The Chomskytree-Haiku

Eine Beschreibung von Hartmut Abendscheins Prezi-Projekt “The Chomskytree-Haiku” ist nahezu unmöglich: Man müsste, wollte man ihm gerecht werden, alles zugleich sagen, mit einem Satz die ganze Vielschichtigkeit aufzeigen und zugleich auf die darin enthaltenen (und gewollten) Widersprüche hinweisen. Hinter, oder besser, in dem “Chomskytree-Haiku” steckt eine gehörige Portion Theorie: Gleich zu Beginn der Präsentation werden die wichtigsten Begriffe eingeführt und sehr kurz erläutert, um die es dem Autor bei seinem Projekt geht: Allegorie, Baumparadigma vs. Rhizom, Raum/Zeit und poesis. Um nichts weniger also geht es, als um Welt, ihre Deutung und ihre poetische Verarbeitung. Dass das nicht gut gehen kann, macht ein Exposé deutlich, das ebenfalls im Projekt zu finden ist: Das “Chomskytree-Haiku” ist, so heisst es da, ein “polyvisuelles, polytextuelles, polystrukturelles und polytheoretisches Image”, ein “Beitrag einer posttheoretischen Theorie”, die sich (so der Untertitel) als “intermediale Allegorie poetischen Arbeitens” versteht. “Der Baum bzw. die Wurzel als Denkfigur und Organisationsprinzip wird mit seinem Theorieantagonisten, dem des Rhizoms (nach Deleuze/Guattari, als Figur der Kontingenz und
Allesmitallemverbundenheit) kontrastiert.” Der Autor weiss, was er dem Leser/Betrachter/Interpret da zumutet.
Doch anders als diese einleitenden Worte vermuten lassen, führt das Projekt den Interpreten nicht in eine theoretische Abstraktion bildhafter Vorgänge, sondern umgekehrt in eine visuelle Abstraktion konkreter Theorie, nämlich jener des poetischen Schaffens. Jede Theorie des poetischen Schaffens birgt in sich auch eine entsprechende Theorie der poetischen Interpretation, und ich erlaube mir, da ohnehin vor die Notwendigkeit gestellt, aus den vielen möglichen einen einzelnen Ansatz auszuwählen, um den Versuch einer Deutung überhaupt beginnen zu können, diese zum Ausgang meiner Betrachtung des “Chomskytree-Haikus” zu machen.

Nutzt man gleich zu Beginn des Prezi die Zoomfunktion am rechten Bildrand, um näher an den in der Mitte sich befindenden Kreis heranzufahren, enthüllt sich mit zunehmender Nähe ein Baum, an deren Astgabeln und -spitzen sich Blüten befinden, die sich bei näherem Hinsehen als weitere Bäume oder Vergabelungen entpuppen. Ein Baum der Äste, die sich verzweigen, also, und deren Astgabeln abstrakt dargestellte Orte sind (Punkte auf einer Landkarte), von wo aus sich die Äste dann in die konkrete Welt (Fotos) hineinstrecken, über die sich jedoch dann wieder Bäume legen, die einerseits die Fotos miteinander verbinden, andererseits aber auch die in den einzelnen Fotos selbst dargestellten (und in ihnen ausgelegten) Elemente verknüpfen.
Entfernt man sich mittels Zoomfunktion wieder von diesen Unterbäumen, bemerkt man zwischen den Ästen weitere Elemente, die wie fallendes
Laub zwischen diesen verstreut sind: Haikus, Screenshots, Klebebänder und andere Materialien, die sich auf den oben erwähnten Fotos wiedererkennen lassen. Dass zwischen Bäumen und diesen zusätzlichen Elementen ein intendierter, nicht willkürlicher Zusammenhang besteht, wird deutlich, wenn man sich mittels Play-Taste Schritt für Schritt durch die Präsentation vortastet: Sie stellt das, was ein erster Blick als simultanes Gebilde enthüllt hatte, in eine lineare Abfolge, die nicht nur eine aus den vielen möglichen Lektüren des “Chomskytree-Haikus” vorschlägt, sondern auch ihre Produktionsbedingungen, -materialien und -umstände sichtbar macht. (Auch hier sei die ausgiebige Verwendung der Zoom-Funktion wärmstens empfohlen, um zum Beispiel die in den Screenshots abgebildeten Texte überhaupt lesen zu können, aber auch, um sich immer wieder durch das Herauszoomen sich des Zusammenhangs des gerade Betrachteten gewahr zu werden.)

Wie auch immer man sich Zugang zum “Chomskytree-Haiku” verschafft, ob über die vom Autor empfohlene Autoplay-Version oder über eine eigene, selbstgewählte Kletterroute durch den Baum (oder eher Rhizom?), immer wieder sieht man sich damit konfrontiert, den Zusammenhang zwischen Text und Welt, zwischen Text und Textmaterialien, zwischen Theorie und konkreter Welt, aber auch zwischen konkreter Welt und den in ihr erkannten Strukturen deuten und überdenken zu müssen.

Diese multiplen Zusammenhänge zwischen den vielen Ebenen des Textes und den vielen Ebenen der Welt lassen sich vielleicht auch so darstellen:
Am 8. Dezember 1980 befand ich mich in Teresina, der Hauptstadt des brasilianischen Bundesstaates Piauí, wo ich die Sommerferien bei einem Schulfreund verbrachte. Ich hatte bereits geduscht und durfte mir noch die Abendnachrichten anschauen, bevor es ab ins Bett ginge. Es war ein Schwarzweissfernseher, der mir die Bilder aus New York zeigte: ein Passfoto des Mörders, die Blumen vor dem Gebäude, in dem John Lennon eben erschossen worden war. Ich hatte zu dem Zeitpunkt noch nie etwas von dem Toten gehört, zumindest nichts bewusst von ihm wahrgenommen, “Imagine” sollte erst Jahre später den Soundtrack zu meiner Glaubenskrise abgeben. Die Umstände, unter denen ich von Lennons Tod erfuhr, vergass ich trotzdem nie.
Jahre später, es war eine laue Sommernacht, sass ich mit einigen Freunden in einem Gartenrestaurant im schweizerischen Winterthur und hörte das erste Mal von der polnischen Musikerin reden, die ihre Kollegen “Radio Warschau” nannten. Der Name elektrisierte mich, es war, als setzte er die Atmosphäre unter eine ungeheure Spannung, kurz darauf ging ein heftiges Sommergewitter nieder.
Oder, anders ausgedrückt: Hätte ich Italo Calvinos “Der Baron auf den Bäumen” das erste Mal nicht in einer heruntergekommenen Studentenbude im zweiten Stockwerk eines alten Hauses am Stadtrand gelesen, sondern erst jetzt, hier in Rio, im Erdgeschoss eines Hauses, das sich im Tal zwischen zwei dicht bewaldeten Hügeln befindet – hätte das Buch denselben unauslöschlichen Eindruck auf mich gemacht?
Denke ich an das Buch, denke ich an die Nächte weit geöffneter Fenster. Erinnere ich mich an “Radio Warschau”, kommen mir Bilder in den Sinn, die mir vormachen, die Liebe sei in Winterthur eine komplizierte Sache. Höre ich John Lennons “Imagine”, sehe ich mich als Buben nackt unter der Dusche stehen, der noch keine Ahnung hat davon, wie nah die Erde dem Himmel ist.

Verstehe ich Abendscheins Ansatz richtig und beziehe ich in meine Überlegungen auch die Grundidee der Generativen Grammatik, deren wichtigster Vertreter Noam Chomsky ist, so ist die Spannung, die zwischen all diesen Elementen besteht, die wesentliche Treibkraft des poetischen Schaffens (und Interpretierens), das als Produkt ein Destillat hervorbringt, das nicht im luftleeren Raum hängt, sondern umgeben ist von Schwebeteilchen, die wiederum den Raum strukturieren.

The Chomskytree-Haiku (Rhizome(Rhizome))
TCT-H (R(R))
von Hartmut Abendschein
Eine intermediale Allegorie poetischen Arbeitens
edition taberna kritika, Bern, 2011
Kostenloser Download: http://tcthr.etkbooks.com

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