin. Eine Frau löst sich auf.“

Es ist ein pessimistisches Buch voller verpasster Chancen und ungesehenen Gelegenheiten und deswegen passenderweise in dunklen Farben gehalten. Wenn man von Farben überhaupt sprechen will: Die Bilder sind in schwarz-weiß und einem beinah bräunlichen Orange. Die Figuren selbst sind eindimensional gezeichnet, aber doch sehr lebendig, vor allem durch ihre knapp skizzierte Körpersprache. Die Umgebung ist eher angedeutet und flach, und doch behält sie ihr geheimnisvolles Flair, und nicht alle Zeichnungen erschließen sich sofort auf den ersten Blick. Die Welt ist voller Magie, hier bei Pearson scheint sie in einer funkelnden Düsterheit. Hätten wir nur ein kleines bisschen mehr Aufmerksamkeit für die kleinen Dinge, für die Begegnungen – die Welt könnte strahlen, und das Leben wäre so viel spannender und erfüllender.

Luke Pearson
Was du nicht siehst
Aus dem Englischen von Heinrich Anders • Handlettering von Michael Hau
Reprodukt
2014 · 40 Seiten · 14,00 Euro
ISBN:
978-3-95640-008-7

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