Wohin werden all unsere Gedächtnisse geschüttet
Wonach suchst du?
Setz dich her,
sagt meine Mutter.
Drei kurze Zeilen, und sie enthalten schon fast das ganze Buch. Eigentlich sogar das ganze Werk: Ihre »Hauptbewegung«, sagte Angela Krauß neulich im Radio, sei das Suchen: Wer bin ich? Warum existiere ich? Wie bin ich hierher geraten, was habe ich hier zu tun? Man findet diese Fragen in den mittlerweile mehr als 15 Büchern von Angela Krauß, angefangen bei »Das Vergnügen« von 1984 und mutmaßlich nicht endend bei dem gerade erschienenen Bändchen »Eine Wiege«.
Gedichte. Die drei oben zitierten Zeilen sind die einzigen, die sich auf Seite 39 finden. Aber keine Einzeltexte, keine voneinander getrennten Gedichte. Angela Krauß nennt ihr Buch »eine Rede in Versen«. Die Verse und Strophen bauen aufeinander auf, ergeben einen Fluß – also wieder eine Bewegung.
Und außer den Versen enthält das Buch Fotografien. Es sind Aufnahmen, die vornehmlich Angela Krauß‘ Vater gemacht hat. Bilder von der kleinen Angela mit ihrem Holzroller. Bilder von der Mutter. Kinder von hinten im Feld. Blüten. Dann der Vater selbst mit drauf, mit dem kleinen Mädchen im Schnee.
Aber fast immer das Kind. Das Kind beim Spielen. Das Kind beim Betrachten von etwas. Das Kind gedankenverloren.
»Gedankenverloren« ist ein guter Begriff für dieses Buch. Man kann sich darin verlieren. Wie die Autorin es offenbar auch selbst tun will: Es gehe ihr um »die einzig ersehnte Konsequenz des Dichtens: daß meine Person in ihrer poetischen Gestalt restlos auf-, also untergeht«. Und sie weist darauf hin, daß das »Ich« in dem Buch zwar sie sei. » Aber das ist nicht von Belang. «
Und doch. Immer wieder scheint das Persönliche durch, das liebevolle Aufgefangensein in der Vater-Mutter-Kind-Familie. Die ganze Familiengeschichte: Die Mutter als junge Frau, ihr Lebensweg, die Mutter als alte Frau. Und auch die Düsternis, die ebenso wie die Geborgenheit in allem steckt: Der Vater, erst Polizist, später Offizier, nahm sich das Leben, hat sich erschossen; da war Angela Krauß kein Kind mehr, aber der Tod hinterläßt bekanntlich auch in die Zeit vor seinen Eintreten schon Spuren.
Mein Vater ist jung,
jünger als ich, unsterblich.
Bei all dem ist die Sprache sachlich, fast nüchtern zu nennen, wasserklar und bar jeder lyrischen Schnörkel. Man muß all das, was die Autorin da an Fragen thematisiert, nicht verbrämen.
Angela Krauß bleibt – natürlich, möchte man bei dieser Autorin sagen – nicht beim Persönlichen stehen. Sie weiß: Wenn wir uns erinnern, ist da jeweils mehr als das, was wir erinnern. Die orientierungslose, gewalttätige, verwahrloste Welt. Wo fallen all die Bilder aus der Tagesschau jeden Abend hin, fragt Angela Krauß. Und sagt: Sie fallen in dasselbe Urfeld der Seele, in dem das Ensemble Vater-Mutter-Kind steckt.
Wohin versinkt unaufhörlich,
was wir erleben?
Die groben Partikel
fängt das Netz des Gedächtnisses.
Welches Gedächtnisses?
Und wohin
werden all unsere Gedächtnisse geschüttet
zu guter Letzt,
wer ordnet sie in was ein?
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