Gothic Noir fürs bebende Porzellan
Das dichterische Werk von Ludwig Steinherr ist weitläufig und labyrinthisch. In den nunmehr sechzehn Bänden des Barden aus München wird man überall mit Echos, Wiederaufnahmen, Verwandlungen, Spiegelungen und Fortschreibungen konfrontiert.
Ein ganzes verzweigtes Netz an Verbindungen durchzieht sein Oeuvre, keineswegs systematisch, vielleicht auch nicht einmal immer geplant. Ein unregelmäßiges Netz an Interferenzen ist seit dem ersten Buch ›Fluganweisung‹ (1985)1 entstanden, welches zu verfolgen und zu (re)konstruieren ein literarischer Genuss in sich ist.
So wird man im Werk Steinherrs immer wieder Italien als Urort, Kraftort und Wendepunkt erleben, aber auch U-Bahnen, Bibliotheken, Restaurants und das Varieté-Theater finden, worin Motive wie Licht, wie Spleen, wie Nacht, wie Geister, wie Skulpturen, wie Ameisen, wie Mannequins, wie Fotoapparate, wie Fliedergebüsch und Karnevalsmasken auftauchen, sich verwandeln und wieder schwinden.
In dieser Besprechung allerdings möchte ich naturgemäß nur auf den neuesten Gedichtband des 1962 geborenen Autors eingehen. Er trägt den Titel ›Nachtgeschichte für die Teetasse‹ (Allitera Verlag, München 2014). Ludwig Steinherr stammt aus einer, wie man wohl sagt, bajuwarischen Familie, die vor zwei Generationen bereits mit Alois Roth (1869-1930) künstlerische Neigungen verzeichnete, da dieser Steinherrsche Ahne unter Wilhelm von Lindenschmit d. J. an der Münchner Akademie der bildenden Künste Malerei studierte und diesen Beruf ausübte, wie Auktionskataloge zeigen.
Die Maler-Anekdote über den Dichter Steinherr, der die Schulfächer Latein und Mathematik mochte, und später mit einem Vergleich zwischen Hegel und Willard Quine in Philosophie promovierte, ist insofern interessant, als sie jener verspielten Klarheit, die diesem Werk zu Grunde liegt, einen Resonanzraum gibt.
Es sei vorweg gesagt, Ludwig Steinherr ist kein politischer Dichter; seine Dichtung scheint auch wenig von jenem propagandistischen oder missionarischen Eifer beseelt zu sein, der so viele Dichter der Gegenwart ruiniert.
Ludwig Steinherrs Dichtungen wirken häufig wie Kabinettstücke, wie sorgsam gesammelte Raritäten und gesuchte Kuriositäten, die in Vitrinen und Magazinen geborgen sind: »Eine Handvoll Schneidezähne / ausgespuckt in einem Albtraum - // Stepptanzschuhe für Flöhe - // Ein Paar schnäbelnder Kosmonauten - // Die zierlichen Marterwerkzeuge / der Heiligen Insomnia // […] Prousts Taschenrevolver« (Steinherr: Bleigießen).
Es geht um Wahrnehmungsverläufe, die ein bisschen entrückt zu sein scheinen, die im Bewusstsein zu Metamorphosen führen, so dass die verlässliche Kohärenz der Wirklichkeit augenblicklich im Raum eines Gedichtes aufgehoben, minimal verrückt, zu sein scheint. Vielleicht sollte man diese Eidetik ›Sottorealismus‹ nennen.
Ich will vier Schneisen schlagen in Steinherrs ›Nachtgeschichte für die Teetasse‹. Dabei beanspruche ich allenfalls, dass ich diese Leserichtungen willkürlich und ohne systematischen Anspruch wähle: 1) die Assoziationsketten, wie sich ein Gedicht bewegt; 2) Malerei als Element und Strukturprinzip in einem Gedicht; 3) Klangkulissen ohne Absicht; 4) Noir, Nostalgie und Novitäten.
Seltsam übrigens ist es schon. Immer wieder kann man darüber staunen, dass von Steinherr - einem Dichter mit einem solch umfangreichen, stolzen Oeuvre - so gut wie keine Äußerungen zur Poetik existieren. Ludwig Steinherr, obschon Philosoph, scheint kein Interesse daran zu haben, seine poetologischen Überzeugungen, seine Überlegungen zur Dichtung oder zum Stand der Poesie essayistisch oder sonstwie prosaische auszuformulieren. Was wir finden, ist ein reines Werk, das nur, das ausschließlich und ausdrücklich Werk schlechthin ist.
Assoziationsketten, die Regungen und Windungen einer Versansammlung
Das titelgebende Gedicht ›Nachtgeschichte‹ ist ein Chamäleon. Es ist von kompositorischen Strategien durchzogen, die man häufig antrifft im Steinherrschen-Gedichtkosmos. Es besteht im Wesentlichen in der Nennung eines Faktums sowie dem Hervorplätschern von Vorstellungen, die sich Versglied für Versglied aus der Assoziationsaura der sukzessiv hervorspringenden Folgebehauptungen ergeben. Es ist mehr hangeln als fließen. Wie wenn man von Stein zu Stein hüpft, um einen Bach zu überqueren. Man könnte allerdings auch von einer abgründigen Verzauberung sprechen.
»Als zu Beginn der Somme-Schlacht
die großen Minen explodieren
bebte ganz Europa –Vom Knall klirrte noch in London das Porzellan –
Das erzähle ich meiner Teetasse
während ich sie ausspüle
und zärtlich trockenreibe –Ich halte sie gegens Licht wie ein rohes Ei –
Durch den Tassenboden schimmert
ein angebrütetes Gesicht – eine Geisha –Was ist das in ihrem Buddha-Lächeln –
ein Äderchen? Ein haarfeiner Sprung in der Schale?Der übrigens fortläuft
über den Rand der Tassedie Wand hoch und
quer über die Zimmerdeckehinaus in die Dunkelheit
wer weiß wohin –«
Zunächst wird die Szene einer Schlacht an der Westfront (1. Juli 1916) im ersten Weltkrieg behauptet. Es folgen als Assoziationen Explosion—Beben—Europa. Daraufhin zunächst einen Gedankenstrich,2 eine Zäsur auf mehreren Ebenen.
Plötzlich aber dann Kulissenwechsel nach London, wobei die Assoziationen Beben und Explosion fortwirken und sich nun mit der Vorstellung von durch Erschütterung klirrenden Porzellanware verbinden. Wieder eine Zäsur.
Was sich nun anknüpft, ist interessant, weil es den Modus des Sprechens verschiebt. Standen die ersten vier Verse im Ton des Berichts aus unspezifischer Quelle, so begegnen wir nun einem lyrischen Ich, welches sich plötzlich das bereits Ausgesprochene im Modus der Erzählung (»Das erzähle ich meiner Teetasse«) aneignet.
Das Gedicht hat also nun zwei Zeitebenen sowie zwei Qualitäten des Sprechens, nämlich einen scheinbar subjektlosen Bericht von einem vergangenen, offenkundig unwahrscheinlichen Ereignis (dass Porzellan in London klirrt, wenn an der Somme der Krieg tobt) und die gegenwartsbezogene Rede des lyrischen Ichs, welche nun das Gedicht übernimmt.
»Das erzähle ich meiner Teetasse« ist aber nicht an die Teetasse selbst adressiert, sondern an den Rezipienten des Gedichts.
Es kommt nun eine neue Assoziationsreihe: Teetasse—rohes Ei—Geisha—Lächeln—Sprung. Die Teetasse wird als fernöstliche Porzellanware greifbar, so dass wir mit dem Krieg auch die kolonialen Verstrickungen Europas schauen. Aber die Teetasse ist mehr, denn sie ist wie ein »rohes Ei« und wohl auch Adressatin einer Vergangenheitserzählung des lyrischen Ichs.
Als nächstes zoomt das Gedicht nah ran: Die Marke der Porzellantasse bildet das Gesicht einer Geisha, darin das lyrische Ich ein Lächeln zu erkennen meint, ein Buddha-Lächeln. Es folgen nun zwei rhetorische Manöver: Inkremente Sprachweise und Digression.
»Was ist das in ihrem Buddha-Lächeln— / ein Äderchen? Ein haarfeiner Sprung in der Schale?« Was sieht das lyrische Ich? Eingefaltet in sich in Inkrementen steigernden rhetorischen Fragen verwandelt sich die Geisha in ein Buddha-Lächeln, dieses wird zu einem Äderchen, welches endlich als Sprung in der Teetasse angesprochen wird. Incrementum.
Nun aber eine neue Sprechweise, eine des Abschweifens, der Degression: »Der übrigens fortläuft / über den Rand der Tasse«. Wo doch zunächst eine zunehmende Präzision bemüht wird, wird nun der Modus des Gedichts zum beiläufigen Nachklapp.
Und dies ist umso erstaunlicher, als der haarfeine Riss nun den Rand der Tasse überschreitet, den gesamten Raum durchzieht, um schließlich sogar, Schwarz auf Schwarz, die Dunkelheit mit einem Riss fein zu durchziehen.
Was bleibt ist der flüchtige Eindruck einer Katastrophe, die aber anstatt im Bild totaler Annihilation zu harren, auf unmerkliche haarfeine Risse verweist, die im Präsenz des lyrischen Sprechens registrierbar bleiben, auch das Gedicht in seinem Bildarsenal weiterhin bestimmen.
Masken der Wirklichkeit. Ein aus einem Komplex an Einflüssen bestehendes Erfahrungsareal wird also durch eine solche sprachliche Bewegung umzeichnet und somit ansteuerbar. Nicht selten sind die Gedichte Steinherrs eine Art Kartographie des Phantastischen: »Träumende Prachtfassaden / und ein Straßenstrich lieblicher Pappeln / während in Hinterhöfen und Kellern / jetzt wer weiß was geschieht— // Kleide Mädchen in schwarzen Schürzen / füttern irrsinnige Nähmaschinen mit Stofffetzen – / wenn sie nicht schnell genug sind / fressen die Monster ihre Finger – // Hühnern wird der Kopf abgehackt / und ihre Schatten flattern noch tagelang stumm mit den Flügeln – / Aber ich sehe nur den melancholischen Rauch / der aus unbekannten Öfen über den Fluss weht – / Durch einen gotischen Bogen erspäh ich für Sekundenbruchteile / einen blutüberströmten Körper / der an einem Kreuz festgenagelt schnauft – // Rasch drückt eine unsichtbare Hand das Tor vor mir zu – // Ein bronzener Fischkopf / starrt mich an« (Steinherr: Sightseeing).
Das Thema ist leicht zusammenzufassen: Es geht um den Widerspruch zwischen sozialer Realität und dem Touristen gezeigter Realität: um Zwangsarbeit von Kindern und Strategien der Verheimlichung von realen Zuständen gegenüber Besuchern.
Der Ton des lyrischen Ichs ist unaufgeregt; es wird scheinbar nur eine Kette an unmittelbaren Beobachtungen festgehalten. Gleichwohl sind Nähmaschinen zu gefräßigen Lebewesen modifiziert, es sind Monster anwesend, die eine Art überwachende Kontrolle ausüben, woanders ist ein Schlachthof da, darin nicht nur essbares Getier geschlachtet wird, sondern ihre Schatten wie Seelen weiter umherflattern.
Das lyrische Ich merkt »aber« selbst schon, dass sein Interesse größer ist als in melancholisch-romantischer Manier dem »Rauch « nachzusinnen, der pittoresk über einen Fluss hinzieht, aus »unbekannten« Orten der Verbrennung.
Ein komplexe Stimmung wird erzeugt, die nicht reines Gefühl ist: Die intellektuellen, kritischen Impulse werden ebenso integriert wie Subjektivität, aber diese Elemente werden durch eine phantastische Verschiebung der verlässlichen Koordinaten von Weltbezügen, zum Denkbild zusammengezogen.
Nachhall der schwarzen Romantik. Es ist alles nachvollziehbar, aber es ist auch immer ein bisschen strange. Den Duktus des Märchenhaften, des Folklorischen, auch Mythischen nehmen diese Gedichte häufig auf: »Von meinen siebenundneunzig früheren Leben / weiß ich nur noch zwei: // Ich war Kiesel in einem Flussbett / dicht am Polarkreis […] // Dann hatte ich eine Eisenwarenhandlung / in einem Vorort von Birmingham— […] // Dem Kiesel der ich nicht mehr bin / rinnen Tränen übers Gesicht« (Steinherr: Licht). Eine übernatürliche Macht ist hier im Spiel, dunkel, rätselhaft. Man gewinnt den Eindruck, man sei inmitten eines Gothic Novels der schwarzen Romantik.
Anderswo heißt es beispielsweise: »In meiner Kindheit / kamen noch Krenweiberl an die Tür— / Bunte Babuschkas mit siebenfachen Röcken / halbfreundliche Hexen / die auf dem Rücken gewaltige Gewürzregale schleppten— / Aus den Zauberbüchsen strömte ein wilder Geruch / wie aus ihren hochgesteckten Zöpfen— / In den Hinterhöfen gab es noch / geheimnisvolle Werkstätten und Labors / von Alchemisten— / Einbeinige Fabelwesen in Lederschürzen / feilten an Pfeifen für Gewittermaschinen / und stierten mich plötzlich an / mit riesigem Lupenauge— / Manchmal besuchten wir die Schneiderin / Ihre große Schere schnappte zu / wie ein Fallbeil / Die Kleiderpuppe hatte Schreckliches gesehen— / Aber die Schneiderin stach Nadeln / in ihren schwarzen Leib / damit sie den Mund hielt« (Steinherr: Time Tunnel).
Unmerklich verschiebt sich die Anekdote aus einer biographisch nachvollziehbaren Vergangenheit in eine entrückte, entlegene Vergangenheit des Mittelalters oder einem Zeichentrickfilm von Walt Disney.
Malerei im Gedicht
Der Bezug auf Erzeugnisse der bildenden Kunst oder der Musik ins sprachliche Feld der Poesie ist freilich verbreitet wie unzählige Filmzitate, Rilkes ›Archaïscher Torso Apollos‹, Keats ›Ode on a Grecian Urn‹, Gerhard Falkners ›Pergamon Poems‹, Frank O'Haras Anspielungen auf musikalische Kompositionen oder Dirk von Petersdorffs Emulation von konventionellen Chanson-Strukturen deutlich machen.
Während solche kunstprunkende »Bezüge« gerade in der Dichtung sehr schnell in beflissene Wichtigtuerei abgleiten können, gelingt es Ludwig Steinherr hier stets ein rechtes Maß zu finden. Niemals hat man das Gefühl, dass Jan Vermeer, Antonio Pisanello, Jan van Eyck, Caravaggio, Gian Battista Tiepolos Deckenfresko im Palazzo Canossa zu Verona oder sonst wer etwas zu unbeholfen herangezogen wird.
Allenfalls die Epochenwahl mag etwas geschmäcklerisch wirken, eine gewisse Vorliebe für Alte Meister, für den westeuropäischen Raum. Nie also sind bei Ludwig Steinherr diese Einmischungen der anderen Künste Ornamentik fürs Gedicht oder Schmeichelei für den gebildeten Leser. Vielmehr führen die Dialoge, die sonderbaren Begebnisse zwischen lyrischem Subjekt und diesen Kunstwerken zu einer Veränderung des im Gedicht sich entspinnenden Bewusstseins:
»Nur ein einziger Blick / in der dämmernden Galerie / bevor der Wärter das Schattengitter / vor meiner Nase schloss – // Ihr Marmorzwinkern hinter dem Marmorschleier— / meine Phantasie? // Ich weiß bloß: seither stellt sie mir nach— // Ihre Anrufe lang nach Mitternacht / wenn nicht einmal ein Hauch zu hören ist— // Das Knarzen der Stiege im Hausgang— // Einmal in der Dämmerung, ich schwörs! / drängte sie neben mir aus dem Bus— // Manchmal im Halbschlaf / beugt sie sich über mich— / mein Herz flackert wie der Schleier vor ihren Lippen / bei jede Atemzug— // Sie schreckt vor nichts zurück— // Zwischen den Zähnen versteckt sie einen Blitz— // Aber selbst durch geschlossene Lider seh ich / die Mondsicher –Narben an ihren Pulsadern // und dass sie an den unsichtbare / Fingernägeln kaut« (Steinherr: Corradinis Verschleierte Frau).
Ach, all diese arglosen Fräuleins, denkt man plötzlich, diese Rokokomamsells mit dem bösen Blick, welcher leider verschleiert ist, was sie aber nicht weniger begierig macht. Die typische Bewegtheit solcher Figuren wird in Widerspruch zur Rigidität des Marmors gebracht, was daraus resultiert ist die Metapher eines Frauentypus, den man, wenn mich nicht alles täuscht, liebkosend als Vamp bezeichnet.
Inszeniert wird nun eine Verfolgung, bei der man aber nicht recht entscheiden mag, wer oder was eigentlich wen verfolgt, ist es das Abbild, eine pygamlionartige Situation, eine heimsuchende Versuchung oder schlicht eine Nymphomanin aus Fleisch und Blut? Auslöser ist allenfalls eine Begegnung ästhetischer (synästhetischer?) Art und »seither stellt sie mir nach«.
Typisch im Übrigen hier ist eine Versstruktur, die Cluster bildet von unterschiedlichen Verslängen sowie unterschiedlichen Umfang an Versgruppen (hier: Einzeiler bis Vierzeiler) zusammenführt.
Ähnlich wird auch das antiquierte religiöse Frauenbild der christlichen Heiligen parodiert, welches vielleicht nur von Samuel Richardsons Roman ›Pamela‹ (1740) übertroffen wird. So wird sowohl Gedicht als auch Bildnis zusammengenommen kritisch in Position gebracht, gegen präskriptive und entmündigende Inszenierungen von Weiblichkeit.
Zunächst scherzt der Dichter über »blasse Schulmädchengesicht«, welches Jan van Eyck der Märtyrerin verpasst hat, nur dann um in drei emphatischen Exklamationen die gesamte Hohlheit einer zur Schau getragenen Jungfräulichkeit darzustellen: »Gieß dein Höllenfeuer über mich aus, Satan! / Reiß mir die Haut mit glühenden Zangen vom Leib! / Brat meine Augen und Brüste auf dem Rost!«
Häufig aber bezieht Steinherr kompositorische Elemente eines Gemäldes mit ein in die Struktur des Gedichts: etwa Spiegelungen oder Inversionen oder gewisse Figurenarrangements—aus zwei dargestellten Figuren wird plötzlich ein Zwiegespräch, aus einer einsam dargestellten Odaliske ein in sich gekehrter Monolog, aus dem Sujet der Enthauptung des Holofernes presst Steinherr einen kühlen berechnenden Ton Judiths.
Es ist im Übrigen interessant, dass es sich hier meist um dramatisch angelegte Szenen handelt, daraus der Maler ein spezifisches Moment wählt, die Ludwig Steinherr in ein ebenfalls nicht immer wegen der Narrativität gefeiertes Kurzpoem transportiert. Es ist indes spannend, zu beobachten, wie wenig sich das Bild als auch das (Kurz)Poem gegen die dramatische Sogkraft bestimmter Sujets wehren kann.
Es ist aber, wie im oben zitierten Gedicht-Abschnitt, charakteristisch, dass Steinherr die erhabene Materie mit dem Straßenlärm des Alltäglichen koppelt, um auch die gestrigste Szene in neues Licht zu tauchen, um das Gedicht wie ein Monogramm, wie eine aus unzähligen Zügen gesogene Kalligraphie vorzulegen.
Und springen diese Gedichte nicht hervor aus einem täglichen Umherirren, einem Umherwandern unter Leibern und Dingen, einer unwillkürliche Flut an Wahrnehmungen, Empfindungen und Gedanken, die von diesen Leibern und Dingen ausgelöst werden, tagein, tagaus, die unaufhaltsam immerfort all unsere Erinnerungen wachrufen von vergangenen oder vorgestellten Leibern und Dingen—und ist diese kontinuierliche Wucht, diese Minute um Minute sich mehrende Menge an Lebendigkeit nicht verblüffend sprachlos, numinos und trotz ihrer Konturen, ihrer Plastizität unbegreifbar?
Und ruft nicht all dies in uns die ursprünglichste Neigung wach, den Auftrag des sechsten Tages immer wieder neu zu erfüllen und den Leibern und Dingen Namen zu geben? Sagen wir nicht oft, trotz all unserer Worte, trotz der Weite des Lexikons und des Umfangs unserer Reden, dass wir es nicht ganz treffen, es schwer zu sagen sie, wir es sehen aber nicht zu fassen bekommen, was immer es auch sei.
Und wird nicht jedes Gedicht letztlich ein Emblem für die unzähligen Fragmente unseres Weltzusammenhangs, ein Zeichen unserer natürlichen und übernatürlichen Verwobenheit in einer gemachten Welt? Hat es nicht von dorther seine unmittelbare Evidenz, auch seine Schönheit?
Klangkulissen
Ich fasse mich hier kurz. Steinherr scheint sich niemals um Regelmetrik geschert zu haben. In den letzten sieben oder acht Gedichtbänden finden wir durchweg vers libre. Eine Metrifikation jedoch wäre noch keine Garantie für eine kunstvolle Tonlage, wie es sich an den arthritischen Verbiegungen in Dirk von Petersdorffs ›Sirenenpop‹ leicht zeigen lässt. Auch die Varianten der konventionellen Reimbildung sichern keine Musikalität.
Nur selten aber gelingt, um fair zu bleiben, freirhythmischen Kompositionen auch eine klangliche Virtuosität, wie sie etwa unschlagbar in Nico Bleutges oder Ilma Rakusas Langgedichten zu bestaunen ist.
Auch bei Ludwig Steinherr finden sich akustisch ansprechende Passagen. Hier ein Beispiel: »Verschnaufen / einen Augenblick / mit schweißnassem Schädel / pfeifenden Blasebalglungen— // während die jungen Satyrn / weiterspringen / von Vase zu Vase / von Nymphe zu Nymphe […]«.
Die ersten beiden Verse sind durch vier Jamben weich gestimmt, zudem fokussiert die Wiederholung des Diphthongs in den wichtigsten Wortstämmen die Zeilen: Schnaufen—Augen. Der dritte Vers beschleunigt das Tempo mit einer alliterativen Häufung an Sibilanten, die durch die Plosivstruktur im vierten Vers unumwunden retardiert wird: besonders schön ist übrigens auch, dass das sperrige Wortmonster »Blasebalglungen« sich klanglich produktiv einfügt, insofern man den Daktylus im Adjektiv »pfeifenden« auf das Hauptwort mitüberträgt.
Eine natürliche Zäsur durch den Gedankenstrich sowie einer Leerzeile lässt auch den natürlichen Reim aus »-lungen« und »jungen« klingen anstatt ihn in den Bezirk eines Kalauers zu rücken. Die Sequenz schließt dann in einem Art Allegro, da über das Verb »weiterspringen« eine Parallelisierung in zwei Versen geschieht, die auf der Versebene schon jeweils durch Wideraufnahmen organisiert ist und sehr viel Tempo bringt.
Nostalgie—Noir—Novität
Eine Fragestellung, die sich klassischerweise am Werk Ludwig Steinherrs, wie bei vielen anderen europäischen Autoren der Gegenwart, entwickeln lässt, ist der Status von verbürgten Beständen, Topoi, Mentalitäten, Perspektiven etc. Es geht hier keineswegs um die Frage, ob wir wie auch immer empfundenes Kerngut abendländischer Kultur in eine globalisierte Psyche einbringen wollen oder können; vielmehr geht es darum, ob die unweigerlich empfundene Antiquiertheit z.B. einer Bildwelt der Renaissance oder italienischer Szenen ohne Patina das Gedicht der Gegenwart ruiniert oder fördert.
Zum Beispiel so:»Mein Großvater verbarg sich in dieser Stadt / wie in einer sanften Achselhöhle— / Damals – als ganz Europa / nach Starkstrom und verschmorten Wimpern roch – / Ich sehe ihn durch die Gassen flanieren / schwerleibig wie ein Tragöde der Jahrhundertwende / mit Operettenschal und Brasil-Zigarre schmauchend / in selbstmörderischen Lungenzügen— / Vielleicht besucht er Pisanellos Madonna / die sich für ihn als traurige Greta Garbo schminkt? « (Steinherr: Verona, Dreißigerjahre)
Bemerkenswert scheint mir, die Großvatererfahrung gepaart mit einer italienischen Szene. So sehr der Großvater auf der Flucht vor den Nationalsozialisten ist, so sehr werden die Insignien der alten Welt – und sei es auch nur des 19. Jahrhunderts — hochgehalten gegen eine aufziehende Barbarei und Inhumanität.
Mehr noch, die zunächst nostalgisch gestimmte Einführung der Szene wird schnell bewusst mit Genrebildern überzogen, und die christliche Jungfrau wird überführt in eine goldene Zeit Hollywoods, eine Noir-Welt, die in sich wie Kalifornien mit Firnisüberzug wirkt. Es scheint also, dass das lyrische Ich in seinem anamnetischen Modus weder Italien noch Hollywood frei von Nostalgie anzuschauen vermag.
Es schleicht sich aber dann ein: »Danach im Dunkel noch lang bei schwärzestem Espresso— / O rosenfingrige Eos! Vorbei – vorbei – «. Das vielleicht häufigste homerische Epitheton (ῥοδο-δάκτυλος Ἠώς) leitet nun ein flüchtiges Lamento ein, welches den Espresso der 1930-Jahre und der lyrischen Stimme des (fiktiven) Enkels sich kurz berühren lässt.
Was nun folgt ist eine Sequenz, darin die nostalgische Erinnerung ihre Abgründigkeit offenlegt, da sie nur idyllisch wirken kann, wenn sie Teil der Erinnerung unterdrückt, nämlich »Dann fächert er das utopische Trinkgeld aufs Silbertablett / mit feierlichen Lächeln— / auch wenn die Banknoten so sterbensmüde sind / und so schwer von Nachtluft / wie blutgetränkte Fahnen« (Steinherr: Verona, Dreißigerjahre).
Diese Noir-Stimmung findet sich an zahlreichen Stellen des Bandes: »Scharen von Toten mit Hüten und Kneifern / hasten über den Bahnsteig— / Ganz Paris ist noch schwarzweiß / und duftet nach Lindenblüten und Zelluloid / Pfiff! Das Signal klappt auf Krieg— / Da ist sie! Groß wie Pallas Athene! / Im Speisewagenfenster! / Ein gigantischer weißer Fleck! / Ein gezupfter Augenbrauenhalbmond— / Das ist alles! / Trotzdem brech ich mir fast das Genick / um noch auf den Zug zu springen / der jetzt losrollt // — o zärtliches Surren des Projektors!— // leuchtende Fenster rasend in die endlose Nacht« (Steinherr: Die große Schaufensterpuppe).
Oder etwas schauerlicher: »Die Toten drängen sich in unsern Träumen / wie Emigranten auf einem Schiffskai der 30er Jahre— // Zeppelinpiloten und Massenmörder / Hellseherinnen und Stenotypistinnen— / ein heilloser Haufen« (Steinherr: Seelenverkäufer).
Bei der Häufung und Bauweise dieser Ideogramme des Untergegangenen, des Abgestreiften, auch des Unterdrückten, Verlorenen, Verdammten und Verbannten lässt sich der Modus kaum noch als nostalgisch qualifizieren. Zumal die Szenen häufig ins Groteske oder Phantastische verkehrt sind; stets aber bleiben sie im Noir, was für Steinherr eine abgeschlossene Perspektive ist, eine Schwarzweißwelt, die überwunden ist.
Diesen episch angehauchten Erinnerungsstücke gegenüber stehen nun die bunten Mikrokosmoi einer immer bizarreren Urbanität, darin alles präsent ist, aber seltsam fragmentiert und aus Fragmenten zum Mosaik geworden: »Solange Menschen Tiere fressen / fressen Götter Menschen— / das ist ein kosmisches Naturgesetz! / sagt der Rauschgoldengel im Leder-Mini / zu seinem Freund / bevor sie gemeinsam / aus der U-Bahn steigen— // Auf dem Boden weht eine Flaumfeder / blutgesprenkelt— // Dabei ist dieser Morgen so makellos— // Ein buddhistischer Mönch / kommt mir im Neuschnee entgegen / unterm Arm eine Rokoko-Schäferin / aus Porzellan— // Sie ist die einzige Überlebende / eines Bombenangriffs— // Wer würde das denken / bei diesem weißen Stupsnäschen / und bei den tausend Unterröcken / die sie so kokett vor mir aufblättert / wie ein Mandala für Schneebilde« (Steinherr: Weiß auf Weiß).
Hier ist zerplatztes Porzellan nicht das Ende von Zivilisation und jämmerliches Klagen; vielmehr ist eine Rokoko-Schäferin aus Porzellan unterm Arm des Buddhisten ein Denkmal innerhalb einer Welt, die von Heterogenität und Pluralität geprägt ist. Es ist eine poetische Sicht, wie man sie beispielsweise von Derek Walcott kennt. Eine Perspektive, die sich vor immer neuen Zusammensetzungen des Alten nicht fürchtet, da es immer unter Bedingungen des Neuen, des Jetzigen, des Gewärtigen geschieht, nicht aber im Sinne der Restauration des Alten.
- 1. ›Fluganweisung‹ (1985) erschien übrigens in einer von Heinz Pinotek (1925-2003) herausgegebenen Reihe namens ›Münchener Edition‹.
- 2. Hierzu übrigens die lesenswerte Rezension von Thorsten Schulte
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