Die Welt ist magisch
„Stille breitete sich aus in jener Nacht in Sussex: Nur das Rascheln der Blätter im Wind, nur der ferne Schrei einer Eule, nur das Seufzen des Windes war zu hören“. Eine Idylle. Für den Siebenjährigen beinah eine Möglichkeit, sich sicher und wohl zu fühlen. Aber nur beinah: „Mir entging nicht, dass sich die Hungervögel beratschlagten, ihre Möglichkeiten abwogen, ihr weiteres Vorgehen planten. Und ich spürte ihre Blicke auf mir. In einem Baum schlug etwas mit gewaltigen Flügeln und stieß einen Schrei aus, in dem Freude und Siegesgewissheit lagen, Hunger und Habgier. Ich spürte, wie in meiner Brust etwas auf diesen Schrei reagierte, ein winziger Eissplitter, der in meinem Herzen steckte.“
Es ist eine schreckliche Kindheit, die der kleine Junge erlebt. An die sich der erwachsene Mann jetzt wieder erinnert, als er nach einer Beerdigung durch die Gegend fährt, in der er aufgewachsen ist. Zur Ruhe kommt er erst an einem kleinen Teich hinter einem alten Bauernhaus, das den Hempstocks gehört: drei Frauen, Großmutter, Mutter und Tochter Lettie. Aber so hat Lettie den Teich nicht genannt. Sie hat ihn „den Ozean“ genannt: „Das fiel mir wieder ein, und als mir das einfiel, erinnerte ich mich auch wieder an alles andere.“
Alles andere, das beginnt mit seinem siebten Geburtstag, zu dem niemand kommt. Keiner seiner Freunde. 15 Stühle bleiben leer, die Schüsseln mit Wackelpudding werden nicht gegessen. Dem kleinen Jungen ist das ziemlich egal, er verzieht sich mit seinen neuen Büchern, den „Chroniken von Narnia“, und ist glücklich mit seinem neuen Kätzchen Fluffy. Aber kurz darauf ist das Kätzchen tot, überfahren vom Taxi, mit dem der neue Untermieter gekommen ist. Und kurze Zeit später ist auch der Untermieter tot, Selbstmord in dem gestohlenen Auto seiner Eltern. Damit er den Polizisten nicht im Weg ist, nehmen die Hempstocks den Jungen mit zu sich.
Und jetzt beginnt eine Reise in eine phantastische Welt. Denn die drei Frauen haben seltsame Fähigkeiten. Sie hören, was die Eltern des kleinen Jungen denken, die älteste von ihnen kann sich noch daran erinnern, wie der Mond entstand, und als der Junge am nächsten Morgen mit einem Schilling im Mund aufwacht, sind sie alarmiert. Denn das Geldstück ist von 1912, „aber gestern hat es noch nicht existiert“, sagt Frau Hempstock. Woran sie das sieht? „Am Elektronenverfall, hauptsächlich. Man muss sich die Dinge genau anschauen, wenn man die Elektronen sehen will. Das sind die kleinen schmalen, die wie ein winziges Lächeln aussehen. Die Neutronen, das sind die grauen, die wie ein Stirnrunzeln aussehen.“ Es ist etwas passiert, etwas, das nicht passieren darf. Und als die jüngste, die elfjährige Lettie, mit dem Jungen rausgeht, um die Sache zu untersuchen, werden sie überfallen. Und plötzlich taucht im Heim des Jungen eine Frau auf, die sich Ursula Monkton nennt, seiner Schwester eine Geldbörse schenkt, den Vater verführt und den Jungen kontrolliert, indem sie sich in seinem Kopf ausbreitet.
Neil Gaimans Roman „Der Ozean am Ende der Straße“ spielt auf mehreren Ebenen gleichzeitig. Da ist das vereinsamte Kind, dessen Vater gewalttätig ist und eine Affäre mit dem „Kindermädchen Ursula“ beginnt und dessen Mutter meist abwesend ist. Ein Kind, das brutal aus der Kinderwelt hinauskatapultiert wird, das Erwachsene als bedrohlich empfindet, empfinden muss, weil sie ihn ganz real bedrohen. So wie Ursula, die ihn einsperren lässt und ihm sagt, dass sein Vater kommen und ihn ertränken wird. Ein Kind, das Schutz sucht bei den mütterlich-freundlichen Nachbarinnen, seien die noch so seltsam.
Der Roman macht deutlich, welches Potential die so oft geschmähte Fantasy-Literatur hat. Denn für den Jungen und den sich erinnernden Erwachsenen sind die Erlebnisse allesamt real: die Hungervögel aus der anderen Welt, die gerufen wurden, um Ursula zu erledigen, der endlose Wurm, der sich in seinen Fuß gebohrt hat, die zerfetzte, aber lebendige graue Leinwand, die alles zerstören will. Lettie, die aus seidenen Laken gemacht ist, „blasse Seide und Kerzenschein“. Der Eissplitter in seinem Herzen, der ihn so deutlich schmerzt. Dies alles ist für ihn real bis zum Schluss, als der sich erinnernde Erwachsene dann doch nicht mehr ganz sicher ist, ob er sich erinnert hat oder ob es eine Phantasie war.
Aber für Kinder ist die Welt nun einmal magisch. Angstträume kommen und gehen, Erwachsene sind turmhohe Monster, die Natur kann tröstlich sein oder ein Horror, der einem den nahen Tod zuflüstert. Und Letties Hand ist genauso magisch, denn wenn man sie nicht loslasse, ist alles gut. Nur wir Erwachsenen denken, dass so etwas nicht existieren kann, dass es Spinnerei, eine Phantasie ist. Wie der Erzähler am Schluss, der das alles wieder vergisst, der glaubt, dass Lettie nach Australien ausgewandert ist, statt dass sie für ihn gestorben ist.
Gaimans literarische Kunst in diesem Roman, der nahtlos an sein anderes kleines Meisterwerk, „Niemalsland“, anschließt, zieht den Leser sofort in diese Welt hinein. Mit seiner einfachen und direkten Sprache, die das Phantastische als real darstellt, mit seinen lebendigen Beschreibungen, die genaue Charakterisierung, mit der sanften Einfühlung in die Gefühle eines Siebenjährigen, den er einfach nur ernst nimmt. Auch für den Leser ist es keine Frage, ob die Geschichte real ist oder vorgestellt oder magisch – denn das ist dasselbe. Es ist real. In dem Moment, in dem er es liest. In dem er mitleidet, den Schmerz im Herzen fühlt, die Wesen aus den anderen Welten sieht und die Wärme der Hempstocks spürt, Letties Hand, das Wasser des Ozeans, der ein Teich ist und gleichzeitig in einen Eimer passt.
„Der Ozean am Ende der Straße“ ist eine einfache und doch großartige Erzählung vom Leben und von der Welt, von den Ungewissheiten und Ängsten der Menschen, von Erinnerungen und Selbsttäuschungen. Auch vom Erwachsenwerden. Denn der Jungen muss jetzt mit der Gewissheit leben, dass es keine Gewissheit gibt. Dass es Wesen gibt, die ihn bedrohen können. Dass es eine Welt jenseits der normalen Welt gibt. Und dass die Nachbarstochter sich für ihn geopfert hat. Aber es gibt auch einen Trost: „Ein Mensch zu sein ist keine Prüfung“, sagt Frau Hempstock. Ein weiser Trost für den kleinen Jungen - und für uns.
Fixpoetry 2014
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Kommentare
der Ozean
den zweiten Satz, mit dem Rascheln der Blätter etc. den haben wir doch genau so schon mondestens 28 Mal gelesen und auch den Eissplitter im Herzen, der ist so abgedroschen, dass er niemandem mehr schmerzt. Das alles klingt nicht nach einem Meisterwerk.
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