Energiefelder - heiliger Kram
Heiliger Kram heißt der erste kurze Text in Ljudmila Ulitzkajas Buch „Die Kehrseite des Himmels“. Es hat keine Genrebezeichnung, es ist eine Sammlung, wie der im Text beschriebene heilige Kram, der jahrelang aufgehoben, stets mit umgezogen, von dem sie sich nicht trennen konnte: Eine Teeschale mit Sprung, Glacéhandschuhe von Großmutters erstem Ball, Rädchen und Sprungfedern vom Uhrmacher-Urgroßvater. Bei einem der letzten Umzüge wirft sie den „Kram“ weg und „für einen Augenblick schien mir, als hätte ich mich damit meiner Vergangenheit entledigt“. Doch sie erinnert sich genau an jedes einzelne kostbare Stück. Aus lauter solchen Stücken besteht dieses Buch, manches kostbarer als andere: biografische Miniaturen, die Fotogalerie der Ahnen, eine Hommage an ihren Künstler-Mann, Betrachtungen zu Russland unter Stalin und Russland unter Putin. Und ein längerer Text über ihre Krebserkrankung.
Es ist die Mischung aus Privatheit und Gesellschaft, die man von einem autobiografischen Roman erwartet. Ljudmila Ulitzkaja legt uns sozusagen das Rohmaterial vor. Der „Misthaufen“ sei mitunter wertvoller als die „Perle“ heißt es programmatisch in „Heiliger Kram“. Und es ist gar nicht so einfach, den „Misthaufen“ als Ganzes zu betrachten. Das Mädchen Ljudmila in dicker Winterkleidung auf dem Weg zur Schule, das Mädchen im Flur der Wohnung, wo der Bücherschrank stand. Das Mädchen, das sich durch Lesen selbst erzieht, Lermontow blau, Puschkin weiß usw., sie findet zwischen den farbigen Umschlägen der Klassiker die Inkarnation von Politik und Familiengeschichte mit einem Buch, dessen Einband der Großvater im Gefängnis 1948 aus einem Aktendeckel und alten Socken gefertigt hatte. Das Mädchen, das laut Familienrat Biologin werden sollte und das, als es durch die Aufnahmeprüfung fiel, ein Jahr im Labor arbeiten sollte. Ulitzkaja schreibt in „Dankeswort an eine Ratte“ mit dem ihr eigenen Humor, wie sie rosa Rattenbabys mit einer Schere die Köpfchen abschnitt. Dann wendet sie sich an den Leser: „Ich weiß nicht, wie es bei Ihnen aussieht, ich jedenfalls werde beim Jüngsten Gericht knietief in zerschnittenen Ratten stehen.“ Im Labor wurden aber auch lebende Ratten für wissenschaftliche Experimente verwendet. Die 18-Jährige war ehrgeizig und erwarb sich eine gewisse Professionalität. Als eines Tages die Laborantin als „Objekt“ einen menschlichen Fötus ankündigte, fragte die ehrgeizige Schülerin: Tot oder lebend? Selbstverständlich handelte es sich um einen toten Fötus, Ulitzkaja ging es um den Automatismus der „professionellen Logik“.
Für die künftige Schriftstellerin eine knallharte Erkenntnis und die Entscheidung, ihre Karriere als Biologin sofort zu beenden. Und diesen Vorgang, der in ihrem Roman „Reise in den siebenten Himmel“ einging, mit der moralischen Frage zu beleuchten, wo fängt es an, an welcher Stelle sage ich: nein.
So hielt sie es auch in ihrem Privatleben. Im Kapitel „Zu zweit sein, allein sein“ spricht Ulitzkaja von ihren drei Ehen. Zu zweien ihrer Männer hat sie irgendwann nein gesagt. Ihrem jetzigen Mann, dem Bildhauer Andrej Krassulin, widmet sie einen eigenen Text: „Kunst des Nichtstuns“, der schon fast zu intim ist. Sie begründet das Schreiben über ihn damit, dass er nach 30 Jahren gemeinsamen Lebens zu ihr gehört, das verbindende Element Kreativität ist, die sie in die Nähe von Radioaktivität stellt, es sei: „eine Energie, die Strahlung abgibt“. Wenn es ihr nicht gut geht, setzt sie sich ins Atelier ihres Mannes und tankt auf.
Vielleicht hat diese und die ihr aus dem großen Freundeskreis zuwachsende Energie ihr die Kraft gegeben, die Krebserkrankung durchzustehen, über die sie erstaunlich gelassen schreibt, obwohl sie mehrere Jahre damit zubringt: „Brust. Bauch“. Eine wichtige Motivation für sie war, anderen Erkrankten Mut zu machen. Ob das auch klappt bei Menschen, die nicht in ein so starkes Energiefeld um sich haben …
In diesem Text wird gleichzeitig ein erschreckendes Bild vom russischen Gesundheitssystem gezeichnet. Ulitzkaja lässt sich in Israel behandeln. Und das ist nicht der einzige Text, der auf Russland heute Bezug nimmt. Ihr 2014 im Spiegel erschienener Artikel „Leb wohl, Europa“ ist im Buch enthalten und lässt nichts an Deutlichkeit zu wünschen übrig. Die Politik Russlands sieht sie als möglichen Auslöser zu einem dritten Weltkrieg. „Der im Grunde bereits begonnen hat“. Sie sagt von sich, dass sie politisch nicht aktiv ist, sieht aber dennoch eine Verantwortung darin, dass sich die Kultur zur Politik verhält. Die Annäherungen Putins an die Kultur lehnt sie mit beißender Ironie ab. In „Braucht Russland einen Pinochet?“ beschreibt sie einen Auftritt Putins im russischen PEN. Der „graue Wolf sei gar nicht so grau und eigentlich gar kein richtiger Wolf“, so definierte sich Putin bei der Begegnung mit den russischen PEN-Mitgliedern selbst. Die Schriftstellerin sieht sich in die Zeit vor der Perestroika versetzt, als die meisten Intellektuellen Dissidenten waren und sich in Russlands Küchen versammelten. Nun sitze sie wieder in einer Küche und diskutiere über die aktuellen Kriege. Und viele Intellektuelle von heute wählen Putin, denn Russland brauche „einen Pinochet“. Natürlich ist Ulitzkaja nicht dieser Meinung. Aber sie will sich nicht mehr in Küchen streiten.
Ljudmila Ulitzkaja ist 72 Jahre alt. Berühmt wurde sie, als sie 1996 für ihre Erzählung Sonetschka den Prix Médicis erhielt. In Deutschland erschienen ihre Romane und Erzählungen im Carl Hanser Verlag, im vergangenen Jahr erhielt sie den Österreichischen Staatspreis für Literatur. Ihre Erzählungen lesen sich leicht und unterhaltsam. Der französische Laudator vergleicht sie mit Tschechow. Die in „Die Kehrseite des Himmels“ versammelten Texte, der „heilige Kram“, sind essayistisch, glänzende literarische Qualität erreichen die Texte jedoch selten - wie im „Dankeswort an eine Ratte“.
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