Ein Favorit
Dieses Buch ist nominiert für den Preis der Leipziger Buchmesse in der Kategorie Übersetzung. Für mich aber ist es der Favorit aller Kategorien, denn es ist alles. Sachtext, Fachtext, Übersetzung und Belletristik. Denn es ist ein Gedicht, das in Prosa übertragen wurde, und sein Gegenstand ist nichts weniger als die Welt. Es ist ein Lehrgedicht. Eine Gattung die uns über die Jahrhunderte einigermaßen verloren ging. Bertolt Brecht hat es in den fünfziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts noch einmal versucht, natürlich in Anlehnung an jenen Text, um den es hier gehen soll.
De rerum natura. Über die Natur der Dinge.
Das Buch ist standesgemäß ausgestattet und in weinrotes Leinen gebunden, der Titel in Goldschrift aufgebracht. Und überhaupt wird die Ausstattung der Bedeutung des Werkes gerecht. Wer es einmal in der Hand und aufgeschlagen hatte, wird es immer wieder tun, egal, ob er die philosophischen Positionen Epikurs in der Ausformung Lukrez' und Benders teilt. Friedrich Albert Lange urteilt in seiner Geschichte des Materialismus über Epikur:
Wie man also im übrigen über das System Epikurs als ganzes urteilen möge, so steht doch jedenfalls soviel fest, dass die antike Naturforschung nicht sowohl aus diesem System, als vielmehr aus der allgemeinen materialistischen Grundlage desselben Vorteil gezogen hat.
Dem möchte man noch hinzufügen: auch die Moraltheorie und die Ethik. Und Lange kommt in seinem Lukrezkapitel auf dieses Epikururteil, denn nirgendwo sonst findet sich das System des antiken Materialismus (besser vielleicht man benutzt den Begriff Atomismus für die Bezeichnung dieser Denkrichtung) derart ausgeformt..
Klaus Binder hat die Neuübersetzung dieses antiken Textes seinem philosophischen Lehrer Alfred Schmidt gewidmet. Schmidt, der im vorvergangenen Jahr leider verstarb war auch eine der Höhepunkte meines Studiums- Ich fühlte mich von ihm regelrecht in Empfang genommen, als ich 1990 aus Leipzig nach Frankfurt am Main kam. Und natürlich gehörte seine Vorlesung zur Geschichte des Materialismus zu den Veranstaltungen, die zu versäumen ich mir nie verziehen hätte, des Inhalts aber auch des Schauspiels wegen.
Schmidt saß, flankiert durch seine Assistenten, die damals Dr, Jung und Dr. Grün hießen, nein er lastete an der Stirnseite des Seminarraums auf einem Stuhl, der zum Stühlchen wurde angesichts seiner der Erscheinung und unter Schmidt zusammenzubrechen oder sogar zu verschwinden drohte. Schmidt war ein massiger Mann mit einem freundlichen gütigem Lächeln. Eine Art körperliche Ausformung Lukrezschen Denkens. Wenn er dann über sein Thema, die Geschichte des Materialismus referierte, in der ersten Vorlesung, die ich erlebte, ja man muss sagen erlebte, denn ein Erlebnis war es allemal, schien sich seine Massigkeit in Begeisterung aufzulösen, die den ganzen Raum erfüllte und auch uns, die Studierenden ergriff. Und das bei einem Gegenstand wie Materialismus, der ja nicht gerade als sexy gilt, eher als erdnah, dem trüben zugeneigt. Aber: wie Alfred Schmidt dieses Gegenteil lebte, also die lebensbejahende sinnliche Komponente, die Feier der Liebe durch den Materialismus (in einigen Texten), die Feier des Diesseits und der Mitmenschlichkeit!
Im vorvergangenem Jahr ist Schmidt leider verstorben. Aber:
DER TOD, DARUM, IST UNS NICHTS, GEHT NICHT DAS GERINGSTE UNS AN, nun da wir begriffen haben: die Seele ist ihrer Natur nach sterblich.
So beginnt der dritte Teil des Dritten Buches von Lukrez Werk in Benders Übersetzung. Hier führt der Autor uns zugleich in das Herz der Finsternis und ans Licht seiner Erkenntnis. Vor allem die antike Philosophie war immer der Versuch, eine Lehre des Guten Lebens zu entwerfen, und wenn uns, also den Menschen, aber auch komplexeren Tieren, meine ich zu beobachten, eine Angst vor dem Tod eingeboren ist, so ist es diese Angst, die uns das Leben zuweilen versauert.
Dieser Angst kann man auf zweierlei Weise begegnen, einerseits durch Verachtung und Geringschätzung des Lebens, dazu bräuchte man aber ein Anderes, das über dem Leben steht, eine Ideologie oder Religion, und andererseits durch die Feier des Lebens und des Lebendigen.
Das Erstgenannte ist Lukrez' Sache nicht, mithin auch nicht die Benders und Schmidts. Komischerweise aber ist es etwas, was den Materialisten sehr oft vorgeworfen wird, diese Geringschätzung des Lebens, hervorgerufen durch Geldgier oder Genussucht. Aber hier liegt ein gründliches Missverständnis vor, denn dieser Vorwurf kann sich nicht auf den philosophischen Materialismus in der Gefolgschaft Lukrez beziehen, der im Grunde eine Feier des Lebens und des Diesseits ist, und aus dieser Grundposition eine Ehrfurcht vor allem Lebendigen entwickelt.
Dass dieser Lukreztext uns zugänglich ist, grenzt übrigens an ein Wunder. Stephen Greenblatt gibt in seiner Einführung in das Werk auch einen kurzen Abriss der Rezeptionsgeschichte, und die ist recht abenteuerlich.
Möglicherweise war es nur eine einzige, in Norditalien entstandene Handschrift, die über das siebte Jahrhundert hinaus erhalten blieb. Und diese wiederum ist im neunten Jahrhundert offenbar zweimal abgeschrieben worden. Ein Brand, ein zufälliger Akt des Vandalismus, auch bewusste Akte der Unterdrückung hätten genügt, um diesen Text für immer zu begraben, und mit ihm ein umfassendes Bild des Universums. Irgendwie aber hat De rerum natura dann doch überlebt, und 1417, völlig unerwartet, wurde das Poem erneut in Umlauf gebracht.
Über die Natur der Dinge ist also ein Poem. Im Ursprung ein Lehrgedicht in der antiken Versform des Hexameters, der als der Erzählvers gilt. Und dieses große Gedicht erzählt vom Universum. Sein gedanklicher Ausgangspunkt bezieht sich auf Epikur.
Raum und Zeit sind endlos. In dieser endlosen Raumzeit finden sich eine gewisse (wahrscheinlich nicht zu bestimmende) Anzahl von unveränderlichen Urelementen, die sich aber in verschiedensten Konstellationen zusammensetzen. Ihre Daseinsform ist die Bewegung. Und auch der endliche Mensch ist Bestandteil einer je momentanen Konstellation der Elemente. Unser Vergehen ist Veränderung dieser Konstellation. Von diesem Punkt aus, entwickelt nun das Lehrgedicht eine Theorie des Universums.
Binder übersetzt dieses Werk in eine höchst elegante und musikalische Prosa. Man kann sagen, er gibt den Hexameter auf, aber ohne auf seine Effekte zu verzichten, also Rhythmik und Lesefluss, der den Leser durch den Text trägt. Und wahrscheinlich macht dieses Getragensein ein Moment der Schönheit dieses Textes aus, und die Tröstlichkeit, die ihm entspringt.
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