Gute Nachrichten aus Russland
Den Kanon der Weltliteratur bereichert die russische Literatur mit einer Vielzahl von unverwechselbaren Stimmen und unvergänglichen Werken. Daher verdient eine Unternehmung, welche sich vornimmt, die „Geschichte der Russischen Literatur“ abzuhandeln, besondere Beachtung. Die bisher vorliegenden Übersichten waren, vor allem in der Darstellung des 20. Jahrhunderts, in besonderer Weise von der Sowjetzeit geprägt. Der Zerfall der Sowjetunion im Jahr 1991 hat nicht zuletzt im eigenen Land Schleusen geöffnet. Bislang der Zensur unterlegene Werke konnten endlich erscheinen. Zugleich waren völlig neue Perspektiven für eine Zusammenschau der literarischen Entwicklung entstanden.
Der renommierte Slavist Reinhard Lauer grenzt das von ihm abgehandelte Themengebiet ein: von 1700 bis zur Gegenwart! Selbstverständlich kommt Reinhard Lauer nicht umhin, die Zeit vor dem 17. Jahrhundert zu umreißen. Souverän belegt bereits seine Einleitung „Wurzeln und Charakter der russischen Literatur“ die selten gewordene Mischung von spannender Erzählung und einem souveränen wissenschaftlichen Überblick. Über vier Jahrzehnte hat sich Lauer mit den Formationen der russischen Literatur beschäftigt. Der aktuelle Forschungsstand ist in dieser vorliegenden zweiten und erweiterten Ausgabe berücksichtigt.
Reinhard Lauer beginnt seine Darstellung mit dem Kapitel „Die Europäisierung der russischen Literatur“. Unter gewaltigen Anstrengungen hatte Peter der Große umwälzende Reformen eingeführt, welche einen Anschluß an das westliche Europa eingeleitet hatten.
Eine geistige Isolation vor fremden Einflüssen hatte bis dahin für eine Erstarrung im Lande gesorgt. Das zeitlose Festhalten an der Liturgie in der orthodoxen Kirche hatte im Westen immer wieder Befremden ausgelöst. „Andererseits“, so gibt Lauer zu bedenken, „war in der orthodoxen Welt die altkirchliche Katholizität und Liturgie bewahrt worden, die einen unerschöpflichen Quell tiefer, selbstloser Frömmigkeit bildet“.
Bis in unsere Zeit hinein wird die Kraft und Dynamik der russischen Literatur von jener Spannung gekennzeichnet, die sich zwischen den ostslawischen Wurzeln und dem europäischen Einfluß entfalten.
Die Öffnung zum Westen im 18. Jahrhundert war davon geprägt, daß in wenigen Jahrzehnten Diskursformationen aufzuarbeiten waren, welche sich in Europa organisch über Jahrhunderte hinweg entwickelt hatten. Kennzeichnend für die russische Literatur ab 1700 waren Mischformen, welche zum Beispiel das Barock mit rationalistischem Klassizismus sich überlappen ließen.
In der russischen Romantik, der „ersten großen Epoche der russischen Literatur“, sieht Lauer den literarischen Anschluß an Europa geschafft. Alexander Puschkin und sein Werk verkörpert diese Zeitphase in besonderer Weise. In eindrucksvoller Weise waren die umfangreichen Feierlichkeiten zu Puschkins 200. Geburtstag im Jahr 1999 zu einer landesweiten Angelegenheit geworden.
Der russische Realismus im ausklingendem 19. Jahrhundert bildete im internationalen Vergleich paradigmatische Maßstäbe aus, wenngleich sie im eigenen Land durch den aufoktroyierten `sozialistischen Realismus´ in den Jahrzehnten des Stalinismus oft genug verdunkelt worden waren.
Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts folgte mit der Russischen Moderne „eine Kunstepoche von beispielloser Reichhaltigkeit“. In dichter Reihenfolge lösten sich diverse Strömungen wie der Naturalismus und der Symbolismus ab. Die Reichhaltigkeit und Dichte dieser literarischen Entwicklungen mündeten in den 1910er und 1920er Jahren in eine Phase, in welcher sich explosionsartig die verschiedensten Kunstrichtungen zu überflügeln trachteten. Es waren die Jahre der Traktate und Manifeste der Akmeisten um Anna Achmatova, der Futuristen um Vladimir Majakovskij und der Kubofuturisten um Velimir Chlebnikov, einem „Mystiker und Sprachalchemisten“, dessen „Primat der Wortkonstruktion über die Aussageintention“ einen merkwürdigen Rückgriff auf altslawische und asiatische Mythologien darstellte.
Die russische Revolution von 1917 bildete den Auslöser für eine nie da gewesene Teilung der russischen Literatur, die sich erst Ende der 1980er Jahre wieder zusammenzufügen begann. Reinhard Lauer widmet sich hierbei neben den verschiedenen Generationen der Emigrantenliteratur und der im Lande gebliebenen Schriftsteller noch einem dritten Strang in der russischen Literatur. Es handelte sich dabei um jene Texte, die im sogenannten `Samizdat´, im Selbstverlag unter der Hand zirkulierten. Literatur, die im Schatten der staatlich geduldeten Literatur entstanden war und zumeist erst seit Michails Gorbatschows `Perestroika´ in den späteren 1980er Jahren offiziell im Lande erscheinen konnte. Abgerundet wird diese Geschichte der russischen Literatur mit einem Ausblick in die allerneuesten Erscheinungen mit ihren vielfältigsten Strömungen.
Ein ausführliches Register samt Bibliographien ergänzt diese kundige Studie. Entstanden ist dabei eine Art Leselexikon, das zum Kennenlernen russischer Literatur anregt.
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