Zum Abschied ihren Nacken

1
Radio Krakau. Bratschistin des Stadtorchesters im Probejahr. Eine Polin, verheiratet mit einem deutschen Chemiker, aus beruflichen Gründen getrennt lebend. Sie in der Schweiz, er in den Niederlanden. Sie, ein feuriges, schlankes, aufreizendes Plappermaul. Ihn kannte ich nicht, lernte ihn auch nie kennen, was meine Skrupel deutlich minderte.

2
Orszula. Schmeidiges Haar, seidenes Sommerkleid. An jenem Abend sassen wir in einem Gartenrestaurant, das halbe Orchester hatte sich hier versammelt. Aus Orszulas Mund plärrte Radio Krakau und ich, als Literat mehr an Worten als an Musik interessiert, beugte mich weit über den Tisch möglichst nah an ihre Lippen. Ich begleitete sie nach Hause und küsste zum Abschied ihren Nacken.

3
Wenn von Fiktion die Rede ist, muss man auch von der Liebe reden. Während der Tod die Ordnung der Hinterbliebenen durcheinander bringt, stellt die Liebe das Leben des Sterbenden auf den Kopf. Meine Lieben – ich zähle nur jene auf, die ich küssen durfte – hiessen Patricia, Ines, Franziska, Patricia, Judith, Lukrezia, Claudia, Orszula, Nadja und schliesslich Carla, meine Frau.

4
Natürlich liebte ich noch andere Namen. Da waren auch Angela, Dawn, Caroline, Andrea, Lea (die schöne Theologiestudentin), Daria, die Germanistikstudentin, deren Namen ich nie erfuhr, und die vielen anderen, die mir nie über die Lippen kamen. Doch sie zählen nicht. Erst der Kuss macht aus einer Phantasie eine Fiktion. In der Vorstellung des Verliebten küsst es sich in allen Varianten an jedem See, an jedem Strand, in jedem Wald, in jedem Lift, in jeder Gasse, in jeder Nacht, in jedem Bett. In der Fiktion gibt es einen ganz spezifischen Ort für jeden Kuss.

5
Orszulas Lippen küsste ich in der Toskana. Ich war die Nacht durchgefahren, um sie im Hotel zu treffen. Im Morgengrauen traf ich ein, schlaftrunken umarmte sie mich. Niemand durfte von unserer Liebe wissen, zwei Tage lang umschwärmte ich sie aus der Ferne, während sie Bratsche spielte auf den Bühnen eines kleinen Dorfes. Zwei Nächte lang erkundete ich die Spezifikationen unserer Fiktion. Lippen, lernte ich, springen auf in der toskanischen Schwüle.

6
Da unsere Liebe eine verbotene war und niemand davon wissen durfte, bestimmte sie, wann ein Kuss gestattet war. Mitten in der Nacht rief sie bisweilen an, hauchte ins Telefon „Ich habe uns neue Bettwäsche gekauft, willst du sie sehen?“, dann rief ich ein Taxi und fuhr zu ihr. Bettwäsche aus Satin.

7
Orszulas Probejahr neigte sich seinem Ende zu. Bald würde das Orchester in einer Abstimmung darüber befinden, ob sie würde bleiben dürfen oder nicht. Orszula sprach von nichts anderem mehr. Ich erfuhr, dass das Orchester ein Schlangennest war, in dem jeder gegen jeden intrigierte. Orszula hatte Feinde. Da ich mit einigen Musikern damals eng befreundet war, drang Orszula in mich und flehte mich an, meinen Einfluss geltend zu machen.

8
Freundschaften, sagte ich, missbraucht man nicht. Liebe, lernte ich, schert sich einen Dreck darum. Was wäre eine Fiktion ohne Intrige und Verrat?

9
Orszula merkte zu spät, dass ich das Spiel nicht verstand. Damals glaubte ich, Fiktion und Wirklichkeit folgten ihren je eigenen Gesetzen. Sie verlor die Abstimmung, ich verlor Orszula. Wenige Tage nach der Abstimmung sah ich sie mit einem jungen Knaben aus dem Orchester einer benachbarten Stadt. Der Jüngling hängte an ihren Lippen, Radio Krakau vermeldete lachend die Koordinaten einer neuen Fiktion. Beschwingt liess sie mich stehen, ging an mir vorbei, ich sah ihr nach. Sie hob ihr Haar zum Abschied und zeigte mir ihren Nacken.

Kategorie:

Hinterlasse eine Antwort