towards a definition

Posted on: Februar 7th, 2014 by Ralf Diesel No Comments

Phantastik. Ein interdisziplinäres Handbuch

bd5410c000

Der Begriff Phantastik entstammt einer Übersetzungsleistung, die gerne als fehlerhaft bezeichnet wird: Im Jahr 1828 benutzte Jean Jacques Ampère in einem Artikel die Bezeichnung conte fantastique für E.T.A. Hoffmanns Phantasie- und Nachtstücke, statt conte de la fantaisie. Vielleicht war es auch nur Freiheit oder sogar schon Definition.

Unter der Hand gibt man immer, benutzt man Begriffe, eine Definition. Die hier im Blog unter Phantastik vorgestellten Werke unterstehen einer Definition, die das Genre Fantasy ausschließt. Und wenn hier die Ansicht, purer Horror ist ein Gräuel, vertreten wird, so wird davon ausgegangen, dass Phantastik Horror subsumiert. Ebenso Traum, Spekulatives (um nicht zu sagen Science Fiction), Geister, Homunkuli, Untote, Angst, Übersinnliches, die Wahrnehmung, Psychoanalyse, Groteskes, Utopien und Dystopien, usf.

Diese Positionierung fußt weitestgehend auf der Theorie Tzvetan Todorovs in Einführung in die Fantastik. Klar abgegrenzt sind dort Fantasy und Märchen dadurch, dass in ihnen eine (magische) Welt unhinterfragt in sich funktioniert. Das Hinterfragen der Realität ist dagegen Grundelement der Phantastik. Auch das Hinterfragen der diese Realität störenden Faktoren, sprich: ihr nicht mehr Funktionieren, in der SF dann das andersartige Funktionieren.

Die Begegnung von Rationalem mit Irrationalem bleibt unaufgelöst – ein weiterer Kern der Phantastik. Somit haftet die erzählte(!) Erfahrung weniger am Wunderlichen, Unerklärlichen oder Verstörenden, sondern vielmehr an der rationalen, empirischen Realität. Diese ist wesentlich für die Phantastik, rückt als solche in den Fokus, sie wird mit rhetorischen, ästhetischen und mit Mitteln der Motivik regelrecht bearbeitet. „Unsere“ Realität wird in diesem Prozess hochgradig potenziert – unterstellt man ihr ein kontinuierliches Wackeln, zumindest innerhalb der letzten gut 150 Jahre, ist vielleicht das der Grund für das stetige Anwachsen des Phantastischen nicht nur in der Literatur und anderen Künsten oder in den Medien, sondern auch für die tiefergreifende Behandlung in Theorie und Philosophie. Immer an der Frage entlang: Was geht hier, bei uns, eigentlich vor?

Dieser gewachsenen Bedeutung entspringt das interdisziplinäre Handbuch. Es stellt unter der Hand aber auch eine Definition auf. Und in dieser sind Fantasy und Märchen einbezogen. Ein Streitpunkt. Allerdings einer, um das vorwegzunehmen, an dem sich der Wert des Handbuches nicht ableiten lässt, würde man höchstens das ganze Buch auf Grundlage dessen verwerfen wollen. Letzteres kann und darf gar nicht geschehen, schonmal es ein äußerst breites und tiefes Bild der Phantastik ausstellt. Die Theoriendarstellung ist nicht dem Buch vorangestellt, sondern folgt auf den historischen, in Länder untergliederten Teil, quasi als Verbindungsnaht zum nächsten, dem systematischen. Dieser umfasst die Bereiche der medialen Ausprägung des Phantastischen, selbst bis hin zu Mode und Design, sowie die Bereiche der Genres, der Themen und Motive und der Poetik. Dies die grobe, dabei sinnreiche Gliederung.

An sich schon eine Anstiftung zum Lesen, weg vom Gebrauch des Handbuchs als Nachschlagwerk. Die wissenschaftliche Rhetorik ist je nach Autor von Artikel zu Artikel unterschiedlich ausgeprägt, unterschiedslos wird sich jedoch jede/r Ernstmeinende festbeißen. Es dreht sich um eine kulturwissenschaftliche Auseinandersetzung auf Basis des verwobenen Teppichs des Phantastischen.

Die in diesem Blog vorgenommene, oben angerissene Positionierung fordert allerdings zu einer Kritik heraus: Das Genre Fantasy bezeichnet der Autor des entsprechenden Artikels als „Spielart“ des Phantastischen. Nach der hiesigen Definition ist die Fantasy als Eigenes zu behandeln, auch schon aus ihrer epischen Anlage heraus. Aus Sicht neuerer Theoriebildungen mag das obsolet erscheinen, was die Herausgeber Hans Richard Brittnacher und Markus May im Text zu Phantastik-Theorien anklingen lassen. Doch die sondierte Welt der Fantasy verlangt auch nach einer sondierten Behandlung. Phantastik selber ist nicht sondierend, sondern im Gegenteil einschließend, auch auf der Textebene. Im Artikel zur Science Fiction wiederum sondiert der Autor drei Genres: die SF, die Fantasy – und die Phantastik. Hier ist eine Präzisierung nicht allein wünschenswert, sondern notwendig, ist die SF doch schon als Genre der Phantastik markiert.

Bei allem sind die Artikel zu Fantasy, SF und, nebenbei bemerkt, zu Märchen jedoch schlüssig und, wie alle anderen, aufschlussreich. Dem Verleger wurde Zeit und Geduld abgenötigt. Das nun endlich erschienene Handbuch ist nicht allein den öffentlichen oder Institutsbibliotheken zu überlassen. Es gehört in die eigene. Mit Spannung erwartet, ist es spannender als erwartet. Nein: es ist spannend!

 

Phantastik. Ein interdisziplinäres Handbuch

Hans Richard Brittnacher & Markus May (Hrsg.)

J.B. Metzler Verlag

650 Seiten

64,95

kaufen

Leave a Reply