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Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
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Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
Kritik

Fumarolen

Bettina Wohlfender erzählt in ihrem literarischen Debüt Das Observatorium von Abwesenheiten im Angesicht eines Vulkans.
Hamburg

Eines muss ich vorausschicken. Dieses Buch ist ein furioses Debüt. Es ordnet sich ein in die Reihe meiner liebsten Bergbücher. Also Bücher, die vor einem Naturereignis die Reflexionen mischen. Philosophisch und erzählerisch brillant. Natur erhält trotz unserer Fähigkeit zu berechnen ihre Unberechenbarkeit, hier wird das sichtbar.

Zwischen uns und dem Heiligen glitzert der frisch gefallene Schnee. Der Windsack der meteorologischen Station hängt unbeweglich am Mast.

Ein Wort, das ich bei der Lektüre des Buches von Bettina Wohlfender gelernt habe, ist das Wort Fumarolen. Es handelt sich dabei um die Rauchwolken, die an den Hängen eines Vulkanberges aufsteigen. Optische Zeichen einer vulkanischen Tätigkeit.

Die Icherzählerin und ihre Freundin, mit Namen Birke leben auf einer Beobachtungsstation. Aus dieser Situation heraus wird ihnen das Optische zum Gegenstand. Die Welt wird unter ihren Händen Bild und Zahlenkolonne. Das Flüchtige wird festgehalten. Das Sichtbare erneut visualisiert. Aber es bleibt die Unterwelt der Bilder, also das, was sich der Visualisierung entzieht, das Veränderliche, das nicht festgehalten werden kann.

Die Fumarolen dröhnen laut um uns herum. Wir müssen beinahe schreien, um einander zu verstehen. Hunderteinundfünfzig Grad, diktiert Birke, und ich schreibe die Zahl, die beständige, die uns vertraute Zahl, auf Papier.

Die Vermessung des Vulkans. Vielleicht ein Versuch, das Unbändige zu bändigen. So wie Birkes Vater Birke ihren Namen gegeben hat, um sie am Verschwinden zu hindern. Sie soll Wurzeln schlagen.

Petrarca stieg 1336 auf den Mont Ventoux und las auf dem Gipfel die Bekenntnisse Augustinus'. Hebt Eure Augen auf zu den Bergen, von denen Euch Hilfe kommt! heißt es beim antiken Kirchenvater. Nun ist ein Vulkan nicht einfach ein Berg. Er ist aktiv. Er droht:

Der Zeitpunkt, von dem an Menschen in Vulkanen nicht mehr Türen in die Hölle sahen, sagt Birke.
Wir müssen verstehen, wie er war, um uns vorzustellen, wie er heute ist, wie er morgen sein könnte.

heißt es bei Wohlfender. In diesem Spannungsfeld aus Trost und Bedrohung bewegt sich das Buch, aber auch eben im Spannungsfeld von mythischer Erzählung und Abbildung.  Für das mythische Erzählen steht der Gräber, den die Protagonistinnen im Verlauf des Romans schlafend in einer Grube vorfinden. Er ist der Speicher narrativer Überlieferung und erzählt vom Verlorengehen der naturhaften Bedrohung in der Zeit, aber auch von deren plötzlicher Rückkehr.

Das Bild ersetzt die Erfahrung nicht. Und auch nicht die Anwesenheit. Von Birkes Großvater nämlich, und das ist die andere konträre Ebene des Romans, sind nur ein paar Fotografien geblieben, nachdem er kurz nach ihrer Geburt verschwunden war. Und Erzählungen.

Wir sind gefangen in der Sprache, sagt Birke. Wir fangen mit ihr, sage ich.

Und Wohlfender gelingt es durchaus, mit ihrer Sprache gefangen zu nehmen. Ich lese atemlos. Grandios!

Bettina Wohlfender
Das Observatorium
müry salzmann
2014 · 136 Seiten · 19,00 Euro
ISBN:
978-3-99014-100-7

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