Der Fluch von Worpswede: Gedicht. Malerei. Realität.
Er zählt zu jener Generation von Dichtern, die mit ausgestrecktem Mittelfinger schreiben. Seine Jugend ist der Rave der 90er-Jahre, das arrhythmische Interregnum zwischen zwei Ordnungen. In Deutschland hat man diese gewaltige Erschütterung auf die Deutsche Einheit verknappt, aber der Dichter Marcus Roloff fühlt deutlich, dass mehr passiert war: »wir tanzen, ver- / heddert im abgegessenen traum« – gefangen in dem, was nicht mehr nährt, das Innerste an uns.
Aus diesem Gefühl jedoch erwächst – und dies ist erstaunlich – weder Kulturpessimismus noch Verzweiflung, sondern eine Lust an der totalen Verausgabung »du hängst in der luft, ein freier fall, wir / halten am weißen bauchfreien kleid / wie gestirne festgemutterte disko- / kugeln den takt. bleibst & wippst / in der musik, dem umgeschichteten / bass, sechsundzwanzig vierzig / im ganzen rasen die herzen« (Roloff: ›weinende frau, dröhnender stall‹).1
Die totale Verausgabung in einem Bezirk, darin man sich gerade noch an so flüchtigen Dingen klammert, wie einem »bauchfreien kleid«. Der hedonistische Bezirk, die Diskothek. In dieser offenbar ziellosen, grundlosen, nur durch den Bass strukturierten Bewegung entsteht das Neue: »der bass schichtet uns um wir sehen / uns in der strudelnische das metronomische kurkonzert (je / nach dem) frei freier am freiesten fallender sub- / bass« (Roloff: ›möbelfabrik‹). Es geschieht eine Umschichtung der Welt.
Als Bass pulsieren die Geburtswehen dieser Generation, und als sich dann die Türen des Clubs lang nach den ersten Sonnenstrahlen öffnet und die Menge euphorisiert hinaustorkelt, ist die Zukunft ein helles, lichtes Feld: Alle Lagerbildungen, alle Dichotomien scheinen wie aufgelöst in Roloffs utopischer Verheißung: »ihr seid wir«.
Aber wer sind diese Dichter, die so treu unmittelbar ihre Erfahrungen thematisieren, ohne dabei ihre Intellektualität zur Schau zu stellen? Denn gelegentlich meint man sogar, Roloff hätte noch nie in seinem Leben ein Buch gelesen, vielleicht nicht einmal jemanden gekannt, der einen getroffen hätte, der einmal ein Buch gesehen hat.
In seinem neuen Gedichtband ›reinzeichnung‹ (Wunderhorn, 2015) legt der 1973 in Neubrandenburg geborene Lyriker eine weitere Wandlung seiner Arbeit vor. Frühere Gedichtbände des Autors, wie etwa ›Gedächtnisformate‹ (2006) oder ›Im toten Winkel des goldenen Schnitts‹ (2010), orientierten sich stärker biographisch am Schnittpunkt der deutsch-deutschen Geschichte.
Zwar führt ›reinzeichnung‹ diese Linie in einigen wenigen Texten auch fort, doch rückt er eine intensive erfahrungsbasierte Auseinandersetzung mit bildender Kunst in den Vordergrund. Infolgedessen beinhaltet der Band Gedichte zu James Turrells Neonlichtinstallation ›Twilight Arch‹ (1991), ›Bedroom Ensemble Replica I‹ (1969) von dem schwedischen Pop-Art Künstler Claes Oldenburg, dem im Frankfurter Dom befindlichen ›Schwarzen Triptychon‹ (2013) des Italieners Giovanni Manfredini 2oder etwa der niederländischen Photographin Rineke Dijkstra.
Aber Roloff hält die bildende Kunst auf Distanz, um Raum für das sprachliche Kunstwerk zu schaffen. In einem Interview sagt er einmal: »In den Museen hängen Dinge, die permanent Bedeutung abstrahlen, wie so ein Energieträger. Und wenn wir uns dem ausliefern oder in die jeweiligen Museen reingehen, da ist es oft so, dass man sich in diesem Kontext erschlagen fühlt. Ich habe jahrelang auf europäischem Boden Museen besucht und mir war immer schlecht fast von dieser Überfülle. «
Also nochmal: Wer ist dieser Dichter, der so treu unmittelbar seine Erfahrungen thematisiert, ohne zugleich seine Intellektualität zur Schau zu stellen?
Zwischen Sprachbezogenheit und Versprachlichung von ›realer‹ Wahrnehmung
Die Worte, die Marcus Roloff zur Dichtung führt, gehören dem durchschnittlichen Lexikon der Welt an; sie sind keineswegs von dem zaghaft zusammengeklaubten Schatz an lexikalischen Raritäten genommen und im Gestus empfindsamer Galanterie aufpoliert. Seine Verse sind eher durch einen liebenswerten, reflektiven Hedonismus charakterisiert: »geht schon mal vor richtung torpedokäfer / gilben die jahre die wände fangen zu / reden an vom schnee überm bierglas« (Roloff: »null uhr null das gedicht«.
Stattdessen handelt es sich bei Roloff um Worte, die in jedem noch so kurzgefassten Vokabelheft geführt werden, handelsübliche Allerweltswörter: Sie sind überall drin, leicht zu finden, ihre Bedeutung ist rasch erfasst; sie sind sozusagen Grundübungen der Denotation – und doch, man weiß nicht wie, macht Marcus Roloff sie zu unbegreiflichen Lexemen: zu rätselhaft tiefen, dunklen, prismatischen, schleppnetzartigen Begriffen, daran sich die Vielzahl ambivalenter Bedeutung einer gesamten Biographie festgesetzt hat. So sehr die Worte Roloffs ihrer Form nach eindeutig scheinen, so sehr sind sie plötzlich Kraft ihrer Position im Vers auf eine uneinholbare Wirklichkeit verwiesen.
Man hat in jüngerer Zeit im Zusammenhang mit seinen Gedichten den Begriff Realismus bemüht.3 Mag sein, der Dichter selbst bemühte diese Kategorie: der Begriff und seine Bedeutung schweben. Hier ist nicht der Ort, linguistische Theoreme zu diskutieren; nur möchte ich darauf hinweisen, dass der historische Prozess, das alchemistische Moment, die soziale Dynamik, aus der Worte ihre Kraft gewinnen, da sie fähig werden, Zugriffe auf die Realität zu gestatten – diese (Prozess/Moment/Dynamik) sind keineswegs leicht zu erklären, und meist zerrinnen die Erklärungen für diesen Tanz, den das Zeichen um das Bezeichnete macht, im Treibsand der Ideologien.
Nicht klar ist, wie (beispielsweise) das Wort »Ahorn« sich an eine Erscheinung in der Natur, die sonst namenlos, wortlos, ihrer selbst nicht bewusst, reine Gedeihlichkeit ist, heftet: oder was die seltsame Genesis war, da dem dumpfen, alles betäubenden, lähmenden Moment in unseren Seelen aus allen Begriffen ausgerechnet der Name »Schwermut« zukam.
Worte greifen auf Realität zu wie die Harpune aufs Gewimmel im Meer. Die Sprache: Instrument, Traumfänger. Oder nicht? Oder anders? Ist es etwa Geheimnis, wer wann in welchem Garten den Dingen Namen schenkte?
In den Gedichten von Marcus Roloff nehmen Wahrnehmungen und Erfahrungen eines empirischen Autoren-Ichs eine prominente Stellung ein, wie es mehrere Kommentatoren bereits beobachteten. Im Gegensatz zu Poetiken, die ganz auf das Sprachspiel fokussieren (also auf die klanglichen, semantischen, textuellen, translationspragmatischen, typographischen usf. Wirkungen von Sprachmaterial), finden wir bei Roloff Gedichte, die durch ihren Außen- und Lebensweltbezug erst ihre Poetizität gewinnen. Das ist freilich nichts Neues, und die Skala zwischen reinem Sprachbezug (etwa Dada) und der hier präsentierten Schreibweise ist natürlich fließend.
Dies zeigt sich besonders dann, wenn man bedenkt, dass auch Roloff gelegentlich auch sprachbezogene Stilmittel einsetzt, wenn er etwa das Anagramm verwendet, Anleihen bei der Konkreten Poesie wie im Gedicht ›dorfrand mit toten‹ nimmt, durch typographische Interventionen plötzlich Segmente im Versfluss isoliert, hervorhebt oder ironisiert, aber auch Sonderzeichen einbezieht. Hier ein paar Beispiele aus verschiedenen Gedichten aus ›reinzeichnung‹: »hallraumräume re- re- (re-)« oder »mich kurzholz (-geraspel -geräusper) NEO-RETRO« oder »[a] schrecken des gebliebten lochs / ›springschwanz‹ (›-brunnen‹) / die gattung (?) fickt vergangenes. «
Dichtung als Mantik der Erfahrung
Blicken wir auf diese Variante der Ästhetik, darin die Organisation von sprachlichen Zeichen wie die Zähne eines Schlüssels Aufschluss über empirische Wirklichkeit gestatten soll. In einem Interview äußert sich Roloff sehr explizit zu seiner Haltung: Er wird gefragt, welches Verhältnis zwischen einer Neonlichtinstallation von James Turrell im Frankfurter Museum für moderne Kunst (MMK) und seinem Gedicht ›dämmerung (schaubude)‹ 4
bestehe, das sich auf diese Arbeit bezieht.
Roloff antwortet: »Und das Gedicht, das fragmenthaftes Sprechen versucht nachzuzeichnen, wie ich da stand, und versucht habe zu verstehen, was ich sehe.« Ich möchte das Augenmerk auf »wie ich da stand« lenken. Wenn wir über Ästhetik im Modus des Skandals sprechen möchten, so ist das Skandalon der Roloffschen Dichtung wohl die Veräußerung der verinnerlichten Außenweltwahrnehmung.
Relevant für das Gedicht ist nicht, wie der Dichter dieses oder jenes Kunstwerk liest oder erschaut, sondern eine sprachliche Retrospektive dessen, was in jenem Moment »wie ich da stand« war. Dabei arbeitet Roloff nicht im Ton des inneren Monologs, der die Begleitreflexion von Subjekterfahrung (nahezu naturalistisch) simuliert, sondern präsentiert dem Leser ein Ensemble von Sprachsplittern, die den Anspruch erheben, auf eine Präsenzerfahrung zu rekurrieren und darin geeint zu sein.
Diese Strategie verfolgt Roloff nicht nur in Bezug auf Erzeugnisse der bildenden Kunst, auch biographische Erfahrungen richtet er auf diese Weise an. Anders aber als in früheren Gedichtbänden des Autors, die auch stärker um den Topos Herkunft kreisen und dies in einem retrospektiven narrativen Ton tun, riskieren die Gedichte aus ›reinzeichnung‹ mehr Unverständlichkeit.
Vergnügte Unverständlichkeiten
Unverständlichkeit ist freilich ein Realitäts-Effekt, wenn man so will. Die Angabe von konkreten Orten und Zeiten, ohne das Verhältnis zur lyrischen Stimme oder der Autorenperson (z.B. durch Anmerkungen) zu klären, tauchen ganze Passagen der Texte in eine ansprechende Dunkelheit. In einem Interview sagt Roloff auch: »Das Ausklammern von Zusatzwissen ist nicht unbedingt verkehrt. « Was leistet diese Kompositionstechnik?
»draußen
quietscht die s-bahn
ich teile mir mit mir
den winterhimmeldas da, diesen
zerflimmerten, den maiin aufgeblasnen einkaufstüten
das bier wird warm, zahlnse das
mit karte, kein bargeld weiß von sich, ich
stieg hier umgleich müncheberg, waldsieversdorf
kein sommer
nur immer regen, zeit, zu
johst am see nach bollersdorferlebnismüd-
und blödigkeit«
Während die meisten Gedichte etwa der Romantik das Wort »Mai« pars pro toto für den Mai schlechthin, für den Frühling schlechthin und allem, was schwindsüchtige Fräuleins sonst noch mit dem Wonnemonat assoziieren mochten, verwendeten, sind die Zeitmarker hier ernst gemeint: »winterhimmel«, »den mai« oder »kein sommer« sind uns als Leser unbekannte konkrete Zeitangaben, deren Garant die empirische Autoren-Vita zu sein scheint.
Hier wird auf ziemlich viel Realität Bezug genommen: Die »s-bahn«, die »einkaufstüte«, die direkte Rede »zahlnse das / mit karte«, die dazugehörige Antwort »kein bargeld« sowie das Fragment eines inneren Monologs »ich / steig hier um« – all diese Zeichen beziehen sich, so könnte der Leser mutmaßen, auf gelebtes Leben eines, der Marcus Roloff heißt. Die Nennung geographischer Orte »müncheberg«, »waldsieversdorf«, »bollersdorf« verstärken diesen Eindruck noch zusätzlich.
Die Komposition dieser Realitätsmarker jedoch konterkariert dies auch: »quietscht die s-bahn«. Handelt es sich um einen Kolloquialismus: etwa »alter, da quietscht die s-bahn, und ich kacke mir fast in die hose«? Oder handelt es sich um einen Interrogativsatz »quietscht die s-bahn?«?
Auch die bewusst gestörte Syntax eröffnet interpretative Spielräume: »ich teile mir mit mir / den winterhimmel // das da, diesen / zerflimmerten, den mai«. Worauf bezieht sich »das da, diesen«? Ist es das da, was sich das lyrische Ich mitteilt: etwa »ich teile mir / das da, diesen [mit]«? Oder sollte es als Zeitmarker (temporale Deixis) näher zur Qualifizierung vom Mai gedacht sein? Oder beides?
Oder die drei Verse: »das bier wird warm, zahlnse das / mit karte, kein bargeld weiß von sich, ich / steig hier um«. Die drei Verse bilden im Gedicht einen Cluster. Sind aber hier tatsächlich verschiedene Sprechweisen ineinander verschoben? Indikativsätze, direkte Rede, innerer Monolog fließen hier ineinander bzw. es ist bewusst nicht geklärt, in welchem Modus uns die Sprache dargeboten wird. Man muss dazu nur die Verse etwas zergliedern (es gibt viele Möglichkeiten, hier einige):
- »das bier wird warm«
- »zahlnse das / mit karte«
- »zahlnse das / mit karte, kein bargeld«
- »kein bargeld«
- »kein bargeld weiß von sich«
- »ich /steig hier um«
Der Autor spielt hier einerseits mit Sprechweisen sowie andererseits mit der Potenz von Sprache, sinnvolle Sätze herzustellen. Wie die Lesart »kein bargeld weiß von sich« zeigt, ist der Satz freilich wahr, kein Geldschein weiß um sich selbst, weil kein Geldschein ein Bewusstsein hat; gleichzeitig ist der Satz trotz seiner Wahrheit sinnlos.
Auch die Ortsangaben fordern eine Haltung zum Text heraus: »bollersdorf«, »müncheberg«, »waldsieversdorf«. Sind sie aus der Welt von Bertolt Brechts ›Buckower Elegien‹ (1953) oder gehören sie zu den Erinnerungen des Autors an das Märkisch-Oderland Brandenburgs? Stehen diese bukolischen Ortsangaben im Kontrast zur eher urbanen Chiffre der »s-bahn«? Rekurrieren diese Ortsangaben auf die dialektale Aussprache, die in den Versen weiter oben angedeutet wird (»zahlnse das / mit karte«)?
Diese Kompositionsstrategie findet sich in zahlreichen Texten aus »reinzeichnung«. Die Wirkung ist diese, dass hier von einem erweiterten Realismus-Konzept gesprochen werden muss, darin sich Elemente, die wir einfach als »Unverständlichkeiten« verbuchen, mit der implizierten Konkretheit der Referenz in Wettstreit geraten.
Auch Anmerkungen, die etwa biographische Umstände von Gedichten »aufklären«, belassen die Texte in ihrer Ambiguität. Also, wenn man beispielsweise wüsste, dass der Autor während eines Praktikums in Berlin häufig in diese Region reiste in einer verregneten Zeit (also »kein sommer« bzw. »winterhimmel«), man hätte nicht mehr oder weniger vom Gedicht, als wenn diese Information unterschlagen bliebe.
Dieses Beispiel zeigt die Produktivität seines Ansatzes. Sie gestattet Heterogenität ins Gedicht hineinzubringen sowohl in Bezug auf polyvalenten Inhalt der Wahrnehmung als auch in Bezug auf dessen sprachliche Darbietung, ohne eine vereinnahmende Tonart festlegen zu müssen, damit alles harmoniere.
Stattdessen bleibt Wahrnehmung sowohl Fragment wie auch der Bezug auf sie Selektion. Hier noch ein Beispiel aus dem Gedicht ›mundwinkelsuppe‹: »ich sterbe an einer nachkriegsehe. auf dieser pritsche. / auf diesem auf den boden geworfenen (gehäkelten) / kleid (fünfzig millionen) mit all meinen birken / & gleichen. gleicht sich aufs haar halb europa / halb tue ich als gälte es durchzuhalten (bis moskau)«.
Der Fluch von Worpswede
Bevor sich der Autor vor etwa zehn Jahren in Frankfurt am Main niederließ, lag die Hansestadt Bremen auf seinem Weg. Jene Stadt, die seit fünfzehn Jahren ungebrochen eines der spannendsten internationalen Literaturfestivals in Kontinentaleuropa veranstaltet: ›poetry on the road‹. Dorthin an die Weser siedelte seine Familie um, als es Neustrelitz zu Gunsten der Bundesrepublik verließ.
In einer Selbstauskunft weist Roloff auf seine Faszination mit dem nahegelegenen Worpswede hin. So sehr auch Brechts ›Buckower Elegien‹ dem Dichter nicht nur die Naturlyrik nahe bringen, sondern auch aus einer konkreten Landschaft eine Topographie zweiter Ordnung machen, so sehr ist es die Kunst im trockengelegten Moor, die ihm die ehemalige Künstlerkolonie Worpswede zum Impuls für die eigene Arbeit werden lassen.
Die Zündung kommt freilich aus der Richtung von Rilkes Prosawerk, das ja eine dichterische Studie einiger formativer Figuren aus dem Worpswede-Kreis vorstellt, wie z.B. Hans am Ende, Otto Modersohn, Heinrich Vogeler sowie eine Meditation über die Landschaftsmalerei bzw. die Besprechung von Landschaftsmalerei beinhaltet.
In vielen Dichter-Biographien können wir sehen, wie solche existenzielle Auseinandersetzung mit – nennen wir es – Vorausgeborenen nicht unbedingt in erster Linie zunächst zur Imitation, dann zur Integration bestimmter stilistischen Qualitäten führen können, sondern per Sublimation die Gefühlsprägung teilweise oder nachhaltig oder vollkommen ummünzen.
Was wäre etwa aus James Joyce geworden ohne die Begegnung mit dem Werk von Henrik Ibsen? Was hätten wir, worauf uns etwa Navid Kermani hinweist, von Goethe ohne seine Auseinandersetzung mit der arabischen und persischen Dichtung oder dem Koran?
Im Hinblick auf das Gedicht ›pappeln um stendal‹ von Roloff wird nun vielleicht klar, dass allein der Titel wie für eine Malerei der Worpswede-Epoche gemacht sein könnte. 5 Das Gedicht bezieht sich aber keineswegs auf ein Gemälde. Es handelt sich um eine schlichte Wahrnehmung von ›pappeln um stendal‹, während der Dichter in einem durchs platte Land umgeleiteten ICE sitzt.
Ohne mit der Malerei zu konkurrieren, bringt Roloff seine Sprache in Position, um diese Impression aus dem Filter seiner eigenen Wahrnehmung herauszulösen. Das Ergebnis klingt nicht wie eine Malerei; vielmehr erkennt man einen ähnlichen Wahrnehmungsmodus, wenn man es mit einem Werk um die Jahrhundertwende zum 20. Jahrhundert vergleicht:
»pappeln um stendal
wasser wässrig durchsetzt
ein unterlaufener landstrich
in komplementärfarbenmacht diese ebene unter
dem eindruck von regen
zu meiner mühsam gehaltenenabbildfunktion denn ich
suche hier etwas geschichte
im wie-format unddie zeit die sich absetzt das
heißt die weiden und pappeln
um stendal setzen michnicht mehr voraus«
Das Gedicht ist nicht frei von narrativen Zügen. Gleichwohl ringt es mit einem Landschaftseindruck in der Altmarkt. Man könnte sich vorstellen, wie der Dichter in einem umgeleiteten Zug während eines Hochwassers auf dem Bahndamm vorbeizieht. Immer mehr wird die Außenwelt auf den (imaginierten) Gemütszustand, auf die Stimmung der Stimme verwiesen.
Paradoxerweise wird deutlich, dass diese »abbildfunktion« scheitert, denn die Landschaft ist ohne Subjekt trotzdem Landschaft, nichts darin setzt das Subjekt »mehr« voraus—so sind Umwelt und die Welt des Selbst einander entfremdet. Der Vergleich des »wie-formats« geht nicht auf. Was bleibt, ist die bloße Wahrnehmung einer fremden Welt, die die verwischten Spuren des Selbst nicht mehr aufdeckt.
Eine ähnliche Bewegung findet man im Gedicht ›dorfweg mit waldrand‹, ebenfalls ein Text mit auffällig pittoreskem Titel, der eine Natur- oder Landschaftserfahrung emuliert, diese aber schließlich preisgibt: »[…] dorfweg // mit waldrand der waldrand, den ich / spiegelverkehrt verschwinden sehe / während von hier aus ich noch versuche // einen fuß in seine richtung zu setzen«.
Es findet in dem Gedichtband ›reinzeichnung‹ also sowohl eine Auseinandersetzung mit Erzeugnissen der bildenden Kunst statt als auch eine an der bildgestalterischen Logik geschulten Komposition von Gedichten.
Nichtsdestotrotz sollte man sich daran erinnern, dass Marcus Roloff auch ins Milieu der Sprechtexte gehende Gedichte verfassen kann, wie ›tod aus schlaf‹: »tod aus schlaf aus sand aus zimmern aus ticken und gong aus stunden aus dielen aus wasser und sand aus abwasch aus kammern makarenko und aufbau aus gesammelte werke band zwei aus becher aus lenz simonow aus vogelscheuche und teich aus dorfstraße sechsundsechzig aus pappel aus anhöhe hügel und peene aus tollense und flüssen aus greifswald aus loitz aus schmarsow aus völschow und vorwerk […]«.
Frankfurt am Main
»Es lungern in Deinen Rotgassen / Wildernd und treulos und bunt, / Die Sänger, seelenverlassen, / Zu ecken Dein kopfiges Rund […]« heißt es in der Ballade von Hadayatullah Hübsch mit dem Titel ›Frankfurt, Du Mainkleinfeine‹ aus dem Jahr 1987.
Die Lebenswelt des Dichters, ihre Spuren. Marcus Roloff lebt mit seiner Familie seit rund zehn Jahren in Frankfurt am Main. Während der Hadayatullah Hübsch etwas verschämt übers Rotlichtviertel am Hauptbahnhof schrieb, amüsiert sich Roloff über diese Parallelwelt bzw. der Vollendung des Kapitals: »extraschlampe ausgelockert abgeblasen / carbonbrüste (u.s.w.) im schlenker der ein- / stellung fällt ihr saft von der couch«.
Der Verbrauch, der Verschleiß der Körper in unabweisbarer Lust, gepaart mit einer ungehaltenen konsumistischen Ironie, die auch einen abstoßenden Molch der Lust, wie sie zahlreich in den Kneipen des Viertels zu fortgeschrittener Stunde zu finden sind, fast schon liebenswürdig macht: »sitzmolke (passt) molkbild & du ruderst / in die hinterste schmalzluft (ecke) klammbrot / süffige klemme & bist ihr subspast ihr an- // alphabet schwammriese der bloß weil sich´s [….]«.
Die Topographie der Mainmetropole wird, wie im dreiteiligen Gedicht ›die nacht die mainzer‹ (gemeint ist die Mainzer Landstraße), zum biographischen Raum. Sie ist dahingebreitet, begehbar und von der Metapher »luft« (»in die luft hoch / die bahnhofsluft, - viertel (-luft) / die rolltreppe schnarrt luft / ich erhebe mich in die / nacht, luft, die mainzer«).
Diese weite Offenheit der Mainzer Landstraße schlägt im letzten Teil des Zyklus um in eine seltsame Orientierungslosigkeit, als ob ihr alle Wirklichkeit trotz der Tatsächlichkeit des Atems entzogen wäre: »straße als abbild von straße / google maps straßenansicht / verkehrssatellit und luftkiller«. Die Metapher »luft« wird hier immerfort modifiziert. Sie scheint mit dem Bild der Nacht zu konkurrieren. Luft, die Freiheit zu atmen; Luft, der Zwang zu atmen. Ist die Nacht hier ein Reflexionsraum, der das lyrische Ich zu ersticken droht?
Aber auch die wandelnde Topographie der Stadt wird zum Gegenstand der um Frankfurt am Main zentrierten Gedichte – etwa die drei Gedichte zu dem Henninger Turm in Sachsenhausen. Das circa 120 Meter hohe Getreidesilo war 1961 bei seiner Einweihung wohl das höchste Gebäude der Stadt; 2013 wird das Baudenkmal abgerissen.
Ähnlich wie die Gedichte zu dem gesprengten AfE-Turms des ebenfalls in Frankfurt am Main ansässigen Lyrikers Martin Piekar, 6dominiert hier ein Ton liebkosender Monumentalität: »abstrus wie sehr es dich / immer noch gibt wie viel ich mir / eingeprägt habe von dir gespiegeltem // in mir aufgehobenem ding aus luft. // schlummersilo. // […] // wie viel verspreche ich mir von diesem / leeren inneren bild […]« (Roloff: henninger turm 1).
Die geschichtliche Tiefe Roloffs beginnt nicht mit Karl dem Großen, sondern mit seinem Aufenthalt in der Stadt. Es ist im wahrsten Sinne des Wortes nur seine Stadt, als ob sie nur in der Spanne seiner Erinnerung präsent und existent wäre, ein Ort ständiger Häutung und Wandlung mit ungeheuerlicher, unermüdlicher Energie:
»der horizont ist vage belegt wie / eine zunge die mit sich selber spricht / unter frankfurts zerschnittenem wolkenhimmel // ausgedampfte spur eines lichts das hinter die / zentralbank fällt hinter mein sofa aus den / augen raus und lange schatten wirft wer da- // steht wie ein abgerissener turm rotierende / henninger sturmhaube das flirren der / presslufthämmer sediert mich mein sommer // liegt eingeschlossen & / aus-« (Roloff: ›der horizont ist vage‹)
- 1. Roloff merkt an, dass es in Auseinandersetzung mit Rineke Dijkstra ›The Buzz Club‹, 1996/1997 und ›I see a woman crying‹ 2009 entstand.
- 2. vgl. zum Gedicht ›hl. grab, eingang wahlkapelle‹ siehe auch den Kommentar in der 47. Folge des gelben Akrobats – Braun, Michael; Michael Buselmeier: Der gelbe Akrobat (1. Band). 100 deutsche Gedichte der Gegenwart kommentiert, Leipzig 2011
- 3. vgl. hierzu den Kommentar von Hendrik Jackson.
- 4.
dämmerung (schaubude): »beweis dass ich sehe (ich-taste) / ich totes werkzeug stehe // im leeren raum
versagt mir das licht /wie zu boden gefallene milch // die ahnung // klopfenden flimmerns des films / der ununterbrochen beginnt // die leinwand das / gefrorene handtuch in dem ich / verschwand / mein nicht geschnittener / blick (immanenz). wirf mich durch etwas / gegen null gehendes // aus dem raum zurück« - 5. vgl. hierzu: Otto Modersohns Bildtitel wie beispielsweise ›Hammewiesen mit Weyerberg‹ (1889), ›Sommerhochwasser im alten Dorf‹ (1924); oder die Titel einiger Zeichnungen von Hans am Ende: ›Bachlauf mit Findlingen‹, ›Baumgruppe im Moor‹, dem Aquarell ›Friedhof mit altem Grabstein‹, den Ölgemälden ›Birken am Moorgraben‹ oder ›Blühende Bäume im Abendlicht‹. Ich möchte hier nicht so sehr über die Poetizität von (durch die Maler selbst gewählten) Bildtiteln nachdenken, vielmehr aber Sinnrichtung, die sie dem Blick mitgeben. Die Titel wirken nüchtern, oft sagen sie genau das, was das Bild zeigt, gleichwohl rücken sie gerade dadurch die Sehweise jenes Ausschnitts einer Landschaft noch stärker ins Bewusstsein des Betrachters.
- 6. [1] Es handelt sich dabei um einen fünfteiligen Zyklus AfE-Turm i-v von Martin Piekar, der in den Gedichtband ›Bastard Echo‹ (Verlagshaus J. Frank, 2014): »Ein Schlag Brachialität tut sich / Auf, getürmt, nach Babel, eher / 68er – 38stockwerkehoch, was hier schwankte / War keine Utopienforschung – / Jäh – hier / Kamen Fakultäten der Menschlichkeiten zusammen / Aus Bemühen wurden / Versuchskaninchen, wurden / Eisbrecher in der See / (ich weiß nicht welcher Pol – / Nachkriegstrümmer oder / Bürgerliche Moral) – jäh – / Was für eine Gewalt legte hier / Kritische Maße an, / Maßlosigkeit hat niemals protestiert, / nur nach Maß wurde – jäh – / Bloody-Mass-Index«.
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