„Darf ich jetzt weinen?“
Nina Bunjevac ist eine Kanadierin mit jugoslawischen Wurzeln. Eine kurze Google-Suche führt zu dem Ergebnis, dass es Ausgaben ihrer Comics in zahlreichen Sprachen gibt und dass sie auch Konzertplakate u.ä. macht. Ihre Homepage beschreibt uns ihren künstlerischen Werdegang so:
"Formerly a painter, a sculptor and an art teacher, Nina found her calling in sequential arts, a form that seemed to naturally evolve out of the narrative component in her sculpture installation work. Pen and ink became the medium of choice."
Das Buch, das auf Deutsch als "Vaterland" erschienen ist (Original: "Fatherland", 2014), scheint sich dabei in seinem künstlerischen Stil von Bunjevacs bisherigen Arbeiten leicht abzuheben: Es ist weniger orientiert an "malerischen" Bildkompositionen als diese, inkorporiert - mit Tuschezeichnungen - technische Elemente von Kupferstichillustrationen der Zeitungen des späten 19. Jahrhunderts. Ausserdem weist diese Graphic Novel ganz allgemein eine sehr "ruhige", quasidokumentarische Panel-Komposition auf - der Grundrhythmus, von dem dann gleichwohl bedeutungstragende Abweichungen vorkommen, ist der von vier gleich großen Bildern pro Seite. Ein wenig - nur ein wenig! - unangenehm fallen die sehr starken Kontur- oder Begrenzungslinien um die menschlichen Figuren auf, die wohl angesichts des tendenziell abstrahierenden Schraffurstils der Hintergründe eine eindeutigere Lesbarkeit der Bilder bezwecken sollen, dabei aber gelegentlich bloß den Effekt erzielen, dass Figuren vor ihren Hintergründen zu "schweben" scheinen.
"Vaterland" schildert, wie der Untertitel sagt, "Eine Familiengeschichte zwischen Jugoslawien und Kanada", und bedient sich dabei mehrerer Sprünge auf der Zeitachse zwischen "heute" und dem ersten Weltkrieg. Wir beginnen die Lektüre des ersten Teils - "Plan B" - mit einer Szene, die den Besuch einer Mutter bei ihrer erwachsenen Tochter schildert, nehmen die bloß leichte, aber offenkundige Zerrüttung der Mutter zur Kenntnis, und fragen uns, was das Unausgesprochene ist, das zwischen den beiden Frauen hängt. Das zweite Kapitel zeigt uns durch die Augen des Kindes, das diese Tochter war, die traumatische Flucht der Mutter und ihrer beiden Töchter (unter Zurücklassung des Sohnes) aus dem Leben des Vaters in einer Kleinstadt in Kanada, "zurück dach Jugoslawien". Warum die Mutter flieht, verstehen wir - wie das Kind Nina, das unser audience surrogate darstellt - noch nicht so ganz. Es scheint sich, soweit wir sehen, nicht um einen gewalttätigen Mann oder eine sonstwie mißbräuchliche Beziehung zu handeln. Andeutungen werden gemacht, auch im darauf folgenden Abschnitt, bei den Großeltern in Jugoslawien - es muß um etwas Politisches gehen, aber die Angst der Mutter um Leib und Leben scheint echt zu sein... Je älter das Mädchen Nina in der Rückschau wird, desto klarer wird uns: Der Vater in Kanada ist in die Aktivitäten von serbisch-nationalistischen, antikommunistischen Terroristen verwickelt, die ausser ihm auch seine Familie in Gefahr bringen; die Großmutter mütterlicherseits dagegen eine Veteranin von Titos Partisanenarmee, die über den Vater ihrer Enkelkinder am besten kein Wort hören will... Dieser erste Teil endet mit der Rückkehr der Schilderung zum Besuch der Mutter bei der Tochter im Heute, und dem Eindruck, diese beiden Frauen und ihre Story nicht verstehen zu können, ohne die - bisher ausgeblendete - Geschichte des Vaters zu verstehen.
Diese Story nun bekommen wir im zweiten Teil - "Exil" - geliefert. "Exil" kommt ohne audience surrogate oder feste narrative Verankerung aus, sondern besteht statt dessen aus einer Collage von kurzen Abschnitten, die zum Teil die wechselhafte Geschichte Jugoslawiens zum Thema haben, zum Teil die Auswirkungen dieser Geschichte auf das Leben des Vaters von Nina Bunjevac. Diese Zusammenschau zwischen der "großen" und der "kleinen" Geschichte liefert uns tatsächlich die Leerstellen der Familiengeschichte aus dem ersten Teil - und sie erklärt uns zugleich einiges über die Bündnisse und Akteure jener "großen" Geschichte. Bunjevac macht uns bestimmte Bruchlinien in der jugoslawischen Gesellschaft deutlich, die schon vorausweisen auf das - aus "Vaterland" übrigens komplett ausgesparte - spätere Auseinanderbrechen des jugoslawischen Staates. Wir erhalten zwar keine eindeutige Antwort, aber viel Material zu der Frage: Woher kamen die kroatischen und serbischen Nationalismen, und warum konnten sie nach Titos Tod so sehr an Bedeutung gewinnen?
Deutlich ist vor allem dem zweiten Teil von "Vaterland" anzumerken, dass Nina Bunjevac nicht einfach eine Story aus dem bewegten, schweren Leben ihrer Eltern erzählt, sondern dass sie sich an ein weltweites Publikum wendet, um diesem Publikum "Jugoslawien" bzw. "die Balkanstaaten" so zu erklären, dass etwas hängenbleibt. Dieser Aspekt der vorliegenden Graphic Novel erscheint mir unbedingt gelungen. Die Geschichten der Eltern selbst dagegen - vor allem die von Mutter und Tochter - scheinen mir unter der Last jenes Bildungsauftrags zu leiden (was inhaltlich dem Schatten entspricht, den die Geschichte der Kämpfe jugoslawischer Exilantengruppen miteinander auf das Leben der beiden Frauen wirft). Zumindest ich finde mich schwer in den einzelnen Episoden zurecht; zu wenig Abschweifung und Verweilenkönnen steht einer zu großen Anzahl an Personen gegenüber, angesichts derer ich mich zurechtfinden soll. Da es sich um eine biographische Erzählung handelt, die in dieser Weise zu publizieren sicher viel persönlichen Mut von Nina Bunjevac verlangt hat, mag diese Art "Zuruf von Aussen" verfehlt sein, aber: Einige Seiten mehr für jeden Abschnitt von Teil eins hätten "Vaterland" bestimmt nicht geschadet.
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