Der 3. Todestag

26.12. 2010

Am Abend vor ihrem Tod hinterliess sie mit brüchiger Stimme eine Nachricht auf der Mailbox. Man spürte die Mühe, die ihr die Worte machten, doch dass sie den Ärzten am nächsten Vormittag unter den Händen wegsterben würde, mit zwei Herzinfarkten kurz hintereinander, das war nicht heraus zu hören.

Die Nachricht war an mich gerichtet, nahm aber einen Umweg über die Gräfin.

“Susanne, sag dem Andreas doch bitte, er möchte an die Tempo-Taschentücher und an das Baldrian extra-stark denken, wenn er mich morgen besuchen kommt..”

Dass sie die Gräfin direkt ansprach, lag an der Aufforderung ..sprechen Sie bitte nach dem Piepton, mit der die Gräfin das Wort an die Anrufer erteilte. Das machte sie sozusagen zur natürlichen Ansprechpartnerin.

Die knappe Nachricht beschloss Mutter wie üblich mit einem leicht belustigten, langgezogenen, die Rutsche runtergerutschten “Ennn..de”, als handelte es sich um ein Spaß-Telegramm alter Schule. Und während sie nun den Hörer umständlich Richtung Telefonapparat bugsierte, zeichnete die Sprachbox das Rascheln der Bettwäsche auf sowie Mutters allerletztes, leise im Abspann abtauchendes “schüss..” Geradezu ein Klein-U-Boot von einem schüss, ein schüss, das mit dem Periskop noch einmal heimlich die See ablauschte, die an zweiten Weihnachten ruhig dalag, wenig Wellengang, no fish today.

Frau Wolf, die grundsympathische, in etwa gleichaltrige Bettnachbarin, (in jungen Jahren hatte sie als Hutmacherin in Hamburg gearbeitet), tuschelte noch irgendetwas im Hintergrund, das aber nicht zu verstehen war, nicht mal in Ansätzen, auch nach dem x-ten Abhören nicht.

Dann machte es klack.

27. 12.  2010

Als ich um die Mittagszeit vom Einkaufen heimkehrte, bepackt wie ein Sherpa des Kapitalismus und dementsprechend gelaunt, “Was sollen wir unseren Enkeln eigentlich später mal erzählen?! Wie schön wir früher Einkaufen waren??!” “Welche Enkel?”, sprang der Hund kläffend an mir hoch. Die Gräfin stand in der Küche, noch dick eingemummelt vom Spaziergang.

“Wir sind auch gerade erst reingekommen.”

Während sie demonstrierte, wie tief der Hund und sie im Schnee eingesunken waren, bei acht Grad unter Null, oben auf den Feldern, klingelte das Telefon. Wir liessen es klingeln. Die Mailbox würde es schon aufzeichnen, und dann konnte man ja zurückrufen. Das war gängige Praxis bei uns, so verfuhren wir grundsätzlich, was das Festnetztelefon betraf.

Der Winter 2010 war der strengste Winter seit langem, die Temperaturen fielen kaum unter den Gefrierpunkt. Die Weide im Garten war so voller Schnee, dass sich der Baum schon dem Küchenfenster entgegenbog und uns das Tagslicht nahm. Und je länger das Winterhoch dauerte, desto näher kam uns die Weide. Auf einem der Zweige hockte ein Dompfaffen-Pärchen und glotzte stoisch in unsere Küche, wie zwei Punktrichter beim Eislaufen.

Wegen des strengen Winters hatten Nachbarn den Garten mit Vogelfutter-Spendern und jodierten Häuschen zugepflastert, mit durchschlagendem Erfolg. Der Garten war zu jeder Tageszeit Treffpunkt aller möglichen Raben, Blaukehlchen und Stare, die die Kästen und Meisenknödel anflogen oder ein Bad nahmen im Tauwasser, das sich gelegentlich unter den Abflussrohren sammelte.

Ich hörte die Mailbox ab. Es war jedes Mal eine umständliche Prozedur, man musste eine Kolonne von Zahlen eingeben, bevor man die aufgezeichneten Nachrichten abrufen konnte.

“Sie haben: ZWEI neue Nachrichten.”

Die erste Nachricht kam vom Städtischen Klinikum. Eine Schwester Monika. Ich möchte bitte umgehend auf der Intensivstation anrufen. Durchwahl. Danke. Da wurde mir schon mulmig, da ich aber Mutters Stimme vom Vorabend noch im Ohr hatte, stellte ich meine Befürchtungen hintenan, obwohl.. Intensivstation..

Ich fragte mich, wieso ich die Nachricht erhalten hatte und nicht eins meiner Geschwister. Stand ich ganz oben in der Hierarchie der Empfänger von schlechten Nachrichten? War ich der Bad News-Mann der Familie? Dann fiel mir ein: Unsinn. Da meine Schwester, in der Rangfolge obenan, in Wintersport war und mein Bruder um diese Uhrzeit arbeitete, war ich als einziger greifbar.

Die zweite Nachricht hörte ich gar nicht mehr ab, da das Telefon genau in dem Moment klingelte, ja aufbrauste, als ich sie abrufen wollte. Vater war dran. Schon im gleichen Moment, als ich seine angsterfüllte laute Stimme hörte, wußte ich, dass ich diesen Klang nie mehr los werden würde, für den Rest meines Lebens nicht.

“Es ist was ganz schlimmes passiert”, rief er, fast bewusstlos,“Mutter ist tot.”

Ich stand in der Küche. Da waren seine Worte, ich hörte ihr Nachglühen. Ich war gerade reingekommen, verschwitzt vom Einkaufen. Mutter ist tot. Es ist was ganz schlimmes passiert. Ich sank auf den Stuhl nieder.

“Was ist los?” rief die Gräfin. Sie war in ihrem Zimmer.

“Meine Mutter ist tot”, sagte ich tonlos, und zu Vater in den Telefonhörer: “Ich komme.. Ist jemand da?”

Die Nachricht vom Tod eines Menschen zu erhalten, der dir nahe steht, das ist, als würdest du bei voller Fahrt den Kopf aus dem Zugfenster stecken und gegen einen Mast knallen. Dabei wolltest du nur Luft schnappen.

Die Gräfin kam angelaufen, nahm mich in den Arm. “Verdammt”, flüsterte sie. Sie hatte Tränen in den Augen. “Verdammt, verdammt, verdammt..”

Ich konnte nicht weinen. Da war nur große graue Leere. Ein großes Unverständnis. Wie kann ein Junge ohne seine Mutter..? Sei nicht albern. Du bist fünfzig geworden, deine Mutter 83.

“Was ist denn passiert?” fragte die Gräfin.

“Herzinfarkt”, sagte ich.

Aus dem Wasserhahn über der Spüle liess ich Leitungswasser laufen, es plätscherte ins Edelstahlbecken, dann erst hielt ich ein Glas drunter. Wieso trinkst du jetzt Wasser? dachte ich. Deine Mutter ist tot. Gerade gestorben, gerade eben. Wie kannst du etwas so profanes tun wie Leitungswasser trinken. Soeben hat der Mensch, der dir das Leben schenkte, das Leben verlassen, und du säufst Wasser wie ein Pferd. Planeten müssten vom Himmel stürzen, die Zeit müsste stillstehen, die Menschheit müsste im Boden versinken vor Scham.

Ein Glas Wasser.

..

Die ganze Geschichte erscheint demnächst

unter dem Titel “Raunacht

Dass Frauen älter werden, davon hatte ich gehört. Dass Frauen an meiner Seite älter werden, davon war nie die Rede. Und dann kehrte sie eines Tages vom Termin bei der Frauenärztin heim, mit einer Schachtel Hormonpflaster. Sie las mir aus dem Beipackzettel vor. Ich wusste nicht, was ich davon halten sollte, und liess es mir übersetzen.

“Hormone sind.. Popcorn für die Gebärmutter”, erklärte sie aufgekratzt.

Nicht, dass ich fortan Bescheid gewusst hätte, doch jetzt hörte es sich wenigstens sexy an, nach großer Oster-Kirmes. Nach Blue Hawaii und Autoscooter, nach rieselnden Kokusnussbrunnen.

(aus: Popcorn & Hundehalsband auf Glumm.)

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