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Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
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Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
Kritik

Mekkanische Lieder

"Das Halsband der Tauben“ - ein hintersinniger Kriminalroman auf der Suche nach einem symbolischen Schlüssel zum Ich.
Hamburg

Der arabische Gelehrte Ibn Hazm Al-Andalusi (994-1064) nannte seine umfangreiche Abhandlung über die Liebe „Das Halsband der Taube“. Das Werk ist zugleich ein Portrait der Gesellschaft im Kalifat von Cordoba in all ihren Widersprüchen, ein Werk, das einerseits eine für jene Zeit ungekannte Offenheit auch in Bezug auf erotische und emotionale Themen bietet, andererseits die Liebe zu Gott und die islamische Tradition über alles stellt – vor allem, wie das letzte Kapitel zeigt, über all jene weltlichen Untiefen, die der Mensch in seinem irdischen Leben zu beschreiten hat.

Die saudi-arabische Schriftstellerin Raja Alem legt mit ihrem vielfach preisgekrönten Roman „Das Halsband der Tauben“ (u. a. International Prize For Arabic Fiction 2011 und LiBeraturpreis 2014) eine moderne Fassung des Stoffs vor, die aber wesentlich mehr ist als eine bloße Hommage an Ibn Hazms Klassiker: Eine Liebeserklärung an Mekka – oder genau, an ein Mekka, das immer weiter verschwindet; eine komplexes Gesellschaftspanorama des heutigen Saudi-Arabien; ein atemberaubender Ritt durch die Geschichte der Stadt von der islamischen Frühzeit bis zur Gegenwart; eine tiefsinnige Auseinandersetzung mit weltlichen und religiösen Werten und den persönlichen Kämpfen, die die Menschen darunter ausfechten ebenso wie das intensive Portrait einer mekkanischen Altstadtgasse voller skurriler Figuren; nicht zuletzt ist „Das Halsband der Tauben“ ein hintersinniger Kriminalroman auf der Suche nach einem symbolischen Schlüssel zum Ich.

Jene Gasse, das ist die Vielkopfgasse, bis zu ihrem Ende unter den Ketten der Bulldozer eines Immobilienhais Erzählerin der Geschichte und geschickte Schachspielerin, die in die Geheimnisse hinter den Türen und unter dem Kopfsteinpflaster dringt, in die verstecktesten Winkel der einfachen Menschen nahe des heiligen Bezirks um die Kaaba, von wo die Mekkaner längst vertrieben wurden im Zuge einer entfesselten Gentrifizierung und größenwahnsinniger Bauprojekte, die aus Mekka in den letzten zwanzig Jahren ein Glaubens-Las-Vegas gemacht haben, dem sogar das Haus des Propheten weichen musste – das Geld, das die 15 Millionen Pilger alljährlich in die 2-Millionen-Metropole tragen, ist wichtiger.

Trotzdem gibt es sie – die Momente der Andacht, des Insichkehrens angesichts der Historie, aber erst nach Ende des Wallfahrtszirkus. Und es gibt das Skurrile: Die Legenden um die Tauben von Mekka ebenso wie die Frage, in welche Richtung man sich eigentlich zum Gebet wendet, wenn man sich geografisch im Zentrum des Glaubens aufhält, oder ob das heilige Wasser des Semsem-Brunnens auch dann noch rein ist, wenn Taucher mal wieder die maroden Leitungen repariert haben...

Am Anfang stehen die Leiche einer Frau, die nicht identifizierbar mit entstelltem Gesicht in der Vielkopfgasse gefunden wird und die beiden verschwundenen Frauen Asa und Aischa, deren Namen sicher nicht zufällig gewählt sind. Ist die Tote eine der beiden? Inspektor Nassir macht sich daran, einen mutmaßlichen Mord zu untersuchen, der sein Leben aus der Bahn werfen wird, weil die Gasse ihn zwingt, sich mit seinen tiefsten Ängsten auseinanderzusetzen: „Es war schon nach Mitternacht, als Nassir sein Hin und Her zwischen den Spintisierereien der Vielkopfgasse, den Halluzinationen von Jussufs Notizen und den schizophrenen Ergüssen von Aischas Mails einstellte. Ihrer aller Schicksal, nein, ihre Lebensentwürfe bildeten für einen konservativen Menschen wie ihn eine wahrhafte Demütigung.“ Und trotzdem – oder gerade deshalb – kann er sich ihnen nicht entziehen. „Nicht, dass er etwas Bestimmtes suchte, nur etwas, an dem er sich festhalten konnte. Was wusste er von der Welt um sich herum?“

„Das Halsband der Tauben“ hat viele Protagonisten und Stimmen. Raja Alem nimmt sich viel Zeit für jede einzelne von ihnen, sie alle werden lebendig, sie alle wissen zu überraschen, viele von ihnen sprechen auf die ein oder andere Weise aus einer Gegenwart, die es nicht mehr gibt, aber alle sind sich der unfreiwilligen und schwierigen Schicksalsgemeinschaft der Gasse bewusst – auch jene, die weit weg von ihr sind. So komplex die Handlung und das Figurenarrangement auch sind, das Buch liest sich leichtfüßig, die Übersetzung von Hartmut Fähndrich weiß zu faszinieren und trifft stets den richtigen Ton – was bei Übersetzungen aus dem Arabischen keineswegs eine Selbstverständlichkeit ist. Man darf hoffen, dass dieses nicht das letzte Buch von Raja Alem bleiben wird, das auf Deutsch erscheint.

Raja Alem
Das Halsband der Tauben
Aus dem Arabischen von Hartmut Fähndrich
Unionsverlag
2014 · 592 Seiten · 26,95 Euro
ISBN:
978-3-293-00463-4

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