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Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
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Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
Kritik

Aufwachsen in Dogville

Lyriker Szilárd Borbély erschafft in seinem Erstlingsroman das Anti-Idyll schlechthin
Hamburg

So ist das mit der Einsamkeit der Primzahlen: Der junge Ich-Erzähler kann kaum bis 10 zählen, ist ihrer Faszination aber schon lange erlegen. 23 Jahre trennen ihn von seiner Mutter und den Erzählzeitpunkt vom Kriegsende, 7 Jahre trennen seine Eltern. Sie bieten Halt, diese Zahlen, Koordinaten seiner eng umrissenen Welt, denn sie „kann man nicht teilen, nur durch sich selbst. Und durch eins. So ist die Einsamkeit zwischen uns. Man kann sie nicht in Teile zerlegen. Man schleppt sie als Ganzes mit sich.“  

Szilárd Borbély verlegt seinen ersten Roman in die späten Sechzigerjahre. Irgendwo im ungarischen Niemandsland lebt der namenlose Erzähler mit seiner älteren Schwester, dem kleinen Bruder und den Eltern in der Zigeunerzeile. Täglich müssen hier Böden geschrubbt, wertvolle Essensreste gehamstert und religiöse Rituale gepflegt werden. Dabei hat der Junge genug damit zu tun, im Zeitraffer erwachsen zu werden. Man muss sich ein Repertoire an Schimpfwörtern zulegen, um mit der Schande klarzukommen, die alten Klamotten seiner Schwester auftragen zu müssen. Trost gibt es nirgends. In der engen Welt des Dorfs sind Kätzchen und Küken nicht zum Liebhaben da: Aas ist ein alltäglicher Anblick, wo das Gesetz des Stärkeren herrscht. Sogar die Vorstellung, die Eltern könnten tot sein, ist nicht immer entsetzlich - manchmal ist sie auch beruhigend. Noch bevor er das große Einmaleins beherrscht, lernt der Junge, wie man den Schlägen der Eltern ausweicht und Hühnern die Kehle durchschneidet. Die Brutalität in den eigenen vier Wänden spiegelt indes nur schwach die Grobheit der hermetisch geschlossenen, feindseligen Welt der Dorfgemeinschaft wider. 

„Wir sind nicht so wie die hier“, trichtert die junge Mutter ihren Kindern ein, und wiederholt ihr wichtigstes Mantra: „Wir sind keine Bauern.“ Weshalb sie von den Dorfbewohnern gemieden werden, bleibt aber im Dunkeln. Sind die Großeltern Rumänen, gehörten sie dem ungarischen Adel an, ist der Vater das uneheliche Kind eines Juden? Stammt die Familie von Ruthenen ab, oder gab es griechisch-orthodoxe Vorfahren? Borbély legt Fährten, die Hinweise auf die obskure Herkunft der Familie geben, nur um jene Spuren wie in einem enervierenden Krimi dann doch wieder zu verwischen. Dabei ist die genaue Herkunft letztlich weniger wichtig als der Einblick in die Psyche der Bauern, deren Lebensmittelpunkt die örtliche Kneipe und deren Überlebenstaktik der Opportunismus ist. „Wir werden zu Juden gemacht“, so erklärt die Mutter den Hass, der der Familie entgegenschlägt. Mehr muss nicht gesagt werden. 

Das von Suhrkamp verlegte Buch ist wie ein guter, handgemachter Proto-Punk-Song: die Chronologie ein wenig offbeat, die Sprache lebensnah und unverblümt. „No Future“ ist das Leitmotiv. Wie es sich für guten Punkrock gehört, erzählt auch „Die Mittellosen“ nicht vom Dreck der Realität ohne deutlichen Fingerzeig auf die Verantwortlichen. Für den angehenden Grundschüler sind Holocaust, Antisemitismus und -ziganismus natürlich große, unverständliche Wörter. In seinem zarten Alter weiß er zwar schon, dass „Jude“ ein gefährliches Wort und „Zigeuner“ auch ein Name für Hunde ist. Der Leser erfährt jedoch in erster Linie aus den eingeschobenen Monologen der Erwachsenen, wie aus den Kollaborateuren von damals die Kommunisten von heute werden konnten.

Anstatt mit Abhandlungen abstrakter Ideologien zu ermüden, übersetzt sie der Autor in literarische Nahaufnahmen, die an der Grenze des Zumutbaren sind. Ganz nah zoomt er heran an die zerfurchten Gesichter der Säufer, die aufgedunsenen Tierleichen. Dieser Realismus hat eine Wucht, die einem den Boden unter den Füßen wegzöge, würde da nicht auch auf jeder Seite des Buchs eine ungeheure Sensibilität durchscheinen. Mit erstaunlichem Feingefühl hält Szilárd Borbély seinen Roman zusammen, wie man es von einem Literaturwissenschaftler durchaus erwarten darf. Dass sein Stil bei allem völlig uneitel wirkt, ist eine Tatsache, die wiederum ungemein neugierig macht auf den Autor. Niemandem, der das karge Landleben nicht auch aus eigener Anschauung kennt, gelänge es, aus den unbedarften Kommentaren eines Kindes eine solch originäre Welt in Gestalt eines Romans zu schaffen, der viele moderne Versuche sozialrealistischer Fiktionen weiter hinter sich lässt. 

Und dennoch merkt man es seinem Debütroman an: Borbély ist im Grunde eine Dichterseele. Mit seinen feinen und aufs Wesentliche reduzierten Beobachtungen klingt „Die Mittellosen“ nach einer eigentümlichen Poesie von Bukowski’scher Nüchternheit. Borbélys bestechendes Gespür für Rhythmus macht beinahe vergessen, dass er die Romanform nicht hundertprozentig im Griff hat, zumal die wiederkehrenden Bilder über lange Strecken redundant werden.

Wirkliche Augenöffner und unumgängliche Lektüre sind sowohl Borbélys zwei Essays im Anhang, als auch die kurzen Beiträge der beiden herausragenden Übersetzer Heike Flemming und Lacy Kornitzer. Diese Texte liefern den Schlüssel zum semi-biografischen Roman; sie erzählen von einer tragischen Familiengeschichte und erklären unter anderem, weshalb Borbélys langjähriger Wohnort Debrecen sein „Dogville“ ist. Viel zu wenig ist hierzulande bislang bekannt von dem sensiblen Menschen, der in seinem Heimatland vor allem mit Gedichtbänden auf sich aufmerksam machte. Gegen die Depressionen, an denen er seit seiner Kindheit litt, hatte Borbély zeit seines Lebens anzukämpfen. Während sein Romandebüt letztes Jahr vom ungarischen Feuilleton hochgelobt wurde, löste die Arbeit am Buch eine posttraumatische Depression aus. Im Februar 2014 wählte Szilárd Borbély den Freitod. 

Sein erster und einziger Roman - derb, schonungslos, aber nicht ohne Zärtlichkeit - ist ein umso wertvolleres Geschenk. Wie eine leise Mahnung an ein Stück ungeschriebene jüngere Geschichte durchpflügt er unsere Heile-Welt-Sehnsucht mit lakonischer Wortgewalt. „Die Mittellosen“ scheint aus der Zeit gefallen zu sein. Aber vielleicht haben das Klassiker ja so an sich.

Szilárd Borbély
Die Mittellosen
Aus dem Ungarischen von Heike Flemming und Laszlo Kornitzer
Suhrkamp
2014 · 350 · 24,95 Euro
ISBN:
978-3-518-42450-6

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