Kritik

Auf der Jagd

Zoran Drvenkar versucht sich in „Still“ erneut am unkonventionellen Krimi
Hamburg

Zoran Drvenkar hat in den vergangenen Jahren mit zwei außergewöhnlichen Krimis auf sich aufmerksam gemacht. „Sorry“ (2009) und „Du“ (2010) haben Genre und Leser verwöhnt und mit dem Gedanken vertraut gemacht, dass immer noch etwas anderes geht als das, was es bisher gab. Das waren beide außergewöhnlichen Romane, wobei „Du“ bereits ahnen ließ, dass Drvenkar darauf aufpassen muss, die Plausibilitätsgrenzen einigermaßen einzuhalten. Surreale Krimis gehen, phantastische auch noch, aber wenn statt Gaunern nur noch Gespenster tätig sind, wenn man will, das Böse selbst, dann sind vielleicht doch ein paar Grenzen zu viel eingerissen. Aber das nur hypothetisch und der Vorsorge wegen.

„Still“ nun hat ein anderes Problem, und zugleich eine andere Lösung des Problems, sich an Konventionen nicht zu halten. Der Roman fängt als Variante des Racheromans im Kindermissbrauchsgenre an. Ein solches eben fast Genre zu nennendes Muster hat sich den vergangenen Jahren parallel zum Medienereignis „Kindermissbrauch“ herausgebildet.

Begonnen hat das Muster in enger Verbindung mit der Kriminalitätsvermutung gegen geldmächtige Kapitalisten, die Macht, Einfluss und Geld dazu nutzen, ihren finstren Gelüsten nachzugehen. Die wiederum richten sich – der Krimierzählung folgend – gern gegen Kinder: die Mächtigen der Gesellschaft also gegen ihre Hilflosesten überhaupt.

Eine Reihe von Texten folgt diesem Muster, es taucht nicht zuletzt in der Erfolgstrilogie Stieg Larssons auf. Aber auch sonst ist das Motiv weit verbreitet, wie eine unvollständige Sichtung von Autorinnen und Autoren zeigt, die es aufnehmen: Cathi Unsworth, Rode Strub, Hakan Nesser, Leif GW Persson usw. usw. Immer wieder der Reiche und Mächtige, der sich am Kleinen und Schutzlosen vergreift.

Symbolkraft hat das Muster allemal, wenngleich es zugleich seine Grenzen zeigt: Denn wo ist das wahre Kriminelle? Im Missbrauch von Macht oder im Missbrauch von Kindern? Oder sollen Kinder eben doch für eine Gesellschaft stehen, die sich solchen Missgriffen hilflos ausgesetzt sieht?

Nun setzt Drvenkar noch eins drauf, indem er quasi nach dem Missbrauch ansetzt. Und zwar mit dem Vater, der sich auf die Spur der Entführer seiner Tochter setzt, um sie zu finden oder wenigstens herauszufinden, was mit ihr geschehen ist – und um Vergeltung zu üben, was sonst?

Dafür legt er seine alte Identität ab und wählt eine neue, Mika Stellar, ein Erzengel mithin, der aus den Sternen stammt. Und der setzt sich nun in der Tat auf die Spur einer Gruppe von Männern, die – wie er erfahren hat – auf die Jagd gehen. Auf die Jagd auf Kinder, Jungs und Mädchen, an denen sie ihre Lust üben. Gerissen, planend und seit Jahren ungefasst.

Drvenkar zieht dem normalen Gesellschaftsleben – sichtbar am stilvollen Pub in friedlichen und bürgerlichen Friedenau – einen weiteren Boden unter, in dem es um nichts anderes geht, als Gewalt und Lust, den Missbrauch mithin.

Mika macht sich an diese Männer heran, die sich in einem Pub treffen, er gibt sich – nach der gebotenen Eingewöhnung – als einer der Ihren zuerkennen, und wird von ihnen mitgenommen auf die Jagd, kaum dass der Winter begonnen hat. Denn es ist der Winter, in dem die Jagd auf die Kinder stattfindet, und Mika ist dieses Mal dabei.

Allerdings, es ist, wie er erkennen muss, ihr erstes Mal. Diese Truppe von Kinderschändern geht zum ersten Mal auf die Jagd (kann also nicht die Tochter Mikas entführt haben) – und ahmt damit eine andere Truppe nach, die noch anonymer ist, noch weniger entdeckt werden kann. Ein Phantom in der Geschichte und Kindermissbrauchsszene, in der viel erzählt wird und die voller Raunen ist.

Drvenkar zieht also noch eine Ebene unter seine Geschichte und erhöht damit die Bedrohlichkeitsintensität noch um eine weitere Stufe. Das ist gefährlich, unentdeckt und löst Unbehagen aus. Es verschwinden Kinder, seit Jahren, niemand findet sie und niemand weiß, was dahinter steckt.

Nur eines der Kinder ist je entkommen, aber dieses Kind schweigt und wartet. Und damit bekommt Drvenkars Roman eine Wende, die man in der Tat nicht erwartet. Weg vom Kindermissbrauchsmuster, hin zu einer historischen Dimension, die mit dem Missbrauch nichts zu tun hat. Hin auch zu einer Gruppe von dann doch wieder Männern, die aus einer Ur-Situation heraus stammend, diese auf ewig zu wiederholen trachten. Generation um Generation.

Das hat viel mit Ur-Szenen zu tun, die alle prägen, auch mit dem Muster, dass der Missbrauch den Missbrauch erzeugt, aber er grundiert dies mit – wie kann es auch anders sein – dem Zweiten Weltkrieg. Hier, im Exzess der Gewalt wieder eine Jagd begründet, die seit Generationen fortgeführt wird, bis hin zu einem Ende, das man nicht erwartet hätte.

Vielleicht macht Drvenkar in diesem Fall einen Dreh zuviel, so gering ist die Plausibilität dessen, was er hier erzählt. Aber man bewundere seine Kreativität und seinen Willen, es im Thriller ganz anders zu machen.

Zoran Drvenkar
Still
Eder & Bach
2014 · 16,95 Euro
ISBN:
978-3-945386-00-2

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