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Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
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Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
Kritik

Gedankenlicht aus Sapphos Scherben

In der Anthologie von Michael Gratz und Dirk Uwe Hansen antworten Dichter und Dichterinnen auf Sapphos Fragmente
Hamburg

Es waren zwei Dinge, die mich bereits vor der Lektüre für das Buch eingenommen haben. Einmal Sappho. Von deren Werk nur aus Bruchstücken überliefert sind, von der niemand mit Sicherheit sagen kann, wer sie war, außer das selbst von den wenigen vorhandenen Scherben ihrer Gedichte mehr Strahlkraft ausgeht, als von so manchem umfangreichen und vollständig überlieferten Werk. Zum anderen aber auch die Grundüberlegung, der Grundgedanke auf dem diese Anthologie basiert; dass Dichtung im Wesentlichen ein Gemeinschaftsprojekt ist, dass eine Vielzahl von Perspektiven keine Bedrohung für den Einzelnen ist, sondern ein Gewinn. Und nicht zuletzt ist diese Sammlung eine Einlösung der Behauptung Anne Carsons, dass es die Frage ist, um die es geht. Und in diesem Buch, wurde die Frage gestellt, wer Sappho ist. 

Wie man sich einen Begriff machen kann von einer Dichterin, die längst zum Begriff geworden ist“, wie es Gratz und Hansen in ihrem Vorwort formulieren. 

Die Antworten, die Versuche einer Annäherung haben Gratz und Hansen in ihrer Anthologie in verschiedenen Rubriken zusammengefasst. Da ist einmal der Remix, bei dem verschiedene Gedichte Sapphos zu einem Gedicht zusammengesetzt werden, und die Einzelstücke, bei denen eine Auseinandersetzung mit einzelnen, bestimmten Gedichten Sapphos stattfindet. Sehr treffende Titel, da sie zum einen auf die Musik verweisen, Sappho ist auch eine bedeutende Musikerin gewesen, als auch mit ihrer Begrifflichkeit die Gegenwart ins Visier nehmen. 

Das Kapitel „Alles wird Mond“ bezieht sich auf das wohl bekannteste sapphische Stück. Und schließlich gibt es noch ein Kapitel, das das Fragmentarische von Sapphos Gedichten selbst zum Thema macht. 

Daniela Danz hat aus unterschiedlichen Scherben Sapphos ein Gedicht geschrieben, das wie gemacht ist, um eine Einladung auszusprechen, in die Welt der Sappho einzutreten:

Tritt in den Spiegel/ ein

Die Schwelle
der Nacht
umständlich steigt
die Zeit über mich

Bei aller Heterogenität der unterschiedlichen Dichter, ist es doch eine Stimme, die die Anthologie trägt. Dass das möglich ist, liegt sicher in erster Linie an Sappho, aber auch an der klugen Auswahl und Zusammenstellung durch die Herausgeber. Gelungen ist auch die Gestaltung des Buches, das die Scherben aufnimmt und zeichnerisch mit Inhalt füllt. 

Einige der hier versammelten Dichter rufen Sappho an, versuchen sie zu aktualisieren, mal ironisch, aber auch mit einer ernstgemeinten Leidenschaft. Oder aber sie beschäftigen sich mit der Scherbe an sich.

Zum größten Teil sind es deutsche Dichter, die zur Anthologie beigetragen haben, aber es gibt auch Unterstützung aus Griechenland und sie Sappho Gedichte von Joan Larkin und Marilyn Hacker, die für die feministische Bewegung in Amerika in den 70er Jahren eine große Bedeutung gespielt haben, sind vertreten.

Die Zerstörung der Zeit, von der Sappho selbst in Bezug auch sich spricht (im von Dirk Uwe Hansen übersetzten Brief Sapphos an Aphrodite: „Alt ist meine zarte Haut geworden und weiß die schwarzen Haare, schwer die leichten Knie, die früher tanzen konnten wie Rehe.“), machen heute den besonderen Reiz ihrer Dichtung, der Beschäftigung mit ihrer Dichtung aus.

Exemplarisch für Reiz und Schwierigkeit einer Auseinandersetzung mit Sappho heute, möchte ich ein Gedicht von Odile Kennel zitieren:

mit Sappho im Hof

am Anfang war noch
Aphrodite da. Ich kam
mir blöd vor, kann
kein griechisch, kannte
beide nicht. Dann 
ging sie weg, wer weiß
wohin, sie sagte was
von Spree. Dann also
wir allein. Nein schlafen
nicht, wir trinken Tee.
Ich sage, Sappho, du bist
unumgänglich, wie wär´s
du schreibst noch eine
Insel-Ode, une ode d´ile?
Sie schaut mich fragmentarisch
an, reicht mir Papiere,
Rollen, eine Rolex, Zeit
für neue Texte, sagt sie,
und eine Insel-Ode
ist dabei. Ich bin perplex.
Leg mir die Uhr ums Hand-
gelenk, lenk meinen Blick
zum Text, Schreck:
Ich kann das nicht lesen,
Sappho! Ihr Blick geknickt.
Ich hatte so gehofft ...
Im Hof sitzt Sappho,
ratlos, rastlos, folgt
durchs Hoftor Aphrodite,
die Rolex, ruf ich, sie
sieht sich nicht um, und ich,
ich sitze mit der Armbanduhr
und ohne Text im Hof, ich geh
nach oben, leg mich
schlafen, träum,
ich trät in Scherben.

Was genau macht eigentlich den Reiz einer Scherbe aus? Das Uneindeutige? Die Vielzahl von Möglichkeiten, die also gerade in ihrer Zersplitterung, Zerstörtheit den Boden bereiten, für den ganz eigenen Versuch, also die Größe der Vorlage und dieses Fundament, was der Hemmung entgegenwirkt, einer so großen Aufgabe nicht gerecht zu werden? Die Offenheit, weil die ursprüngliche Form zerbrochen und nicht wieder herzustellen ist?  

Scherben, das heißt ja auch Lücken, das Nicht Nichts, das durch die Lücken scheint. Die Freiheit, die darin liegt, nicht das Ganze überblicken zu müssen, erkennen zu dürfen, dass die Scherbe, das Fragment, als Ausschnitt und Teil eines unbekannten Ganzen, auf seine Art vollständig ist. Genügt, um ein Gespräch zu führen, eine Annäherung und Auseinandersetzung.

Michael Gratz (Hg.) · Dirk Uwe Hansen (Hg.)
Muse, die zehnte
Antworten auf Sappho von Mytilene
freiraum - verlag
2014

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