Mendele und die jiddische Welt
Am Anfang stand ein literarischer Streit: 2008 besuchte die amerikanische Literaturwissenschaftlerin Susanne Klingenstein den Schriftsteller Martin Walser an seinem Wohnort in Überlingen am Bodensee. Es begann eine Auseinandersetzung über beider Auffassung von jüdischer Literatur, vom Schreiben und Interpretieren. Dann kündigte die Amerikanerin an: „Also, Herr Walser, jetzt schreibe ich mal ein Buch für Sie, das Ihnen erklärt, wie das jüdische Denken funktioniert. Dann werden Sie nicht nur sehen, dass die Juden, die gelehrten jedenfalls, in Texten leben, ja dass diese Texte gelebte Wirklichkeit werden, sondern auch, dass es ganz legitim ist, Ihre Novelle 'Mein Jenseits' als große Metapher, vielleicht sogar als Allegorie zu lesen.“
Eine Kreativität anregende Idee: So nämlich entstanden Walsers im September dieses Jahres erschienener Essay „Shmekendike blumen“ und Klingensteins monumentales, Abramovitchs Leben und Werk deutendes Epos.
In akribischer Nachzeichnung der historischen Umstände und kulturellen Bewegungen des 19. Jahrhunderts und entlang der darin eingebetteten Biografie wie des Werks Abramovitchs gelingt Klingenstein, Hochschullehrerin an der Harvard/MIT Division of Health Sciences and Technology, ein genaues Bild der Genese der säkularen jiddischen Erzähltradition und der Bedeutung von Sholem Yankev Abramovitch (1835 – 1917) als deren zentrale Figur. Abramovitch, auch genannt Mendele Moicher Sforim, gilt als der größte frühe Meister der jiddischen und hebräischen Kunstprosa – neben etwa Sholem Alejkhem, der hierzulande durch seinen Roman „Tewje der Milchmann“ noch um einiges bekannter sein dürfte.
© Sholem Yankev Abramovitsh (Foto: Archiv Klingenstein)
Jiddische Erzählsammlungen datieren zwar bereits ab dem 14. Jahrhundert (zum Beispiel „Mayse-bukh“ von 1602 oder diverse satirische Schriften der Aufklärungszeit) und entstanden also quasi zeitgleich mit dem Jiddischen in den mittelalterlichen Gemeinden im Rheinland, Oberdeutschland und Franken, allerdings war es ein langer Weg bis zu Abramovitch als erstem hochliterarisch schreibenden Schriftsteller jiddischer Zunge.
Denn erst ab Mitte des 18. Jahrhunderts wurde dem Jiddischen direkte Aufmerksamkeit gezollt: Die Assimilation anstrebenden Aufklärer im Gefolge von Moses Mendelssohn betrachteten es als verderbtes Deutsch und wollten sich als Deutsch sprechende, kulturell assimilierte Juden im Westen von den Ostjuden und ihrem jiddischen Idiom abgrenzen, auch um eine Verbindung mit den alten Stereotypen des Juden zu vermeiden. Wer „mauschelte“, so die Auffassung, beherrschte keine Originalsprache. Jiddisch galt (entsprechend literarischer Tradition) nur als für Satire geeignet.
Dies sollte sich ändern, als sich nach und nach erwies, dass die Kehrseite der Assimilation die Selbstaufgabe bzw. Aufgabe der jüdischen Identität sein konnte. So wurde der Ostjude zum „Identifikationsangebot eines scheinbar authentischen Judentums“. In Folge dessen gewannen Emanzipationsbestrebungen an Bedeutung – Ausdruck davon war bspw. der Zionistenkongress 1897 – und die ostjüdische Welt wurde mystifiziert und romantisiert: „arme, aber innerlich reiche, gläubige Juden“ wurden zu „bescheidenen Heiligen“ verklärt, Schilderungen sparten Realitäten wie die extreme Armut aus, und Übersetzer jiddischer Werke bevorzugten ein nahezu farbloses, klinisches Deutsch. (Diese Übersetzungen kursieren übrigens bis in die jüngste Zeit: etwa Alexander Eliasbergs Übertragung von „Tewje der Milchmann“.)
Just in diesen historischen Entwicklungsbogen von der zweiten Hälfte des 19. bis in die ersten eineinhalb Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts fällt Abramovitchs Werden und Wirken, das ihn zu einer herausragenden Gestalt, die ostjüdischen Lebensgegebenheiten authentisch erfassend, macht.
Aufgewachsen nahe Minsk im heutigen Weißrussland, in einer jüdisch-patriarchalischen Kultur, in der Männer sich so gut wie ausschließlich dem Studium der eigenen religiösen Kultur widmen, laut Abramovitch selbst „geistig am Jordan lebend“, ohne zu „wissen, was um sie herum vorgeht, was man lernen und tun muss, um wie die übrigen menschenwürdig zu leben“, während häufig den Frauen die Not bleibt, ihre Familien durchbringen zu müssen, wird Abramovitch früh mit dem Elend konfrontiert. Nachdem der Vater, alleiniger Familienernährer und aufgrund von Drangsalierungen der russischen Regierung in die wirtschaftliche Ausweglosigkeit getrieben, 1848 stirbt, wird der knapp Dreizehnjährige abgeschoben und gelangt 1852 mit einem professionellen Bettler nach Kamenetz-Podolsk. Dort kommt er über seinen Lehrer Abraham Ber Gottlober mit dem Gedankengut der osteuropäschen Haskalah (Aufklärung) in Berührung und lernt die wichtigen jiddischsprachigen Vorläufer kennen: etwa Joseph Perls niveauvolle Übertragung einer zunächst auf Hebräisch erschienenen antichassidischen Satire ins Jiddische, oder die Bücher von Yitshak Ber Levinzon, eines „Intellektuellen, der Russisch für unerlässlich, Hebräisch für kultiviert und Jiddisch für defekt und unzulänglich hielt“, aber „Werke in einem so sicheren und stilistisch lebendigen Jiddisch [schrieb], dass [sie] Basiswerke der jiddischen Literatur“ wurden.
In Kamenetz-Podolsk erlernt Abramovitch Russisch und absolviert eine Ausbildung zum Lehrer. Ein 1857 an seinen Bruder Hirsch David gesandter Brief über seine von der Aufklärung beeinflussten Erziehungsmaximen gelangt über die Hände des Lehrers Gottlober an den Herausgeber der hebräischen Zeitschrift „Ha Magid“, wird als Leitartikel gedruckt und lanciert den 22-jährigen über Nacht als neuen jüdischen Aufklärer und Autor.
Mit „Väter und Söhne“ folgt ein einfach gestrickter (und von der Kritik verrissener) Roman, dann ein zoologisches Werk auf Hebräisch, mit dem Abramovitch hofft, Eingang in den Lehrbuchkanon der staatlichen Schulen zu finden. Dass sich Abramovitchs Augenmerk schließlich auf den riesigen Lesermarkt von gut vier Millionen Jiddisch lesenden Adressaten lenkt, dürfte zum einen der Popularität von Ayzik Meir Dik zuzuschreiben sein, einem äußerst erfolgreichen, wenngleich literarisch unbedarften Unterhaltungsschriftsteller, zum anderen Freund Yehoshua Lifshits. Dieser war der Auffassung, Schriftsteller würden über das Was des Schreibens das Wie verkennen, dabei sei Letzteres entscheidend für die Qualität, und edierte 1861 ein lexikographisches Wörterbuch.
Mit ersten jiddischen Erzählungen und der Schöpfung der literarischen Gestalt des Buchhändlers Mendele (in „Dos kleyne menschele“) ab 1864 in der jiddischen Beilage „Kol Mevaser“ des hebräischen Blattes „Hamelitz“ gelingt Abramovitch der Anschluss des Jiddischen an die zeitgenössische russische und deutsche Literatur. Ein genialer Kniff verschafft dabei dem eigentlich gar nicht volksnahen Abramovitch die Möglichkeit, doch volksnah zu erzählen: Er lässt die Mittlerfigur Mendele als Umherreisenden von ihren Erlebnissen und Begegnungen mit der damals schon im Vergehen begriffenen ostjüdischen Welt und ihren Personen berichten.
Mendele als „wichtigste Erfindung und lebenslanger Begleiter“ des Autors wurde so zur „zentralen Schaltstelle des Werks“ und zur Motivation für Abramovitch, trotz seiner Ambivalenz gegenüber dem Jiddischen in dieser Sprache zu schreiben.
Damit erschloss er zugleich die Möglichkeit poetologischer Reflexion innerhalb des Erzählens:
Denn so konnte er die untergehende Schtetl-Welt aufzeichnen und zugleich seiner eigenen Forderung nachkommen, die jiddische Literatur, die bislang nur „wiederkäue“, solle einen Gegenwartsbezug aufweisen.
Klingenstein macht nachvollziehbar, welch zentrale Rolle im Werk des Ästheten Abramovitch die Sprache einnimmt, deren Wechsel vom Hebräischen zum Jiddischen auch den Bruch mit der Tradition der aufklärerischen Maskilim bedingt. Die Ablösung von der Tradition ist, neben biografischen Gründen, die Quelle von Abramovitchs großem Lebensthema: Die Rückkehr nach Hause ist verunmöglicht, die Moderne hat von der jüdischen Heimat entfremdet.
Derart in nuce und existenziell der Autor des Jiddischen bereitet Abramovitch das Fundament für Autoren der Folgegenerationen.
Aufgrund der erzählerischen Anlage ist Klingensteins umfassende, ungeheuer stoff- und kenntnisreiche Recherche tatsächlich spannend zu lesen, aber leider nicht sehr übersichtlich strukturiert, weshalb die Autorin des Öfteren zu Doppelungen neigt. Auch hätte ein Glossar die Lektüre erleichtert. Das Fazit bleibt dennoch: ein für an Literaturhistorie wie insbesondere Jiddistik Interessierte unumgängliches Buch mit Standardcharakter.
Fixpoetry 2014
Alle Rechte vorbehalten
Vervielfältigung nur mit Genehmigung von Fixpoetry.com und der Urheber
Dieser Artikel ist ausschließlich für den privaten Gebrauch bestimmt. Sie dürfen den Artikel jedoch gerne verlinken. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder.
Neuen Kommentar schreiben