Kritik

Der Roman im Zeitalter der Affirmation

Besprechung der Originalausgabe, erschienen 2014 bei Knopf Publishing
Hamburg

Der Umbruch hat stattgefunden. Beinahe ohne dass wir es gemerkt hätten, vielleicht, hat sich unsere Gesinnung gewandelt. Die „deutsche Leitkultur“ ist ein intellektuell vertretbarer Begriff geworden, und angesichts von Dürrenmatts Nörgeleien an der Schweiz rümpft der Gymnasiast nur noch verärgert die Nase. Die BRD hat sich einmal aus der Selbstkritik definiert, von der intellektuellen Schweiz, soweit existent, gar nicht zu reden. Nun ist diese Definition bald aufgegeben, respektabler ist, sich zu einem positiven Bild der Nation zu bekennen. Vorbei sind die Zeiten von Relativismus und Skeptizismus. Der deutsche Schlager ist famos. Ich bin Schweizer. Hier ist mein Wappen, hier ist meine Wurst. Wir befinden uns im Zeitalter der Affirmation.

Im literarischen Betrieb wird die Affirmation seit längerem akut gefordert. Spätestens seit der letzten Blüte und Nachblüte der Postpostmoderne in den Neunzigern hat sich ein Verlangen nach Zielstrebigkeit im Stil und gesellschaftspolitischer Relevanz im Inhalt verbreitet, und handkehrum wird das sprachliche Experiment und der sich in seiner Aussagefähigkeit sorgsam selbst unterlaufende Text weniger geschätzt als in den Jahrzehnten zuvor. Es ist wenig überraschend, dass sich die Affirmation schlecht mit der beherrschenden Literatur des 20. Jahrhunderts verträgt. Eine Literatur, die sich aus Selbstzweifeln nährt und weder den eigenen Mitteln traut noch sich überhaupt einer Aufgabe sicher ist, wird nicht dazu neigen, zielstrebig ein gesellschaftspolitisches Problem darzustellen und wenn möglich auch noch gleich einen Lösungsvorschlag dafür zu liefern, wie eine consulting firm der kriselnden Brausetablettenindustrie.

Für einen Autor affirmativer Literatur muss sich sehr vieles schon geklärt haben. Er muss davon ausgehen, dass es Dinge gibt, die klar zu benennen sind und nicht etwa „in Zwischenräumen auszuloten“ usw., und dass ihm die Sprache, mehr oder weniger so wie er sie vorgefunden hat, die Mittel zur klaren Benennung dieser Dinge in die Hand gibt. Er ist ein Autor, der die Zweifel und Experimente hinter sich hat. Dass ein süffiger Plot anstrebenswert ist, ist ihm evident, und wozu der Firlefanz der lyrisierenden Sprachfindung dienen soll, will er nicht begreifen. Das Gedöns schließlich ich-zentrierter Erzähler, die sich mit jedem Schritt im Text wehklagend ans Bein greifen (ach, die Schwierigkeit der Form! ach der Form! so kann ich das doch nicht sagen, das ist doch so schon gesagt, nein ich kann nichts sagen, man kann doch überhaupt gar nichts mehr sagen!), widern ihn in seinem Gemüt als Macher an. Ein schönes Exemplar dieser Art ist Dave Eggers, und da er zugleich ein so offensichtlich schlechter Schriftsteller ist, ist die Gelegenheit günstig, anhand einer Beleuchtung Eggers’ auch gleich etwas tiefer in den rosa Rachen der affirmativen Literatur zu stechen.

Idealtypisch für den affirmativen Roman steht Dave Eggers’ The Circle (2013), zu Deutsch, naja, halb-deutsch Der Circle (2014). The Circle ist im Wesentlichen eine Adaption von 1984 für Menschen mit Internetanschluss, und die Affirmation wütet auf allen Ebenen. Sprachlich orientiert sich Eggers an den anspruchsvollen Wochenendbeilagen von Lifestylemagazinen. Die Sätze sind so gebaut, dass man sie höchstens einmal lesen muss und häufig überhaupt nicht, da schon im Zug der ersten Zeile einer Passage hinreichend geklärt ist, in welchen Sessel sich Großvater nun wieder bequemen wird und welche Knochen dabei in welcher Abfolge zu knacken haben. Damit ist die perfekte Symbiose von Inhalt und Form auch schon etabliert, denn natürlich reicht es für die Lesbarkeit eines Satzes nicht aus, ihn herkömmlich zu schreiben, vielmehr muss der Gedanke, den der Satz ausdrückt, ebenso herkömmlich sein, ansonsten bestünde die Gefahr, dass der Leser den Satz trotz seiner formalen Einfalt doch noch einmal lesen könnte. Das Vertrauen in die Eindeutigkeit der Sprache wird so vom Vertrauen in die Simplizität der Gedanken begleitet. Nun lassen sich sozialpolitische Inhalte schwunghaft verhandeln und Aussagen unmissverständlich formulieren. Die These in The Circle lautet: Google überwacht uns alle und nimmt uns unsere Menschlichkeit. Dieser raffinierte Gedanke wird dann auf das Vehikel der nicht minder raffinierten Sprache gesetzt und voilà, ein affirmativer Roman. Hier ist mein Satz, hier ist meine Aussage. Call me Dave.

Eggers’ neuester Roman, Your Fathers, Where Are They? And The Prophets, Do They Live Forever? (2014), zu Deutsch Eure Väter, wo sind sie? Und die Propheten, leben sie ewig?, ist oberflächlich begutachtet auf andere Weise affirmativ als The Circle, ganz oberflächlich betrachtet zunächst nicht einmal als rundum affirmativ zu erkennen, aber im Grunde ist er eine Spielart desselben Typs. Der Roman ist in Dialogform angefertigt, und seine Hauptfigur ist ein rundum erfolgloser Mann Mitte Dreißig, der der Reihe nach diverse Leute entführt, einen Astronauten, einen ehemaligen Senatoren, seine Mutter, usw., um sie in einer stillgelegten Militäranlage angekettet zu verhören. Im Wesentlichen versammelt er die Autoritätsfiguren, die er für den Erfolg und Misserfolg der Gesellschaft und seines eigenen Lebens verantwortlich macht, und kritisiert sie im Wechsel zwischen Fragestellung und Anschuldigung. In den Gesprächen werden die klassischen sozialpolitischen Probleme der USA angeschnitten, die Perspektivlosigkeit, die Korruption, die Polizeigewalt.

Nun fällt, wie gesagt, der affirmative Gestus des Romans nicht sogleich auf. Vielmehr wird das ganze doch dialektisch aufgehübscht. Die Hauptfigur, zum Beispiel, die viele der Fragen stellt, die man so allgemein als wichtig erachtet, etwa, ob wirklich jede lokale Polizeieinheit ein SWAT-Team benötigt, entpuppt sich bald als unglaubwürdiger Versager, der partout andere für alle seine Unzulänglichkeiten belangen möchte, um sich nicht selbst zur Rechenschaft ziehen zu müssen. Nichtsdestotrotz behält er in vielen gesellschaftlichen Punkten Recht. Die Stoßrichtung des Romans bleibt also oberflächlich uneindeutig, anders als in The Circle. Es hat doch alles zwei Seiten! Kaum aber hat sich diese Rumpfdialektik eingependelt, unternimmt Eggers keinen weiteren Reflexionsschritt, sondern sieht die Arbeit für abgeschlossen an. Die Sprache ist selbstverständlich so frei von Firlefanz wie im Vorgängerroman, und auch die Gedanken sind zuletzt die vorgefertigten Überlegungen, die man in jeder gehobenen Fernsehsatire findet. Es herrscht keine übermäßige Komplikation. Stattdessen soll uns ein selbstbewusstes „Jawohl“ überzeugen, denn so klar die Sache ausgedrückt ist, so klar ist sie, der asiatische Markt ist nicht mit Lakritze- sondern mit Cranberrybrause zu gewinnen.

Alle konträren Winde sind verweht. Der Jüngling hält Opas Segelboot stracks, und die Sonne spiegelt sich im Öl seines Bodys, seines sorgsam gebuildeten Bodys. Hinter ihm die Täler mit ihren Grimassen und Verwerfungen, vorneweg nur ein Hei und ein Hü und ein Hott. Er weiß und er kann. Die Bestsellerliste ehrt ihn, wie nur eine Bestsellerliste ehren kann. Und so schreibt er jeden Tag ein Sonett und jedes Jahr einen Roman, in denen er dem Volk sagt, was er weiß und kann. Stracks, hier, hier und da, bitte sehr, mein Werk; es ist schnörkellos. Nur wir mit unseren Hakennasen sind noch in den Büschen der Täler hängen geblieben, und wie wir die Glätte des Sees sehen, da wird uns so elend, so langweilig, wir trommeln schon die wüstesten Improvisationen auf die Innenseiten unserer Sargdeckel, mit der Spitze unserer krumm gekrümmten Hakennasen.

Nur soll man auch nicht übertreiben. Die Eggerschen Roman sind zwar unsäglich banal und in jeglicher Hinsicht uninteressant, aber daraus lässt sich nicht schließen, dass die affirmative Literatur insgesamt den intellektuellen Bankrott anmelden müsste. Zunächst ist der Überdruss eine nur allzu verständliche Reaktion auf die lange gängige Masche der pseudo-experimentellen selbstreferenziellen Introspektionsprosa, und dass im Gegenzug eine Hinwendung zur vergleichsweise unbehandelten Sprache und einem vertrauten Erzählduktus erfolgt ist, kann man vielleicht begrüßen. Außerdem ist die gedankliche Banalität nicht zwingend an die Affirmation geknüpft. Es sollte wenig kontrovers sein, dass gerade im Vertrauen auf entschlackte Prosa Gedanken in ihrer Komplexität oft besser ausgeleuchtet werden können. Das Problem besteht deshalb auch nicht in der affirmativen Literatur selber, das heißt nicht darin, dass es affirmative Literatur gibt, sondern in der durchgängigen, wenn auch manchmal impliziten Forderung nach Affirmation in der Literatur.

Es ist nichts dagegen einzuwenden, Abenteuerromane zu schreiben oder Familienromane oder Kriminalromane, die in wenig zerstocherter Sprache einen Sachverhalt schlüssig und eindeutig aufgreifen. Die Banalität greift erst um sich, wenn es fraglos zur Standardanforderung geworden ist, solche Romane zu schreiben, und, um die Polemik aus dem ersten Absatz wieder aufzugreifen, ich fürchte, dass wir auf dem Weg zu dieser Standardanforderung sind, genauso wie wir auf dem Weg dazu sind, den Patriotismus als Standardhaltung zur passausstellenden Nation vorauszusetzen. Affirmative Literatur ist solange nicht banal als sie das Produkt einer bewussten Abkehr von der nichtaffirmativen Literatur ist, solange hinter jeder literarischen Einfachheit die bewusste Aussparung bekannter Komplexitäten steht. Bei Autoren wie Christian Kracht ist das bestimmt erfüllt, im Fall Eggers glaube ich kaum daran. Mir wäre also vorderhand das Spiel mit der Affirmation im Kontrast mit dem Misstrauen des literarischen Experiments lieber als der wackere Kopfsprung in die Soße des neuen Erzählens und Thesendreschens. Und hiermit beiße ich in meinen Cervelat, die Schweizer Brühwurst, und sein siedendes Fett besprengt alle Vorgärten im ganzen Schweizerland.

Dave Eggers
Your Fathers, Where Are They? And the Prophets, Do They Live Forever?
Knopf Publishing
2014 · 13,95 Euro

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