Bewegungsformen der Sprache
„Anthropologie des Wasser“ ist – wie Carsons Texte allgemein, wie ihr Denken selbst – ein Bericht über das Unterwegssein, über den Fluss der Gedanken.
Zwar geht es bei den hier versammelten Texten um diejenigen Grenzen, die die Form den Gedanken und Erfahrungen auferlegt, es geht aber schon hier, in einem der ersten veröffentlichten, nicht wissenschaftlichen Texte von Carson, darum diese Grenzen durchlässig zu machen, indem die Form dem Inhalt angepasst wird, und nicht umgekehrt. Weil nur so ein Fundament gelegt werden kann, das der Hoffnung der Pilger entspricht:
„Seit uralten Zeiten pilgern die Menschen von Ort zu Ort in dem festen Glauben, dass eine Frage aufbrechen kann in eine Antwort wie Wasser in Durst.“
Um die Fragen aufbrechen zu lassen in Antworten, wendet Carson zwei Methoden an, sie beschreibt unterschiedliche Formen der Bewegung; es gibt ein Tagebuch über das Pilgern nach Santiago de Compostela, einen „anthropologischen“ Bericht über eine Autofahrt durch Amerika, die zugleich ein Bericht ist über den unergründlichen Abgrund zwischen Männern und Frauen, und ein abschließendes Kapitel über das Schwimmen. Immer sind diese Bewegungsarten formgebend für die Bewegung der Gedanken, der formulierten Sprache.
Die Frage nach der Form hat vermutlich von Anfang an eine Rolle gespielt für Carson. Im Nachwort von Marie Luise Knott, der Übersetzerin, kann man nachlesen, wie es vor der ersten Veröffentlichung des Pilgertextes (1987 in der New Yorker Zeitschrift Grand Street), nur sie, ihre Notizbücher und ihre Überzeugung, sie müsse entweder Wissenschaft oder Fiktion schreiben, gegeben habe. „Also war ich froh, als ich diese Form entdeckte.“
Form erscheint hier als Entscheidung, ob man sich dem Stoff überlassen will, oder ob man sich des Stoffes bemächtigt. Als Antwort auf die Frage, wie man Geschichten erzählt, in denen der Stoff selbst zu Wort kommt. Wie lässt man die Fäden sprechen, und webt dabei ein ganz eigenes Muster?
Carson findet die Antwort in der Anthropologie. „Anthropologie“, schreibt sie, „ist eine Wissenschaft des Übereinander Stauens.“
An anderer Stelle erwähnt sie, dass die Anthropologie als Heimat der Details über den Menschen dient, Details, die ohne diese Wissenschaft im großen Ganzen, in der Vorliebe und Sucht nach Zusammenhängen, verloren gegangen wäre.
Es scheint absolut folgerichtig, sich auf diese Wissenschaft zu beziehen, um diese besondere Art von Schönheit hervorzubringen, die aufscheint, wenn (scheinbar) vollkommen disparate Dinge nebeneinander stehen und niemand ihnen Gewalt antut, indem er sie unbedingt miteinander verbinden will.
Dieser Freiheit vor dem Zwang alles verbinden und erklären zu müssen, steht die Freiheit zur Seite, die sich daraus ergibt, dass Carson von Anfang an nicht die geringsten Berührungsängste hat. Ray Charles wird neben chinesischen Weisheiten zitiert, Betrachtungen über die Landschaft und über Naturgewalten führen zu Überlegungen über die Demenz des Vaters. Das ist bei Carson weder zufällig noch willkürlich. Sie webt diese unterschiedlichen Fäden so, dass Muster entstehen, in denen nichts deutlich erkennbar wird, und gerade dadurch entspricht das Muster dem, wovon es erzählt: „um den Geist jenseits der Worte mitzuteilen.“
So spielt Carson mit den Aggregatzuständen des Wassers, die sich auf die des Denkens übertragen; aus Flüssigkeit wird Dunst, wird Eis und wieder Fließendes.
Ihre Texte bestehen aus Wahrnehmungsscherben und den lebensgeschichtlich bedingten Assoziationen und Gedanken, die es vielleicht ermöglichen Verbindungen herzustellen und Brücken zu schlagen.
Aufklärung ist das nicht (Aufklärung bringt nichts, betont Carson mehrmals in ihrem Reisetagebuch „Nur ein Rausch“), aber eine Möglichkeit der Wahrheit den Hof zu machen, aufzuzeichnen, was sich nicht restlos erklären, aber lebenslang bestaunen lässt.
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