"Raddatz soll kommen“
Ein Fritz J. Raddatz ließ sich eine gute Pointe nicht durch die Profanität der Wirklichkeit zunichtemachen. Zumindest liegt der Verdacht nahe, wenn man seine autobiographischen Schriften liest. Das gilt für die 2003 erschienenen Erinnerungen „Unruhestifter“. Und es gilt in besonderem Maße für die 2010 beziehungsweise 2014 veröffentlichten Tagebücher der Jahre 1982 bis 2012.
Was wir dort vorfinden, sind die zahlreichen Facetten eines über Jahrzehnte geformten literarischen Gesamtkunstwerkes: Der Literat und Kritiker als mondäner Flaneur und Conférencier, im Dialog – und: auf Augenhöhe – mit den Geistesgrößen des 20. Jahrhunderts; der Verleger und Zeitungsmacher, der die bundesrepublikanische Kulturgeschichte an wichtigen Stellen prägte und mitgestaltete, und dessen Brillanz von niemanden in Abrede gestellt wurde; und letztlich der Mensch, Kunstfreund, Genießer, Liebhaber, der sich – nicht zuletzt aufgrund seiner Überlegenheit in Verstand, Geschmack, Stil und Urteilskraft – nie verbiegen musste und bereit war, jeden Konflikt mit offenem Visier auszufechten. Keine Stellung, keine Ehrung, kein Engagement, worum sich ein Fritz J. Raddatz je hätte bemühen müssen; alles kam zu ihm, flog ihm zu, wurde ihm angetragen, von den Augsteins, Rowohlts, Dönhoffs dieser Welt, die ohne ihn – dass sie darum wussten machte die Sache nicht einfacher – aufgeschmissen gewesen wären.
Soll man sich bei alledem an Details stören? Daran etwa, dass Raddatz sich in seinem nunmehr letzten Erinnerungsbuch, das sich noch einmal um die Rowohlt-Jahre und den Verleger Ledig-Rowohlt dreht, die eine oder andere Inkonsistenz erlaubt hat, wie kürzlich eine große deutsche Tageszeitung monierte? Zum Beispiel wenn es heißt, es habe nie eine körperliche Berührung, nicht einmal ein Händeschütteln zwischen dem großen Verleger und seinem Stellvertreter gegeben, aber nur ein paar Seiten weiter ein Foto die beiden in herzlicher Umarmung zeigt? Oder wenn Gisela Elsner nun plötzlich einen Lackmantel trägt, als sie in Raddatz‘ Hotelzimmer stürmt (übrigens just in dem Moment, als Ledig dort in der Badewanne liegt), und nicht, wie zuvor im „Unruhestifter“ vermerkt, einen Schlangenledermantel?
Nein, daran sollte man sich auf keinen Fall stören. Tut man es doch, bedeutet dies, das Raddatz’sche Werk zu verkennen, insbesondere den Teil, der spät zu seinem Hauptwerk geworden ist: die Autobiografik.
„Jahre mit Ledig“ liefern davon eine letzte Kostprobe. Auch wenn der Leser schnell feststellen wird, dass ihm vieles, was dort präsentiert wird, bereits aus den Tagebüchern und den Memoiren bekannt ist.
Die Flucht aus Ostberlin, wo der gerade einmal 22-Jährige beim Verlag „Volk und Welt“ für die Westliteratur zuständig war. Der Einstieg bei Rowohlt 1960 als „Stellvertreter des Verlegers“ und damit „rechte Hand“ von Ledig-Rowohlt, dem unehelichen Sohn des Verlagsgründers. Eine vertragliche Festschreibung, so Raddatz, habe die Zusammenarbeit nie erhalten; Grundlage für die knapp 10-jährige Tätigkeit sei ein Restaurantgespräch mit Ledig gewesen. Raddatz sei der Abmachung immer treu geblieben. Trotz zahlreicher verlockender Angebote, etwa von Spiegel-Gründer Augstein, der ihm gar einen eigenen Verlag kaufen wollte.
Raddatz beschreibt die internen Machtkämpfe bei Rowohlt, die er mit Rückendeckung von Ledig allesamt parierte. Er erzählt noch einmal, wie er Hochhuths Stück „Der Stellvertreter“ 1962 eigenhändig aus dem Papierkorb fischte und zur Publikation verhalf, gegen die Intervention des Großindustriellen Beitz, der dies wegen der Thyssen-Passagen gerne verhindert hätte. Ledig erklärte ihm freiheraus, was in seinem Verlag gedruckt werde, entscheide er alleine.
Im Zentrum standen die Autoren. Sie wurden gehätschelt und gepflegt. Nicht selten endeten die Abende mit Genet, Fichte oder Walser in den einschlägigen Reeperbahn-Spelunken, wobei Ledig, die Taschen voller Geld, mehr als einmal um seine Sicherheit bangte. Grundsätzlich lautete die Abmachung, dass Ledig für die deutschen und Raddatz für die internationalen Autoren zuständig war. Allerdings sind die Passagen dazu eher knapp gehalten. Raddatz‘ ausschweifende Reisetätigkeit mit Besuchen bei Susan Sontag, Sartre, John Updike, Philip Roth oder Vargas Llosa lassen sich im „Unruhestifter“ ausführlicher nachlesen.
Ledig selbst erfährt ein alles in allem liebevolles Porträt. Wenn auch die Beziehung zwischen den beiden nicht immer harmonisch war. Raddatz beschreibt ihn als eitel und nachtragend, als Alkoholiker, dessen Interesse nur mit Literatur und großen Geldsumme zu wecken war (idealerweise in Verbindung). Aber zugleich auch als warmherzigen und empathischen Menschen, etwa wenn er den von Liebeskummer geplagten Mitarbeiter nachts im Hotelzimmer mit zwei Flaschen Whiskey aufmunterte. Fehlentscheidungen, wie die, die Bücher Walter Benjamins als „hochstaplerisch gequirltes Theorie-Blabla“ abzulehnen, sah Ledig ihm großzügig nach. Im Gegenzug holte Raddatz die Hitler-Biographie von Joachim Fest zu Rowohlt, wogegen sich Ledig zunächst gewehrt hatte. Das Buch wurde ein Beststeller. Später dann, quasi vom anderen Ende des politischen Spektrums, noch Daniel Cohn-Bendit, der dem Verlag einen weiteren Welterfolg bescherte. Ledig ließ Raddatz bei alledem weitgehend freie Hand.
Der Bruch zwischen den beiden kam schleichend. Raddatz spricht von einer Erosion, die er auf die wachsende Eifersucht Ledigs zurückführt. Näher geht er darauf nicht ein. „Der Blitz“ schlug 1968 ein, in Form eines kleinen Buches. Das Bonner Verteidigungsministerium hatte beim Verlag eine hohe Stückzahl des Bändchens „Marschroute eines Lebens“ von Jewgenija Ginsburg bestellt. Das war zunächst nichts ungewöhnliches, derlei Einkäufe offizieller Stellen kamen häufig vor, meist zum Zwecke der politischen Bildung. Nicht vorgesehen war jedoch, dass 50.000 Exemplare davon mit einem Ballon über der DDR abgeworfen wurden, was in linken Kreisen in Ost wie West zu einem Aufschrei des Entsetzens führte. Die Sache blieb an Raddatz hängen, der von seinem Rauswurf per Telegramm im Spanienurlaub erfuhr.
Danach herrschte jahrelang Funkstille zwischen Raddatz und Ledig. Nicht ohne Genugtuung zählt Raddatz die Autoren auf, die nach seinem Abgang den Verlag nach und nach verließen: von Philip Roth über Gisela Elsner bis Walter Kempowski.
Zur Wiederannäherung der beiden kam es erst Anfang der 80er Jahre. Raddatz hatte sein Romandebüt („Kuhauge“) vorgelegt, Ledig wollte das Buch verlegen (mit mäßigem Erfolg, wie sich herausstellen sollte). Man traf sich in Ledigs Haus am Genfer See, um die Details zu klären. Später dann noch hin und wieder in Paris und andernorts. Als Raddatz Jahre später bei der ZEIT vor dem Rausschmiss stand, versuchte Ledig vergeblich bei Helmut Schmidt und Theo Sommer für ihn zu intervenieren (aus schlechtem Gewissen, wie Raddatz mutmaßt).
In seinem Nachruf 1992 würdigte Raddatz Ledig als einen Verleger, der die Literatur über alles liebte; und der bei allen Widersprüchen seines Charakters zu unvergesslichen Gesten fähig war. Mit „Jahre mit Ledig“ hat er ihm nun, wenige Wochen vor seinem eigenen, selbst terminierten Tod, ein kleines aber feines Denkmal gesetzt.
Was wird von Fritz J. Raddatz bleiben? Wohl nicht seine Essays, Literaturkritiken und sicherlich nicht seine Romane; vermutlich auch nicht die Bücher über Marx, Benn oder Tucholsky. Woran man sich erinnern wird, ist sein spätes autobiografisches Schaffen, seine Memoiren und vor allem seine herrlich stilisierten Tagebücher. „Jahre mit Ledig“ ist das finale Puzzle dieser grandiosen literarischen Selbstbeschau.
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