Kindesmund
Dass Kinder die Welt anders wahrnehmen als Erwachsene, ist kaum verwunderlich, lernen sie doch noch erst, sich in dieser Welt zu bewegen. Ob sie sie am Ende so zu sehen lernen, wie sie wirklich ist, ist in mindestens zweifacher Hinsicht fragwürdig. Denn niemand weiß wirklich, wie die Welt ist, eben nicht nur weil sie aus der Sicht jedes Einzelnen nicht wirklich als Totalität wahrnehmbar ist. Sie ist zu komplex und zu weiträumig, um überhaupt erfassbar zu sein. Sondern auch genau betrachtet ist das, was wir Realität nennen, nichts anders als eine gutwillige Unterstellung, eine Konvention oder eben ein sprachliches Phänomen.
Man wird also schon von einem Erwachsenen abfragen müssen, welche Farbe – kleisttisch gesprochen – nun mal seine Brille hat. Bei einem Zehnjährigen, der fürchtet, in den Wahnsinn zu verfallen, wenn man ihm zu früh zu viel zumutet, wird man dies umso mehr tun.
Und doch: Der Blick des Kindes, das die es umgebende Welt zu verstehen versucht, dafür aber weder ein angemessenes Umfeld noch die nötigen Mittel hat, fördert nun doch einiges zutage, was dem des Erwachsenen verborgen bleibt. Vor allem, weil der sich ein- und abgefunden hat. Notwendigerweise – und doch mit einigem Zündstoff verbunden.
Für das Konzept, das Alain Mabanckou in seinem Roman „Morgen werde ich zwanzig“, der soeben bei Liebeskind in München in der Übersetzung von Holger Fock und Sabine Müller erschienen ist, gibt es zahlreiche Vorläufer – auch im deutschen Sprachraum: Irmgard Keuns „Kind aller Länder“ (1938) oder Günter Grass‘ „Blechtrommel“ (1959, dort freilich quasi in der Umkehrung: das ewige Kind mit dem Erwachsenenbewusstsein).
Immer geht es darum, die Welt mit dem naiven Blick des Kindes besonders klar und wahrhaftig erkennen zu können, da das Kind ja eben nicht über die abgesicherten Konventionen und Denkmuster der Erwachsenen verfügt, sondern eben alles hinter- und befragen muss, da es nichts verstehen kann.
Das ist nun in Alan Mabanckous Roman ein wenig anders – und die Frage, wie ein Kind seine Welt wahrnimmt und versteht, ist intelligent gelöst. Denn Mabanckou geht eben nicht davon aus, dass ein Zehnjähriger nichts verstehen kann, weil er für nichts Erklärungsmuster hat, sondern dass er eben andere, wenig abgesicherte und erprobte Muster hat, auf die er sich stützen kann. Und für diese Denk- und Wahrnehmungsmuster verlässt er sich – deutlich offener als die Erwachsenen – auf Gewährsleute, denen er vertraut, und Erklärungen, die ihm plausibel erscheinen. Was und wer das jeweils ist, ist ihm überlassen.
Der zehnjährige Michel wächst Ende der siebziger Jahre in einem Kongo auf, der sich vom Kolonialismus befreit hat, um im selben Moment von einer einheimischen Clique um den damaligen Präsidenten Mobutu unterworfen zu werden, die dem Staatswesen einen pseudokommunistischen und antikolonialistischen Anstrich gibt. Ende der siebziger Jahre hat sich diese Herrschaft konsolidiert. Das gesamte Zivilleben wird von den Gründungsmythen des sich noch Zaire nennenden Staates durchzogen. Bis in die Schulen hinein reicht die Indoktrination der Gesellschaft, die sich auf dem Weg vom belgischen Kolonialismus hin zu einer offenen und zivilen Gesellschaft selbst in einem ewigen Kreislauf von Machtmissbrauch, Korruption und Gewalt gefangen zu haben scheint. Die Irrwege, die diese Gesellschaft gehen muss, reichen weit zurück und in die Zukunft.
Das sind gewaltige Themen – die heutige Republik Kongo ist einer der größten Staaten Afrikas und immer noch umkämpft. Aber Mabanckou schildert dies nicht in einem Sachbuch oder in einer politischen Kampfschrift, sondern wählt den Roman. Das darf er und es gefällt.
Michel wächst als Sohn der Zweitfrau seines Vaters Roger auf, der seine Zeit zwischen seinen beiden Familien aufteilen muss (und dies mit größter Selbstverständlichkeit auch tut). Die nach europäischen Verhältnissen konfliktträchtige familiäre Situation spielt im Roman Mabanckous allerdings keine destruktive Rolle. Auch dass Roger nicht der leibliche Vater Michels ist, ist kein Anlass, eine Tragödie aufzuziehen.
Die Konflikte, die den Roman bestimmen, sind anderer Natur. Michels Eltern wollen weitere Kinder, aber da Ärzte nicht helfen können, gehen sie zum Fetischeur, der ihnen sagt, dass Michel den Bauch seiner Mutter verschlossen habe. Und nur er könne ihr wieder den Schlüssel dafür zurückgeben. Was er dann auch tut. Mithilfe eines als verrückt Verschrienen sucht er einen alten Schlüssel aus dem Müll und gibt ihn der Mutter. Ob er daran glaubt? Immerhin gibt er einen zweiten Schlüssel – den Öffner einer Konservendose – seiner Freundin Caroline, damit sie später ihren Bauch für seine Kinder öffnen kann.
Caroline glaubt an den Zauber, Michels Freund Lounès tut das ebenso, und der geht schon auf die weiterführende Schule.
In einer Welt, in der Ammenmärchen über die Befreiung Zaires zum Schulstoff gehören, den die Heranwachsenden nachplappern müssen, in denen der Bruder von Michels Mutter sich erfolgreich als Erbschleicher betätigt und vom Kommunismus plappert, in einer Welt, in der Michels Vater Roger die Stimme Amerikas im Radio hört und mit dem Schah sympathisiert, in einer Welt, in der die Jungs raten, in welche Länder die Flugzeuge fliegen, die sie am Himmel vorbeiziehen sehen, in einer solchen Welt kann man auch an Zauber, an Schlüssel und eifersüchtige kleine Jungs glauben, die den Bauch ihrer Mutter verschließen.
Und dennoch: Michels Zugriff auf das, was ihn umgibt, ist angemessen und erfolgreich. Er versteht zwar nicht, dass ihm sein Lehrer ein gutes Zeugnis ausstellt, obwohl er es doch nie in die erste Reihe schafft. Hier treffen Welten aufeinander. Er versteht auch nicht, was die Beweggründe seines Onkels sind – aber er versteht die Geschichte seiner Mutter, er ist willens, sie in ihren Wünschen zu bedienen, er ist erfolgreich. Er bleibt als Figur in einer mittleren Größe, die nicht zu viel kann und weiß, aber auch nicht zu wenig. Er ist damit einer dezidiert offen angelegt Figur, die alles erreichen kann – einem Protagonisten aus einem 1924 erschienen Roman eines deutschsprachigen Schriftstellers vergleichbar, der in einer alpinen Lungenheilanstalt seine Lehrjahre verbringt.
Das alles wird in einer Sprache und Erzählweise vorgetragen, die selbst noch in der Übersetzung (aus dem Französischen) die Distanz zum zentralafrikanischen Kosmos und zu den 1970er Jahren erkennbar macht. Dies ist eine Welt, weit weg von der unsrigen, die aber mit der eigenen eng verflochten ist, wie auch immer. Durch die Flugzeuge, die geteilten Ereignisse, das Obst, das Michel verzehrt, das Radio, das sein Vater und er hören. Das macht den Werdegang des kleinen Michel, der ja nicht mit dem Ende des Buches abgeschlossen wird, umso faszinierender und lehrreicher.
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