Gerechtigkeitsgeschwätz
Es gibt eine denkwürdige Passage in diesem Roman: Eine alte Frau hat endlich Gerechtigkeit für den von einem weißen Aufseher ermordeten Sohn erhalten. Der Mann von einem kenianischen Polizisten erschossen worden. Aber das holt ihren Sohn nicht zurück.
Spätestens dieser Moment ist in aufgeklärten Krimis der Punkt, in dem die Gerechtigkeit ihre angemessene Form erhält und das Recht wieder in seine angestammte Rolle eintritt, nämlich die Fragwürdigkeit der Vergeltung aufzuheben in einem geregelten Verfahren. Das geregelte Verfahren bezieht seine Bedeutung allerdings nicht darauf, dass es ein gerechtes Empfinden suspendiert, sondern darauf, dass es eine Gesellschaft lebensfähig macht, auch überlebensfähig. Denn gesetzt, es gibt in jeder Gesellschaft so etwas wie ein Verbrechen, ja sogar sein Extrem, den Mord, dann würde Vergeltung dazu führen, dass sich jede Gesellschaft früher oder später selbst aufhöbe. Und zwar aus dem einfachen Grund, weil der Vergeltungskreislauf nie zum Stillstand gebracht werden kann. Er dreht sich immer und unendlich.
Das ist der Grund, warum bereits traditionale Gesellschaften die Vergeltung kodifizieren, also sie regeln und zum Teil sogar durch symbolische Gesten einfrieden. Eine Geldbuße, die öffentliche Zurschaustellung des Täters, seine ausdrückliche Entschuldigung durch die Familie des Opfers. Ein modernes Rechtssystem funktioniert eigentlich nicht anders, aber es ist eben abstrakter und unbefriedigender geworden.
Eine Gesellschaft, die sich auf dem Weg zur Zivilgesellschaft befindet, kämpft mit diesem Widerspruch, aber eine Gesellschaft, die sich selbst als fragil und fremden Gewalten hilflos ausgeliefert sieht, tut das nicht minder. Ob nun die neueren Übergangsgesellschaften wie Kenia oder Südafrika oder die älteren wie die USA, die immer noch mit der modernen Massengesellschaft im Unfrieden liegen, immer wird die Funktionsfähigkeit des Rechtssystems massiv angezweifelt. Das macht keinen Unterschied zwischen „Ein Mann sieht rot“ aus dem Jahr 1974 mit Charles Bronson, dessen Filmfrau New Yorker Straßenrowdies zum Opfer fällt und Mukoma wa Ngugis Kenia und USA der Gegenwart, in der ein amerikanischer und ein kenianischer Polizist über Leichen gehen, in Namen der Gerechtigkeit. Es ist immer die gefühlte Hilflosigkeit, die Schwäche oder die Korruption des Rechtssystems, das die Beteiligten zur Selbstjustiz zwingt. Der Mann, der den Sohn der alten Frau ermordet hat, wird von dem kenianischen Polizisten kaltblütig erschossen, in Namen einer Gerechtigkeit und eines Gerechtigkeitsgefühls, das zur Not mit seinem Urteil schnell fertig ist. Gefühl ist bei Gerechtigkeit eben alles, und unsympathisch war der Mann sowieso. Dazu stehen dem Autor dann doch alle Mittel zur Verfügung.
Im Fall von Ngugis Krimi kommt im Übrigen zu dem Umstand, dass die Bösen völlig bedenkenlos über Leichen gehen, noch hinzu, dass sie ein System ausnutzen, das das Gute fördern will. Unter dem Deckmantel der guten Tat (nicht einmal der Gerechtigkeit) verdienen sie aus den Spenden und guten Taten der westlichen Welt (mit der sie insgesamt sicher ihre Untaten in der sogenannten Dritten Welt zu übertünschen sucht) ein Vermögen, um das sich dann die Beteiligten heftigst und blutrünstig streiten dürfen.
Vor der Haustür eines der Helden des Völkermords von Ruanda wird eine tote junge Frau gefunden, die offensichtlich ermordet wurde. Der ermittelnde Beamte – einer der wenigen Farbigen im Polizeidepartment von Madison – verdächtigt den Bewohner des Hauses, dem nachgesagt wird, im Völkermord Hunderte von Flüchtlingen gerettet zu haben, indem er sie in einer Schule beschützte. Ein Held ohne Zweifel, aber die Leiche bleibt dennoch.
Um den Fall aufzuklären, reist der Ermittler, Ishmael, nach Nairobi – weil ein Telefonanruf ihn dazu auffordert und der Hauptverdächtige immerhin ein humanitärer afrikanischer Held ist, und mit einer in Nairobi ansässigen Wohltätigkeitsorganisation verbunden ist. Dort nimmt er die Ermittlungen mit einem ortsansässigen Detective auf, den seine Freunde O nennen. Und wir nennen ihn auch so, schon aus Vorsichtsgründen. Denn O ist schnell mit der Pistole bei der Hand, wenn es darum geht, einen Kriminellen oder den, den er dafür hält, auszuschalten. Und Ishmael macht es ihm bald nach. Das geht bis hin zur Vergeltung an jenem vorgeblichen schwarzen Helden, bei der Ishmael nicht nur den Täter ermordet, sondern gleich zwei Ku Klux Klan-Mitglieder, die er vorher freilich selbst angeheuert hat, gleich mit.
Es ist ein wahres Blutbad, durch das Ngugi seinen Helden waten lässt. Und der gerät ihm unter der Hand zum Vollstrecker der Gerechtigkeit, was zweifelsohne Genugtuung auslösen mag, aber weder gerecht ist noch legal. In dem Moment, kann man sagen, in dem der Vertreter des Rechtssystem über Gerechtigkeit nachdenkt, wechselt er die Seiten. Er vermutet sich auf der Seite der Gerechtigkeit, befindet sich aber auf der der Willkür und Selbstherrlichkeit. Das hat hohen symbolischen Stellenwert, vor allem weil es jenes utopische offene System, das dieses Krimiafrika angeblich anstrebt und das das Krimiamerika halbwegs realisiert zu haben glaubt, im gleichen Moment suspendiert, in dem es ihm vorgeblich dient.
Solche Romane werden vielleicht für sich in Anspruch nehmen, realistisch zu sein – davon aber abgesehen, dass sie lediglich die Tradition der hard boiled-Krimis der 1930er Jahre beerbt und damit hoch konstruiert sind, sind sie vor allem als politisches Desaster und als Kapitulation vor den Zumutungen der Moderne zu verstehen.
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