Zwischen Scheitern und Selbstbehauptung
Was soll man davon halten, wenn Dichter im jungfräulichen Alter von 49 Jahren bereits auf Zeitungsporträts zurückschauen, in denen steht: »Der Lyriker Ulrich Koch hat mit dem Literaturbetrieb gänzlich abgeschlossen«?
Der Artikel in Die Zeit ist datiert von 2009. Seitdem aber sind vier neue Gedichtbände von Ulrich Koch erschienen. Vielleicht müssen wir uns Ulrich Koch als einen Protagonisten in einem Film der Coen-Brothers vorstellen. Der gänzlich unbekannte, im vorstädtischen Leben zerschlissene, von mittelmäßigen Emotionen aufgebrauchte, überaus bedauernswerte Mr. Koch muss sich sogar bei Wikipedia einen Artikel-Lemma teilen: Ulrich Koch (Lyriker) mit Ulrich Koch (Bratschist).
So jedenfalls präsentiert sich der Dichter offenbar gerne: in einer Pose abgeklärter und abgeschlossener Konkurrenzlosigkeit, der niemand und nichts mehr etwas anhaben kann. Infantil, will man kurzerhand antworten. Aber es steckt mehr dahinter.
Was ist passiert zwischen den beiden im österreichischen Residenz-Verlag erschienenen Bänden »Weiß ich« (1995) und »Auf mir, auf dir« (1998) und seiner neuerlichen Anknüpfung ans Werk 2008 mit »Der Tag verging wie eine Nacht ohne Schlaf«, dass er (und andere) sein Werk zunächst im Sinne von hartgesottener Misanthropie bewerteten?
Im Porträt über Ulrich Koch jedenfalls schrieb Martin Brinkmann seinerzeit in Die Zeit: »Ulrich Koch ist der Sänger der entvölkerten Vorstadt, der menschenleeren Provinz, die ihre Würde durch sein Gedicht erhält. Nicht das coole Signifikanten-Geklapper ist seine Sache. Er schwört auf zurückhaltend Modernes. Häufig finden sich Erinnerungen an klassische lyrische Formen, rhythmische Qualitäten, sogar Reime, in seinen Gedichten«.
Es ist Zeit für eine Neubewertung der Kunst von Ulrich Koch
Denn es ist, wenn man dem neuen Gedichtband von Ulrich Koch »Ich im Bus im Bauch des Wals« (edition AZUR 2015) nach urteilt, ganz anders. Manche Dichter brauchen länger, um sich zu gebären; manche bringen auch den Mut auf, sich so lange zu gedulden. Insofern existenzielle Motive ein wichtiger Bestandteil des dichterischen Konzepts sein sollen, was nicht immer notwendig ist, bedarf es vielleicht einer gewissen Inkubationszeit, wonach die Symptome numinoser Einsichten und Empfindungen an Kontur gewinnen und deutbar werden.
Der Literaturkritiker Michael Braun notierte hinsichtlich Kochs Dichtung in der September-Ausgabe 2010 in »SPRITZ. Sprache im technischen Zeitalter« treffsicher, dass Koch im Grunde Konsequenzen ziehe aus einer im 21. Jahrhundert erst möglichen, neuartigen Erfahrung von Raum und Lebenswelt. Braun schrieb: »Denn es ist gar kein Ort mehr vorhanden, an dem ein Bleiben möglich wäre, es ziehen nur funktionslose Stadt- oder Provinzkulissen am Auge des Betrachters vorbei. Es ist nur ein Verharren im Provisorischen denkbar, in mobilen Behausungen, wie jenen ›Wohnwagen‹, die das Ich auf seiner Radfahrt registriert«.1
Was wird aus dem Schreiben in dieser Ortlosigkeit? Im Gedicht »Toter Mann« lesen wir zum Ende hin: »Ich mit meiner Selbstverstummelung, / mit meinem Ausschlag (Lexeme / am ganzen Körper, aber / der Körper noch ganz). Ich / mit meiner Brockhausapathie, /meinen elliptischen Anfällen. / Habe mir immer geschworen / auszuziehen, wenn die Sichtweite / unter vier Zeilen sinkt. / Hänge jetzt die Inseln ab, / rücke die Küsten von den Wänden, / zu sehen, was hinter mir liegt«.
Was aber diese Zeilen abschließt, ist eine überraschende Wende des Motivs der Rückbesinnung: Denn nicht wie der jugendliche Theseus rollt Koch die Steine aus dem Weg nach Athen, sobald er flügge wird, stattdessen bricht er als Mann auf, als Vater, der seinen Sohn Telemachos und Penelope zurücklässt, als Odysseus: »Ich treibe es mit dem Meer. / Denn es ist alles wie Armut / nach Jahren seßhafter Wanderschaft«. Eine Dichtung der Spätaufgebrochenen, der Geradenochaufgebrochenen—aufbrechend, fortziehend, hinstrebend zum Gedicht nach so vielen Jahren der Entbehrung des Gesangs.
Die Tristesse früherer Dichtungen ist gewichen und hat sich geöffnet hin zu einer reifen Liebkosung des Lebens: »[…] Ein einziger Schwan zieht morgens / die Schlafenden in die Höhe. / So wie Zimmerleute / einen Balken hochziehen. // Wer schreibt, kniet / auf grasüberwachsenen Betonstufen. / In den Fugen spielen Erdwespen / ein Grubenunglück nach […]« (Koch: Ein einziger Schwan zieht morgens / die Schlafenden in die Höhe).
Wir haben es nicht mit Vergewisserungskunst zu tun, nicht mit der Fülle an der pseudosouveränen Rechenschaftspoesie der Bob-Dylan-Fan-Generation (männliche, weiße Europäer, geb. 1960-70). Wir sind von der Stimmung her irgendwo nun zwischen Inside Llewyn Davis (2013) und A Serious Man (2009).
Die produktive Energie aus den Gedichten von »Ich im Bus im Bauch des Wals« zeigt, dass Ulrich Koch am Ende des Tunnels angekommen ist und Licht mitgebracht hat von dorther aus der Düsternis für die Nacht, die nun vor ihm liegt.
»Sanft wie Berge gingen alle Vergleiche
neben der Rede. Schwarze
Berge, über die das Licht stieg und
fiel. Ich schnorrte Gold.Teile der Sprache, die ich den Dingen
nachtrug, klangen auf einmal, ein Klopfen
wie von gesprungenen Glöckchen:
Es waren Kamillenköpfe,
gegen den Unterboden
der leeren Kanne schlagend.Auf dem Tisch das Obst vom Herbst:
Gegenstand der Astronomen.
Nachts das Leuchten der erloschenen Sorten.
Und das Wort ›Geflüster‹
blutete aus allen Poren.«(Koch: Was, als ich einmal im Mai schwieg, passierte)
Gewiss, alles ist ein bisschen mühsam, das »Licht« muss über »Schwarze / Berge«, die »Sprache« muss den »Dingen« nachgetragen werden, die »Glöckchen« sind gesprungen. Aber: »Sanft wie Berge gingen alle Vergleiche / neben der Rede«.
Das Gedicht verfügt, wenn man so will, über ein Vorzeichen der Sorge, alles Schwere, Schleppende, Gesprungene ist eingefaltet in die Sanftheit der Vergleiche, will heißen: Es gibt eine Makrosicht, einen Abstand zur Welt, der dem bewaldeten Gebirge sanfte Konturen verleiht—wenn auch nur im Wie, in der Approximation, von dort und auf diese Weise lassen sich die Erfahrungen, die Wahrnehmungen und was auch immer sonst ins Gedicht mit einfließt organisieren zum Kunstwerk.
Und es ist tatsächlich alles soft, was in diesem Gedicht ist: Sogar die Trochäen bzw. schweren Silben, mit denen die Abschnitte kräftig einsetzen, werden unumwunden abgefedert von zweisilbigen Senkungen (»Sanft wie Berge gingen alle Vergleiche / neben der Rede«).
Insgesamt kann man wohl vorsichtig sagen, der Gedichtband »Ich im Bus im Bauch des Wals« offeriert mehr als Bruchstücke des Selbst; vielmehr finden sich in den kurzen, selten mehr als dreißig Zeilen übersteigenden, freirhythmischen Kompositionen Kapseln aus Welterfahrung.
Dass Ulrich Koch nur in etwa einem halben Dutzend der Texte die Langzeile verwendet, also im Bezirk von zehn bis fünfzehn Silben pro Zeile bleibt, verankert diese Texte auf eine besondere Weise. Sie sind nicht episch, sie tendieren auch nicht in die Richtung der Epik wie es etwa die Langgedichte von Nico Bleutge (etwa »verdecktes gelände«) tun oder auch Ron Winklers »Erinnerungen auf Basis des bisher geleisteten Vergessens« (aus »Prachtvolle Mitternacht«, Schöffling & Co. 2013). Ulrich Koch verabreicht seinen Lesern die Droge Welt in wohldosierten Kapseln, unzusammenhängend, zerlegt in die vielen kleinen Moleküle, die es zum Stoff der Imagination und des Sinnens machen.
Welterfahrung in wohldosierten Kapseln
Die Kurzstrecke des Gedichts: Eine Reihung von biographischen Schnipseln, Reflexionen, Wahrnehmungen und Behauptungen macht noch keine spektakuläre Strategie. Die Effekte werden nicht durch komplizierte Metren oder kühne rhetorische Tropen und Figuren erzeugt, sondern durch ein besonders maßvolles Arrangement von Bildern. Besonders stark sind Stücke, die eine Einsicht in eine Art Niederlage oder imaginierte Niederlage thematisieren, wie das Gedicht »Vorabend in der Vergangenheit (2)«.
Nachdem das Gedicht eingangs eine Kindheitsszene evoziert, führt Ulrich Koch eine Serie von Begründungen ein, die grob gesprochen Begründungen für nichtrealisierte Lebensentwürfe inszenieren: »Sie alle sind jetzt unterwegs als Artisten / im Wanderzirkus der Erinnerungen, / bei dem bis heute jede Vorstellung ausgefallen ist: / weil die Streichhölzer des Feuerschluckers feucht waren, / weil die Instrumente der Kapelle gestohlen wurden, / weil man den doppelten Boden ausgeliehen hatte, / weil der Tiger erkrankt war«.
Was in den beiden Zweizeilern folgt, die das Gedicht abschließen, ist bemerkenswert, weil es die Gewichte der Begründungen kappt und als das entlarvt, was sie sind: »Durch das Dachfenster las nachts der Himmel / die Aufklärer mit, glühende Zeilen ungläubiger Priester. // Aber das ist bedeutungslos. Wie Wolken, / die aussehen wie abgeschnittene, aufbewahrte Locken«.
Man kann hier in der Tat von psychologischem Realismus sprechen, der die Wolken als Reliquien des Unergriffenen entwirft, die über den Köpfen der »Artisten« hängen und verbissen aufbewahrt werden, als ob sie Locken einer nichtgelebten Kindheit/Jugend darstellten. So ist das Gedicht vielleicht eine Parodie auf Menschen, die sich mit dem Nichterreichten terrorisieren, und sogleich eine Einladung an die »Aufklärer«.
Die Gestaltung von Empfindungsräumen beherrscht Koch vorzüglich. Man stelle sich zunächst Meisterwerke des (norddeutschen) Impressionismus vor, etwa des Malers Hans am Ende oder Otto Modersohns »Lampionfahrt auf der Wümme« (1911). Und nun Kochs Gedicht »Schon war es Nacht«:
»Wie sie abends die Amseln zusammenfegten,
schwarze Beeren, die sie im Winter
zum Trocknen auf die Fensterbänke legten,faustgroße, nachglühende Brocken,
auf dem Rasen zu Asche zerfallend—
war nicht achtgab, trat in die Schlackeund schleppte den Gesang ins Haus hinein,
der kurz nach dem Anheizen des Ofens
für Sekunden im Dunkel zu hören war.
[…]
Unter der Decke glitten die Glieder
der abgesprungenen Fahrradkette
durch die vom Öl noch duftende Hand«.
Die Strophen werfen noch einen Schatten des Terzinen-Baus ab; so markiert die Form selbst eine Art Erinnerung an den Liedcharakter der Dichtung. Man beachte, wie zuverlässig die Stimmung des Abklingens getroffen ist, wie offen das Assoziationsfeld bleibt.2 Die Amseln, welche motivisch eine wichtige Rolle im gesamten Band zu spielen scheinen, sind Spuren der Lebendigkeit; die Asche ist Spur des Fests; der Ofen ist domestizierte Wärmequelle und damit ein Gegensatz zum offenen Lagerfeuer der zweiten Strophe; und Kochs Gedicht klingt aus mit den öligen Händen, darin die Spur des Tages noch dem bevorstehenden Traum lauert. Alles ist gehalten wie bei einer Fermate, die man vor den letzten Akkord eines Lieds gesetzt hat.
Es ist eine Kapsel an Welterfahrung, die sich hier raumgreift. Entkoppelt ist auch das Gedicht oben von einem störenden Einfluss des Subjekts, keine störenden biographischen Konkreta; vielmehr bleibt es typologisch, schemenhaft.
Solche Passagen machen die Kunst dieses Dichters so überzeugend. Minutiös porträtierte Erinnerung, geöffnet hin zur condition humaine. Und wer behauptet, dass Gedicht müsse ästhetisch eine andere Aufgabe übernehmen-, als eine augenblickliche Erweckung des Urvertrauens?
Betrachte etwa das Gedicht »Seine erste Gitarre war ein sterbender Schwan« relativ abstrakt daherkommt und schließlich zumindest in die Nähe von Naturlyrik reinster Form mündet. Der Rahmen ist eine in dritter Person präsentierte Kindheits- oder Jugendszene:
»Manchmal regnete es so leicht / dass es trocken blieb unter der Buche // unter der sie standen. Auf der Rinde / glänzten Schneckenspuren: silbrige Fontänen / mit der kapillaren Saugkraft von Tränen in hölzernen Madonnenfiguren«.
Hauptwerke der »Radenbecker Spätklassik«
Angeblich bezeichnet Koch seine Arbeiten nach dem Dorf, in dem er zwischen Lüneburg und Hamburg lebt, als »Radenbecker Spätklassik«. Nicht unbedingt Schäferspiel, Pastorale oder das englische Hirtenlied. Oder doch? In Deutschland misstraut man allem, was den geringsten Duft nach Land mit sich führt: eine kleinbürgerliche Angst vor der Provinz, eine proletarische Hingabe an die Großstadt, ein Verkennen der porösen oder entschränkten Grenzen jeglicher Orte durch die virtuelle Erfahrungsdominanz im 21. Jahrhundert.
Vor einem solchen engen Rahmen scheint es irgendwie schlüssig, dass manche Ulrich Kochs Dichtung als eine Dichtung der »entvölkerten Vorstadt« bezeichnen wollten, als würden im Cottbusser-Umland die Antidepressiva knapp.
Vielleicht könnte der eine oder andere Germanist, insofern ihn die kleinkarierte Rede von »Urbanität« noch nicht vollkommen blöd gemacht hat, dem Landschaftsbild in der deutschen Poesie zur Aufwertung verhelfen. Aber auch die Vedutenmalerei, wenn der Vergleich gestattet sei – im Sinne einer prinzipiellen Ortlosigkeit des Subjekts. Ich erinnere in diesem Zusammenhang an das wundervolle Langgedicht, in dem Kurt Drawert den Kosmos Odenwald auslotete, oder die Expeditionen eines José F. A. Olivers im Schwarzwald. Hier nun ein Gedicht mit dem Titel »Akropolis« von Ulrich Koch:
»Wochenende vorbei. Und wir blicken
in die Ebene, die sich abmüht
mit den Reflexen der Gewächshäuser
in der Abendsonne, Wasserkleckseneines fernen Planeten, Resten der schwarzen
Folien in den Feldbäumen, Maschen
der Zäune, Gesprächsfetzen, Dohlen,
den Kirchturm umkreisend; seine Spitzeinjiziert dem Himmel die Kühle
des Inneren und den Schatten des Altars
und das Knarren der Stühle, der
abgewetzten Bänke, Gesänge und alles,woran je wer geglaubt. Auf dem Kleeblatt
der Autobahn der letzten Ausflügler Glut:
stockend, gestaut, gelb blinkend, rot schwindend
kriechen sie nach Haus. Und wir,über der Ebene, die sich abmüht,
sitzen beim Griechen und kauen und
schauen auf die Stelen der Rohbauten
im neuen Gewerbegebiet.«
Ich führe dieses Gedicht nur an, weil es die Spiegelung von Landleben, Stadt- und Fernbild gegeneinander stellt, so dass sich die Ikonographien vermischen und überlagern; die Vorstadt wird überlagert von der Sehnsucht nach griechischen Speisen bzw. einem konsumierbaren Stück griechischer Kultur, gleichwohl lässt sich die Gleichgestaltigkeit gewisser Eindrücke nicht unterscheiden. Es ist nicht klar, ob Reflexe von der Akropolis solcherart herabscheinen oder von einer Terrasse im norddeutschen Hinterland.
Somit wird das komplexe Netzwerk, welches Wahrnehmungen zusammensetzt aus unmittelbarem Fühlen von Umwelt, Erinnerungen, auch Sehnsucht und Interpretation, auch zu einer mehrdimensionalen textuellen Oberfläche. Dieser Ansatz findet sich im Übrigen in vierzig Gedichten durchexerziert, »Elementares Gedicht No. 0-39«, ein gesamtes Panorama.
Die Simulation dieser Reverie, welche in Gestalt des Gedichts erzeugt wird, bricht die vermeintlich einförmige Erfahrung von Gegenwart auf, indem es andere Bestandteile dieser Gegenwart durchschimmern lässt.
Umgekehrt aber beinhaltet der Band auch Gedichte, die das lyrische Ich emphatisch verankern im Autoren-Ich als eine Art Garant oder Fokalpunkt für die heterogenen Behaupten, die das Gedicht in unterschiedlichen Versgruppen herstellt. Besonders das Gedicht »Schlusssätze (Oder: Zwischen Prärie und Wannsee)«. Das Gedicht füllt vier Seiten und ist eines der drei Langgedichte, die den Band abschließen.
Es wird eröffnet mit der Frage: »Was ist mein Vorlaß?« Im Klima der Erbschaft, aber auch im Hinblick auf eine Werkstotalität bzw. der Sorge ums Werk nun entfaltet sich ein Subjekt, das von sich behaupten wird: »Ich unterscheide mich wie Juli von Juni« oder »Kurz davor, die Vögel zu siezen«.
Die Pose ist eindeutig, das referenzielle Ich extrovertiert sich, entblößt sich in seiner existenziellen Nacktheit und wird so zur ausdrücklichen Figur des Gedichts, wird Wirklichkeit. Eine ähnliche Bewegung vollzieht das etwas kürzere titelgebende Gedicht: »Ich im Bus im Bauch des Wals«, so dass die biblische Folie des Propheten Jonas typologisch für die Erfahrung des Dichters in Anspruch genommen wird, wobei freilich auch hier z.B. die Ambiguität des Verschlucktseins im Fischbauch immerfort mitschwingt: Es ist nicht klar, ob der Bauch des Wals Schutz- und Zufluchtsbereich ist oder Ort der Prüfung, vielleicht auch der potenziellen Verwerfung.
Koch weist im »Schlusssätze«-Gedicht auf ein Moment der Befreiung, die durch eine harte Einsicht errungen wird: »Ich bin umgeben von mir. / Das Eingekreiste bin ich. Meine Hand, ein Holzrückenpferd, / zieht Streichhölzer aus / meiner Angst«. Selbstbezogenheit und handgreifliche Erinnerungstätigkeit, letztlich aus Angst, wovor auch immer, darin die Schranken dieser existenziellen Verfassung.
Man sieht rasch, es ist keine melancholische Dichtung vom Scheitern, sondern eine Suchbewegung aus dem Dickicht, aus einer bis ins Perverse hypertrophierten Bezugnahme auf durchschnittliches Lebensmaterial. Irgendwo in der wundervollen Serie »Elementares Gedicht« lassen sich die Konturen dieser Einsicht schon ablesen: »[…] Es wird von nun an // nur entscheidend sein, was wir von uns nicht wissen / können wollen, das Leise, Kleine, Keimende, / worauf wir schon so lange hoffen, angstvoll stolz / im Vollbesitz der Dinge, die wir niemals haben wollten // anstelle des Verzichts«.
Gerade die lange Serie »Elementares Gedicht«, wovon vierzig Stücke in diesem Gedichtband aufgenommen sind, zeigt, dass noch sehr viel zu erwarten ist aus der Feder Ulrich Kochs.
- 1. hierzu auch den biographischen Abschnitt in jenem Artikel: »Der Autor dieser Gedichte, die vor allem von Verlassenheit und melancholischer Entrückung im Alltag von Großstadt und Provinz handeln, hat sich seit Jahren den Ritualen des Literaturbetriebs konsequent entzogen. Ulrich Koch, 1966 in der Kleinstadt Winsen nahe Lüneburg geboren, will von den branchenüblichen Lebenswegen nichts wissen. Er führt nicht wie viele Dichterkollegen seiner Generation eine subventionierte Stipendiaten-Existenz, sondern arbeitet in Radenbeck östlich von Lüneburg als Geschäftsführer einer Zeitarbeitsfirma, die Fachpersonal für die Altenpflege vermittelt. Sein Debüt als Lyriker war in der Mitte der 1990er Jahre noch von einer Empfehlung Martin Walsers befördert worden, der auf den diskreten Existentialismus seines jungen Kollegen aufmerksam machte«.
- 2. hierzu im Übrigen ein Kommentar zu dem Gedicht »Danke« im ersten Band von »Der gelbe Akrobat« (poetenladen, 2011).
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