Den Ukrainern eine Stimme geben
Sebastian Christs Reportage-Stil lebt von der literarischen Beschreibung und seiner Fähigkeit Momente genauso akribisch wie Fakten zu montieren. Zwar ist er für einen Gonzo-Journalisten zu vorsichtig und zaghaft, aber dennoch merkt man ihm die Ansätze amerikanischer Prägung an, wenn man seinen Publikationen folgt. Konnte sein letzter Band bei mikrotext, Berliner Asphalt, nicht ganz überzeugen, so ist er jetzt mit seiner Ukraine-Reise einem Thema nachgestiegen, dass er ähnlich aufzieht. Hatte er in „Berliner Asphalt“ noch die deutsche Hauptstadt durch sein literarisches Fernrohr betrachtet, richtet er jetzt den Blick auf einen Krisenherd. Die Betrachtung der Ukraine ist für den Leser ein Unterfangen, das von Christs Fähigkeit zur Beobachtung und Kontextualisierung nur profitiert. Während die ganze Welt auf die Ukraine schaut, Partei ergreift und versucht zu verstehen, was dort passiert, ist Sebastian Christ einfach hingefahren und hat sich die Situation, ganz ohne Sensationslust, angeschaut.
Die Brisanz des Ukraine-Konflikts, dessen weltpolitische Folgen wir noch kaum abschätzen können, liegt auch, wie so viele der aktuellen Nachrichten aus einer sich scheinbar immer schneller drehenden Welt, in unserer Unfähigkeit die Nachrichten tatsächlich zu verstehen. Christs Ansatz einer subjektiven Reportage, gefärbt von literarischen Beschreibungen, hilft bei einem Prozess, den die großen Medien und klassischen Formate uns nicht nahe bringen können: das Bebildern, Nachempfinden und damit tiefere Verstehen des Konflikts mittels Sprache, und eben nicht durch visuelle Übersättigung. Christ zeichnet das Portrait einer Reise, bricht durch seine Wahrnehmung und vermittelt damit in kleinen Begehungen und Beschreibungen bereitwillig Informationen, die er zuweilen mit intensiv dargelegter Recherche unterfüttert. Damit gelingt ihm nicht nur ein persönliche Reisebericht, den man gerne liest, sondern auch ein informativer Text, der sich um einen klaren Blick auf eine komplizierte Situation bemüht.
Bereits die Abfahrt aus Berlin gestaltet sich schwierig. Christ will sich ein Ticket kaufen, aber der Schalterbeamte tut sich schwer sein Ziel im Computer zu finden. Christs nachsichtiger Verweis auf die verschiedenen Namen von Lwiw, auch Lemberg genannt, wird von der Berliner Schnauze abgewatscht. Am Ende rutscht dem Bahnangestellten ein Witz raus, bei denen beiden das Lachen im Hals stecken bleibt. Die Ukraine lässt niemanden kalt.
Die erste Begegnung mit diesem Land, das uns durch diese Reportage näher gebracht wird soll, dessen Orte und Städte nicht nur Namen, sondern reale Plätze werden dürfen, fand für Sebastian Christ in Warschau statt. Vor knapp zehn Jahren wären eines Aufenthalts in einer damals noch billigen Stadt voller Milchbars und noch nicht auf dem Räder der gentrifizierenden Heuschrecken, schnupperte Christ zum ersten Mal die Luft von post-sowjetischer Anarchie und der Hoffnung auf aufkeimende Demokratie. Es ist ein Flohmarkt, groß wie ein Stadion, auf dem es viel Händler aus der Ukraine gibt, an den er sich erinnert. Sein erster Eindruck der Ukraine ist ein vermittelter, kein unmittelbarer, aber er kommt über Menschen, nicht Medien. Später kommen die ersten Maidan-Proteste, mit denen Warschaus junge Menschen in Solidarität auf die Straße gehen. Orange ist die Farbe der Stunde, unser Reiseführer mittendrin. Der Slogan „Für eine freie Ukraine, ohne Putin!“ sagt ihm damals noch nichts, denn Putin ist für den Westen noch keine Bedrohung, noch keine zwiespältige Figur. In Polen dagegen ist Putin bereits als Bedrohung angekommen, die Angst vor ihm auf der Straße zu spüren. Zugleich gab es die Sehnsucht nach einer Revolution, die Warschau und Kiew verbinden sollte.
Über zehn Jahre später passiert eine neue Revolution in der Ukraine. Ein Land, das jetzt gespalten ist, wie man oft liest. Christ sieht das nicht so - die Ukrainer auch. Der kalte Krieg entfaltet seine Grenzen wieder, aber ist das Land, sind die Menschen geteilt? Die Realität dieser Teilung schlägt sich in bewaffneten Gefechten nieder, deren Leidtragende vor allem, wie in jedem Krieg, die Zivilbevölkerung ist. Stadt für Stadt tastet Christ sich vor, seinen Startpunkt Lwiw portraitiert er als Einfallstor in die Ukraine mit Spuren der jüdischen und österreichischen Vergangenheit, aber von einem geteilten Land will er noch nicht spüren. Er füttert seine Beschreibungen mit historischen Fakten und illustriert damit die ukrainische Geschichte, die tief mit der Geschichte Europas verbunden ist.
Christs Fähigkeit Kontexte historischer Natur und zwischenmenschliche Befindlichkeiten gleichermaßen in die Waagschale seiner Betrachtungen zu werfen, macht ihn zu einem wertvollen Betrachter. Wertvoll im Sinne einer wertfreien Perspektive, der Perspektive eines genuinen Betrachters, dessen Blick auf die Welt, in diesem Fall ein schwelender Konflikt, nicht wertet, nicht verurteilt - wohl aber einordnet und abwägt. Er ist ein skeptischer Mensch, das ist guten Journalisten dem Klischee nach zu eigen, dabei ist er nicht scheu seine Skepsis zu teilen. Wenn er von Pressekonferenzen erzählt, auf denen ukrainische Regierungsvertreter offensichtlich Lügen verbreiten, um die eigene Situation zu beschönigen, dann nimmt er diese mit psychologischer Genauigkeit auseinander. Die gleiche Genauigkeit legt er an den Tag, wenn er von der West-Ukraine in den Osten des Landes fährt, zusammen mit den Männer in seinem Abteil anstößt und sich über Sprachgrenzen hinweg nicht nur betrinkt, sondern zu verständigen sucht, bierschwanger zu erinnern scheint, was er in den Gesichtern, Gesten und Geistern der Mitreisenden liest. Er gibt der Ukraine weder sein Gesicht, noch ein Gesicht. Er schafft keine Bilder, die sich in unser Gedächtnis einbrennen, aber er reiht, wie in einem Mosaik, Steinchen für Steinchen aneinander, bis sich ein Bild ergibt, das uns klar werden lässt, wie furchtbar der herankriechende Krieg ist. Wie allumfassend der Krieg das Leben der Menschen zerstört. Wie unnötig der Krieg ist.
Virginia Woolf schrieb 1938 in „Three Guinea“ über die Wurzeln des Krieges und spricht von einer „difficutly of communication“, denn was sehen wir, wenn wir uns Bilder des Kriegs anschauen? Was fühlen wir? Ist es das gleiche? Männer mochten den Krieg zu Woolfs Zeiten noch, er war etwas Männliches. Sebastian Christ mag den Krieg nicht, aber er sucht ihn auf, für uns. Bei Christ heißt es der Krieg kam über Notizen zu ihm, über Medien, dann fährt er hin, um ihn für uns zu betrachten. Ein Reportage über eine Reise an einen Ort, der uns interessieren muss, denn Weltgeschichte ist leider auch oft eine Geschichte des Kriegs und damit des Leids, egal wie wir sie betrachten.
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