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Kritik

Mimesis und Rekonstruktion

Valerij Podoroga untersucht das Werk Dostojewskis auf die Weise des Denkens und die Art des Arbeitens.
Hamburg

Der Autor ersteht aus dem, was er hinterlässt, aus der Auswahl der Hinterlassenschaften durch den Biografen, den Rekonstrukteur. Nun gibt es Autoren, die mehr, und solche, die wenig rekonstruiert werden. In Arno Schmidts Erzählung Tina oder Über die Unsterblichkeit leben die Protagonisten solange in einem Zwischenreich, müssen dort leben, bis ihr Name,  ihre Rekonstruierbarkeit aus den existierenden Schriftsachen getilgt wurde. Dostojewski jedenfalls kann sich in aller Ruhe noch einen Tee holen. Es wird noch einige Zeit dauern, bis er aus jenem Zwischenreich entlassen wird. Gerade jetzt ist mal wieder ein Moment gesteigerter Anwesenheit des Autors im Gedruckten und elektronisch Verbreiteten zu erkennen. Und es sind großartige Texte, die Dostojewskis Namen präsent halten.

Neben Ingolds Essay über Dostojewski und die absurde Dichtung, der unter dem Titel Zwischen Tiefsinn und Nonsens in der Zeitschrift Volltext erschienen ist und auch auf der Lyrikzeitung veröffentlicht wurde, erschien nun im diaphanes Verlag das Buch „Mimesis. Materialien einer analytischen Anthropologie der Literatur“ von Valerij Podoroga. Dabei handelt es sich sozusagen um die Singleauskopplung aus einem mehrbändigen Werk, das sich mit der russischen Literatur vom Ende des vorletzten Jahrhunderts bis zum Beginn des letzten Jahrhunderts beschäftigt. Ein Buch zum Anfüttern gewissermaßen, denn der letzte Band, der sich unter anderem mit der Leningrader spätavantgardistischen Gruppe Oberiu befasst, bleibt zwar nicht unerwähnt, ist aber bislang  nicht übersetzt. Ein Stachel, der mir schon jetzt zu schaffen macht, denn das was ich hier lese, ist unglaublich anregend.

Podoroga umschreibt sein Projekt wie folgt:

Wir müssen eine Antwort finden auf die Frage, warum wir bestimmte Dinge nicht erkennen, nicht verstehen, nicht akzeptieren, warum ein Werk sich nicht in die Sprache einer anderen Zeit und anderer Werke übersetzen lässt … Und schließlich, warum der Autor uns nicht mehr helfen kann, und wie man aus der Ohnmacht des Autors, die einzige Möglichkeit macht, zu den Sinnressourcen des Werkes Zugang zu finden.

Es geht also um Verschiedenerlei. Einerseits um die Rekonstruktion eines Autors, der als Mensch vergangen ist, der uns in seinen schriftlichen Hinterlassenschaften, Werken, Manuskripten, Entwürfen, Tagebüchern usw. begegnet. Aus dieser Rekonstruktion heraus lassen sich aber auch universelle Momente von Zeit und Geschichte rekonstruieren. Podoroga unternimmt ein fruchtbringendes Spiel mit dem pars pro toto. Und gerade der Autor Dostojewski scheint sich dafür anzubieten. Denn Dostojewski lebte und schrieb in Entwürfen und Plänen.

Ein Plan wird vervollkommnet, präzisiert und immer wieder geprüft, bis er schließlich aufgehoben und durch einen anderen Plan ersetzt wird.

Man kann sagen, er lebte in einer kontinuierlichen Entwurfsphase, einer Phase der Konstruktion des Werkes und damit Selbstkonstruktion. Anhand dieses Phänomens entwickelt Podoroga gewissermaßen eine Phänomenologie und Typologie des Planes. Und auch das veröffentlichte Werk bleibt Teil jenes Planes, einer Gesamtheit, zeigt das Gesamte gewissermaßen in einem aktuellen Zustand.

Im Kapitel Sein oder Nichtsein setzt Podoroga dieses Phänomen in Beziehung zu dem, was wir landläufig „Zeit“ nennen und von dessen unabhängiger Existenz wir, trotz aller Verschiebungen, im Grunde überzeugt sind.

Möglicherweise besteht das, was wir als „das Leben Dostojewskis“ bezeichnen könnten eben in dem gleichzeitigen Nebeneinander solcher temporaler Zustände. Der Biographen-Plan eröffnet uns ein anderes Verhältnis zur Zeit und anderen Arten von Dauer, die wir gewöhnlich vernachlässigen, weil wir sie für unwesentlich halten.

Dieses Buch ist eine kühner Ritt durch Literatur und Philosophie, verleitet zur Lektüre Dostojewkis und lässt das Bedürfnis entstehen, weitere Werke Podorogas mögen so gut wie dieses ins Deutsche übertragen werden. Übersetzt hat es Anja Schloßberger.

Herausgegeben wurde es von Armen Avenessian und Anke Hennig.

Valerij Podoroga
Mimesis. Materialien einer analytischen Anthropologie der Literatur
Plan und Zeit
Aus dem Russischen von Anja Schloßberger
diaphanes
2014 · 166 Seiten · 24,95 Euro
ISBN:
978-3-03734-736-2

Fixpoetry 2014
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