ERZÄHLEN UM ZU ÜBERLEBEN
Wenn es tatsächlich so ist, dass es einen engen Zusammenhang zwischen dem Erzählen und dem Menschsein überhaupt gibt und wenn das Erzählen, wie der amerikanische Erzähltheoretiker Peter Brooks behauptet, „eine der allgemeinen Kategorien und Methoden des Verstehens“ darstellt, der wir uns in der Auseinandersetzung mit der Realität und dem Problem der Zeitlichkeit bedienen, dann bekommt das Erzählen selten eine höhere Dringlichkeit, als wenn dieses Menschsein zutiefst bedroht ist.
Der 1956 geborenen Iraker Najem Wali, der bei Ausbruch des Iran-Irak-Kriegs 1980 nach Deutschland floh, stellt seine literarische Arbeit in die Tradition von Scheherazade und 1001 Nacht, in der „das Erzählen zu einer Form des Überlebens gegen Tyrannei wird.1“ Wie lässt sich angesichts eines Landes, dass seit 1980 durch drei verheerende Kriege mit hunderttausenden Toten gegangen ist und auch seit dem Abzug der Amerikaner 2011 nicht zur Ruhe kommt, wie lässt sich das, was der Krieg mit den Menschen macht, überhaupt zur Sprache bringen? Najem Wali hält an der humanisierende Geste des Erzählens fest. In Form einer sich immer weiter verzweigenden Arabeske, die sich am Ende wieder kunstvoll schließt, erzählt er in seinem neuen Roman „Bagdad Marlboro“ von der brennenden Frage der Schuld, die die drei Protagonisten des Buchs umtreibt, seit sie sich vor die Alternativ gestellt sahen, entweder zum „Totschläger oder Totgeschlagenen“ zu werden.
Der Roman setzt im Jahr 2005 ein, als die Amerikaner nach der Invasion von 2003 den Irak besetzt halten. Die Auflösung von Sadams Armee hat dazu geführt, dass hunderttausende Soldaten von einem Tag auf den anderen ohne Arbeit dastehen und sich die unterschiedlichsten Gruppierungen für wenig Geld Privatarmeen leisten können. Der Ich-Erzähler hat in den siebziger Jahren Veterinärmedizin studiert und betreute während des Iran-Irak-Kriegs die Esel, die die Iraker als Minenräumer einsetzten. Nach dem Krieg war er Tierarztleiter des Schlachthauses (!) in Bagdad und später Bauunternehmer, der davon träumt, ein „Geschichtenerzähler“ zu werden. Sein Leben beginnt sich grundlegend zu ändern, als ein geheimnisvoller schwarzer Amerikaner, Lieutenant Daniel Brooks, dem dann der mittlere der drei Teile des Romans gewidmet ist, vor Ort nach ihm zu suchen beginnt. Sein Auftreten und seine Geschichte bilden gleichsam die Achse, um die sich das ganze Buch ordnet.
Das Erscheinen des Amerikaners führt dazu, dass das Haus des Erzählers eines Morgens von vermummten, schwer bewaffneten Männern besetzt und dieser daraus als Ami-Kollaborateur vertrieben wird. Völlig mittellos flieht er zu seinem Dichterfreund Salmân Mâdi, den er einst im ersten Golfkrieg zwischen Iran und Irak (1980-88) kennengelernt hatte und der 1991 völlig verstört aus dem zweiten Golfkrieg, als der Irak Kuwait überfallen hatte, zurückgekehrt war. Salmân wohnt im übel beleumundeten Maîdan-Viertel im Zentrum der Stadt, wo er sich zumeist in der Kneipe al Gunun, „Der Irrsinn“ betrinkt, die von einem weiteren Veteranen, William, betrieben wird. Doch bevor der Erzähler dort ankommt, wird in einer ersten Erzählschlaufe das Schicksal Salmâns erzählt. Da ihm die Veränderung des Freundes ein Rätsel ist und der Erzähler vieles nur andeutet, was sich dann im zweiten und dritten Teil konkretisiert, mäandert die Erzählung mit Bedacht. Es ist kennzeichnend für den manchmal naiv wirkenden Erzählstil Walis, dass er die Handlung immer wieder unterbricht, um in großen Erzählschleifen, die sich wiederum in Subschleifen weiterverzweigen, nachzuholen, was man über eine neu im Roman auftauchende Figur wissen sollte. Erst gegen Schluss versteht man, dass der Ich-Erzähler dies nicht zuletzt deswegen tut, weil er Zeit braucht, um von seiner eigenen Schuld erzählen zu können.
Auf tragische Weise schuldig geworden sind nämlich alle drei Protagonisten des Buches. Es spricht für Wali, dass er bei seiner poetischen Rekonstruktion des Kriegsschauplatzes Irak auf jegliche Schwarzweiß-Zeichnung verzichtet. Er versucht vielmehr zu zeigen, wie jeder, der sich in den Krieg begibt, sich willentlich oder unwillentlich in Schuld verstrickt. Es gehört zur erzählerischen Dezenz und Klugheit des Autors, dass er die grausamsten Momente auf eine Weise schemenhaft werden lässt, die die Phantasie des Lesers umso eindringlicher beschäftigt. Der vorhin schon erwähnte William hat während des Kuwaitkriegs Salmân gebeten, seinen großen Traum, im Falle seines Überlebens eine Kneipe für seine Kameraden zu eröffnen, in seinem Notizbüchlein festzuhalten. Als das die anderen Soldaten mitbekommen, entschließen sich hundert weitere, ihm ihre Zukunftswünsche anzuvertrauen. Hier spiegelt sich die humanisierende und kontinuitätsstiftende Kraft des Schreibens, der der Roman als ganzes verpflichtet ist, auf der Plotebene wieder. Salmân gibt dieses Büchlein und einen Brief dem jungen Soldaten Nihâd, mit dem Auftrag sie dem Ich-Erzähler zu überbringen. Doch nur wenig später wird er von einem der dreißig amerikanischen Gefangenen, die sie bewachen, erstochen, was Salmân in rasende Wut versetzt. Er kann sich nicht mehr genau erinnern, ob er von selbst oder auf Befehl zu schießen begonnen hat: „Die Szene verschwamm, sobald er sich an Einzelheiten erinnern versuchte.“ Dabei tötete er auch David Barbino, einen Amerikaner, mit dem er in den Nächten zuvor Walt Whitman-Gedichte ausgetauscht hatte. Dessen verzweifelter Zuruf: „I’m David Marlboro, Salmân“, dringt nicht mehr zu ihm durch.
Ungewollt hat auch Lieutenant Brooks Schuld auf sich geladen, der trotz aller rassistischen Übergriffe beim Militär lange sein Lächeln behielt. Als Zuständiger für die Anlage von Waffen- und Versorgungsdepots war es dem „Smiley Man“ gelungen, während der ganzen Soldatenzeit, keinen einzigen Schuss abzugeben. Das aber ist Major Ray Prince, dem in „Vietnam mehrfach die Sicherungen durchgebrannt waren“ und der sich dem Leitspruch „search and destroy“ verschrieben hat, ein Dorn im Auge. Prince, der verschiedene Militärbasen im Nahen Osten leitet, taucht wie ein böser Geist immer wieder in Brooks Leben auf. Als er im März 1991 in Saudi-Arabien 400 irakische Soldaten mit mehreren Bulldozern bei lebendigem Leib verscharren lässt, fädelt er es so ein, dass auch Daniel Brooks, ohne etwas von der geplanten Aktion zu wissen, auf einem der Bulldozer sitzt. Vor die Wahl gestellt, entweder einen Befehl zu verweigern oder seine Pflicht zu tun, entscheidet er sich zu gehorchen. Die Schilderung dieser Momente, die wiederum voller Lücken sind und ins Ungefähre gerückt werden, gehört zum Bedrückendsten dieses mit Gräueln vollgepackten Buches. Der Major, der Brooks fehlenden militärischen Ehrgeiz nicht verstehen kann, ist davon überzeugt, dass er ihn dadurch erst zum Mann gemacht hat. Denn „ein Soldat, der nicht töten kann, verdient es nicht, die Uniform zu tragen.“ Der völlig entsetzte Brooks sammelt nach dem Massaker persönliche Gegenstände der Verscharrten ein und schwört sich, sie eines Tages den Familien der Getöteten zurückzugeben. Sein Lächeln ist für immer verschwunden und auch nachdem er ins zivile Leben zurückkehrt und in den USA eine verständnisvolle irakische Frau, Kansa, findet, verfolgt ihn wie Salmân die Schuld.
Im April 2003, die Amerikaner sind gerade in Bagdad einmarschiert, sieht er in New York im Fernsehen den zum Oberstleutnant beförderten Kriegsverbrecher Ray Prince wieder, wie er aus einem Führungsfahrzeug klettert. Brooks erinnert sich an das Päckchen, mit dem Brief an den Ich-Erzähler, das Notizbuch voller Gedichte und die Wünsche der hundert Soldaten. Und so beginnt er mit seiner Frau Geld für die irakischen Opfer zu sammeln und bricht wieder nach Bagdad auf, um den Adressaten des Briefes und die Familien der Soldaten aufzusuchen. Doch als er zum Haus des Erzählers kommt, wird er von den Besetzern des Hauses gekidnappt und eine neue Spirale der Gewalt beginnt, in die der Erzähler verwickelt wird und die Anlass für das ganze Buch wird.
Najem Wali legt mit seinem Roman ein beeindruckendes und bedrückendes Panorama eines tief im Chaos versunkenen Iraks vor. Das Buch wurde zuerst 2012 auf Arabisch in Amman und in Beirut veröffentlicht. Der Autor versucht in ihm einzulösen, was der Erzähler über die Bücher von Harûn Wali (!) sagt, der im Roman als Alter Ego immer wieder in den Gesprächen auftaucht: „Ich habe ihn gelesen, weil er über das Totgeschwiegene und die Ungerechtigkeit spricht, die dem Menschen angetan wird.“ Zu diesem Zweck hat Wali die sich immer neu auffaltenden Erzählstränge zu einem spannungsvollen Knoten voller Überraschungen geschürzt. Manchmal streift er dabei aber den Kitsch, etwa wenn des Erzählers Interesse an Salmân durch eine glitzernde Träne geweckt wird, die diesem angesichts seines abgestürzten Maultiers über die Wange rollt. Platt wirkt es auch, wenn er schon nach wenigen Augenblicken ahnt, dass Salmân ein „Ausnahmedichter war, den man schwer ignorieren konnte“. Recht äußerlich und blass bleiben auch die Frauengestalten des Buches. Sie wirken oft nur wie die Projektionen der Männer, die von ihnen sprechen, angemessen vielleicht bei Salmâns großer Liebe Achlâm, die etwas Phantomartiges hat. Eher unbeholfen und oberflächlich wirkt hingegen die Charakterisierung von Brooks späterer Ehefrau Kansa, von der gesagt wird, dass sie nicht nur auf ihre auf der Fifth Avenue erstandene Kleidung großen Wert legt, sondern auch auf ihre Unterwäsche, die „sie sich in den Victoria’s Secret-Boutiquen besorgt“. Hier wäre ein beherzteres Lektorat wünschenswert gewesen. Diese Kritik heißt aber nicht, dass bei Wali das Schicksal der Frauen und die Gewalttätigkeit, der sie in dieser patriarchalischen, tief zerrissenen Gesellschaft ausgesetzt sind, unterbelichtet blieben. Ganz im Gegenteil. Die soeben kritisierten Vordergründigkeiten scheinen vielmehr Symptome eines generellen Erzählverständnisses des Autors zu sein, das, wenn nicht der Entstehungszeit von 1001 Nacht, so doch dem 19. Jahrhundert verpflichtet ist. Sind die biografischen Stationen der Figuren tatsächlich so einfach wie Perlen aneinanderzureihen? Gibt es die ErzählerInnen noch, die eine vollständige Einsicht in die Motivationen ihrer Figuren und die Umstände, in die sie verstrickt sind, haben? Lässt sich das komplexe, von allen möglichen Interessen durchdrungene Gefüge von Kriegen auf Duell-Situationen, die das Buch durchziehen, herunterbrechen?
Trotz dieser Vorbehalte öffnet Wali den deutschsprachigen LeserInnen mit „Bagdad Marlboro“ Buch ein weiteres Fenster in eine Welt, die trotz aller medialen Berichterstattung den meisten doch fremd und verschlossen ist. Im Kontrast zu den irakischen Verhältnissen lässt sich bei der Lektüre des Buches erahnen, was in den vollklimatisierten Treibhäusern unserer Wohlstandsgesellschaft eigentlich auf dem Spiel steht. Dass Wali als Erzähler aber auch ganz anders kann, führt er gegen Ende des Buches vor, als der Ich-Erzähler den Ablauf der Ereignisse bei der gewaltsamen Wiederaneignung seines Hauses zuerst wie eine fixe Idee über viele Seiten hinweg im Konjunktiv im Kopf ablaufen lässt, bevor die Erzählung unvermutet in die vollzogene Tat mündet, worauf das Ganze kurz danach nochmals in ein völlig anderes Licht getaucht wird. Das ist ein starkes Stück zeitgenössischen Erzählens, von dem man sich mehr wünschte.
- 1. Interview vom 31.5.2014: http://derstandard.at/2000001658472/Najem-Wali-Der-Sieg-des-Erzaehlens
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