Ein Gastbeitrag von Joachim Hake
„Ich stehe hier auf einer Plat und muss ertrinken…“ Tjark Evers hat gelebt und ist gestorben. Ein Taschenbuch, ein Halstuch, ein Bleistift und eine Kiste erinnern an ihn in einem Museum auf Baltrum. Am Tag vor Weihnachten 1866 irrtümlich auf einer Sandbank abgesetzt und nicht auf der Insel. Tjark Evers weiß, dass er sterben wird. Und er fängt an zu schreiben, letzte Grüße an seine lieben Eltern, Gebrüder und Schwestern: „Gott erbarme sich / über mich und tröste / Euch ich stecke / dieses Buch in / eine Sigarren / Kiste. Gott gebe daß ihr die Zeilen / von meiner Hand / erhaltet. Ich grüße / Euch zum letzten Mal“. Der tote Körper von Tjark Evers wurde nie gefunden.
Die Novelle Auflaufend Wasser (Göttingen 2013) von Astrid Dehe und Achim Engster nimmt das Schicksal von Tjark Evers auf und birgt sein Leben und Sterben im beklemmend-schönen Lauf ihrer Sätze, die dem Rhythmus der todbringenden Wellen folgen im lakonisch-tröstenden Zählton der Inventuren. Auf einer Plat in der See bleibt nichts als Zählen und Beten, das an die Eltern Denken und das Schreiben. Standgewinnen auf bodenlosem Halt, auf feuchtem Sand, der von Wasser durchspült wird, Stehen und doch nicht stehen können, Gegenhalten, der Druck des Fleisches auf den Bleistift als einzige Gewissheit und schreiben, wenn alles sich auflöst. Im Kopf Erinnerungs- und Hoffnungsfetzen, die im Nebel auftauchen, für einen Moment Kontur gewinnen und verschwinden. Sätze aus dem Lehrbuch der Navigation gehen Tjark Evers durch den Kopf wie die Verse aus dem reformierten Gesangbuch. „Was ihm heute passiert, ist Regel, nicht Ausnahme. (…) Wer ins Watt geht, kommt darin um, früher oder später! So ist das.“
Astrid Dehe und Achim Engstler haben eine dichte Novelle geschrieben. Für Tjark Evers steht auf dem Vorsatzblatt. Ein Buch über den Gott der See und den Gott des Himmels. An den Gott des Himmels und des Advents glaubt Tjark Evers wie seine Eltern und Großeltern und von ihm erwartet er Trost und Gnade. Retten aber kann er ihn nicht. Vor dem Gott der See und des Zornes aber, dämonischen Mächten und Gewalten von Wasser und Nebel, versucht er, Stand zu gewinnen und zu widerstehen.
Auflaufend Wasser ist ein Buch von Widerstand und Ergebung, Todeserwartung und Hingabe. In den Rhythmus der Wellen mischen sich leise Stimmen von Anaximander und Shakespeare, von Luther und Günter Eich, von Gnosis und Mystik. Vor allem aber ist es ein Buch von der rettenden Kraft des Erzählens, „Das bleibt doch von jedem Menschen: was man von ihm erzählt. Das trennt sich ab: der tote Körper, irgendwo, auf einem Friedhof, auf dem Grund der See, und die Geschichte, die am Leben bleibt, über Generationen erzählt und wiedererzählt.“
Zuerst erschienen in: Christ in der Gegenwart, September 2013