Kritik

Wir und die anderen

Ein Bestiarium, das viel über den Menschen verrät
Hamburg

Inspiriert von Jorge Luis Borges‘ Einhorn, Sphinx und Salamander: Das Buch der imaginären Wesen hat der britische Schriftsteller und Journalist Caspar Henderson in vierjähriger Arbeit ein „unglaubliches Bestiarium“ zusammengestellt, das jedoch, wie der Titel verrät, ausschließlich Wahre Monster enthält. Dass darin auch der Mensch mit einem eigenen Kapitel vertreten ist, überrascht weniger als der Erhaltungsstaus, den Henderson unserer Art zuspricht: nicht gefährdet. Aus rein biologischer Sicht mag das stimmen. Doch wie soll die Spitze der Nahrungskette überleben, wenn seine übrigen Glieder verschwinden?

In 27 Kapiteln von Axolotl bis Zebrabärbling gibt Henderson diese und andere Fragen um die Zukunft des Lebens auf diesem Planeten zu bedenken. So wird von Beginn an klar, dass es sich bei seinem Buch um weitaus mehr handelt als eine animalische Freakshow. Denn jedes Kapitel ist zugleich ein Essay, der versucht zu verdeutlichen, in welchem Verhältnis der Menschen zu dem jeweils vorgestellten Tier steht und was wir aus diesem Verhältnis für die Zukunft lernen können. Das mag zunächst sehr moralisierend klingen, doch Henderson schafft es, ein Bewusstsein für Flora und Fauna zu schaffen, das ohne den gefürchteten Zeigefinger auskommt. Vielmehr geht es Henderson darum, Kooperation als einen essentiellen Bestandteil der Evolution anzuerkennen.

Dafür findet Henderson einfache Beispiele wie den Honiganzeiger (einen Spechtvogel), dessen Lockruf die Ureinwohner der ostafrikanischen Savanne zu besagtem Nektar führt. Doch abgesehen von solch „alltagstauglichem“ Teamwork ist es das Zusammenwirken von Natur und Kultur, von Evolution und Mythos, das Henderson reizt. So schweift er in bester Montaigne-Manier häufig ab, kommt von Aal auf Alien, um wiederum zu verdeutlichen, wie sich anhand unserer veränderten Naturwahrnehmung unsere Fantasien verändert haben.

„Raubtiere, die es auf uns abgesehen haben oder mit uns um Nahrung konkurrieren, haben wir im Zuge unserer immer dichteren Besiedlung des Planeten ständig verdrängt. Unter den wenigen, die übrig bleiben, sind viele vom Aussterben bedroht: eher Objekte unserer Sorge und Schutzbemühungen als unserer Furcht. Selbst die letzten wilden Löwen in Afrika werden, wie es aussieht, in wenigen Jahren verschwunden sein. […] Wie auch immer, es hat jedenfalls den Anschein, dass die Monster unserer Fantasie zunehmend andere Gestalt annehmen, je weiter gefährliche nichtmenschliche Tiere aus der direkten Erfahrung verschwinden: Diffuse Ängste kleiden sich in neue Formen.“

Nicht selten verliert Henderson die Tierwelt ganz aus den Augen und erzählt, fabuliert und spekuliert darüber, was den Menschen zum Menschen macht. Dabei legt er besonderen Wert auf die Musikalität des Menschen, auch wenn rhythmische und musikalische Strukturen auch unter den Tieren zu finden sind. „Allen Menschen, außer jenen mit bestimmten neurologischen Erkrankungen oder genetischen Anomalien, bringen Musik und Tanz substantiellen Nutzen jenseits bloßer Unterhaltung. Es sind soziale Aktivitäten, die uns miteinander interagieren und Nähe herstellen lassen, indem sie koordinierte Bewegungen wie gemeinsames Arbeiten oder Marschieren unterstützen ( dieses Phänomen nennt man ‚Entrainment‘).“

So wird in Hendersons Bestiarium der Mensch zum eigentlichen Protagonisten, was den Leser explizit miteinschließt. Der Zustand der Tierwelt lässt uns verstehen, wie weitreichend, wie tiefgreifend unser Einfluss auf diesen Planeten geworden ist. Eine Entwicklung, der die Wissenschaft dazu veranlasst hat vom Anthropozän zu sprechen. Ein Zeitalter, das unter anderem davon geprägt ist, dass  viele Arten an den Rand des Aussterbens gedrängt wurden, weil zum Beispiel Teile ihrer Körper dem Menschen als Aphrodisiakum gelten. Angesichts dieser und anderer irrationaler Eingriffe in die Flora und Fauna des Planeten scheint „vernunftbegabt“ nichts weiter als ein zynisches Label zu sein.

Caspar Hendersons Wahre Monster – Ein unglaubliches Bestiarium ist dennoch eine große Liebeserklärung an die Evolution aller Lebewesen. Auch wenn seine Essays bisweilen sehr ins Detail gehen oder weit von eigentlichen Gegenstand wegführen, sind sie doch Expeditionen, von denen man nur ungern zurückkehrt. 

Caspar Henderson (Hg.) · Judith Schalansky (Hg.)
Wahre Monster
Ein unglaubliches Bestarium
Mit zahlreichen Fotografien im Duoton. Reihe Naturkunden
Matthes & Seitz
2014 · 349 Seiten · 38,00 Euro
ISBN:
978-3-95757-030-7

Fixpoetry 2014
Alle Rechte vorbehalten
Vervielfältigung nur mit Genehmigung von Fixpoetry.com und der Urheber
Dieser Artikel ist ausschließlich für den privaten Gebrauch bestimmt. Sie dürfen den Artikel jedoch gerne verlinken. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder.

Letzte Feuilleton-Beiträge