Peter Horst Neumann: Zu Tadeusz Różewicz’ Gedicht „Steinerne brüder“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

− Zu Tadeusz Różewicz’ Gedicht „Steinerne brüder“ aus dem Lyrikband  Tadeusz Różewicz: Gedichte. Stücke. −

 

 

 

TADEUSZ RÓŻEWICZ

Steinerne brüder

„Liegen und Ruhen
in einer Gruft
unter diesem Stein“
sagen die gotischen lettern
spitz wie ein schwert
in der kathedrale des heiligen Jakob
zu Neisse

Zwei marmorne brüder
noch knaben
Johannes und Friedrich
starben im april und im mai
vor dreihundert jahren

reglos stehen sie
in der marmornen nische
und halten sich an den kalten händen

Der knall war schrecklich
als die stadt versank
um mitternacht heulten sirenen
es war hell
und rot
als hätte man alles blut
in die leeren straßen
gegossen

Die glocken fielen
vom berstenden turm
der kathedrale des heiligen Jakob
die herzen schlugen zu boden
in den kellern erstickten kinder
der alte marktplatz
glühte wie kohle
rauchte bitter
erlosch

Johannes war zehn jahre alt
und Friedrich vier
sie starben im april und im mai
sagen die gotischen lettern
spitz wie ein schwert
nun sehen die kleinen brüder
wie ringsumher
die große welt
sich wandelt

 

Übersetzungsprobleme, deutsch-polnisch

− Zu einem Gedicht von Tadeusz Rózewicz. −

Der polnische Dichter Tadeusz Rózewicz, geboren 1921 in der Woiwodschaft Lodz, wohnte nach 1945 im oberschlesischen Gleiwitz, später in Breslau. Als wir uns Anfang der achtziger Jahre begegneten, stellte ich mich ihm als Oberschlesier vor, geboren in Neiße. Solche Herkunftsmarkierungen waren damals für ein unbefangenes Gespräch mit polnischen Schlesiern nicht unbedingt förderlich. Rózewicz aber entgegnete, er habe auf Neiße ein Gedicht geschrieben. Darauf war ich nicht gefaßt, kannte bis dahin auch nur wenige seiner Verse. Am meisten aber überraschte es mich, daß er die Stadt bei ihrem deutschen Namen nannte – das war eine freundliche Geste. Als ich mit vierzehn Jahren in Aue im Erzgebirge, also in der DDR, meinen ersten Personalausweis beantragte, gab es wegen dieses Namens gewisse Schwierigkeiten: Neiße sei eine Stadt im polnischen Staatsgebiet, jenseits „unserer Friedensgrenze“, wie man mich belehrte, und mithin Nysa zu schreiben. Rózewicz aber hatte ein Gedicht „auf Neiße“ verfaßt. Es steht in seiner 1955 erschienenen Gedicht-Sammlung Srebny klos (Silberähre) und trägt den Titel „Kamienni bracia“. Ich las es zuerst in der Nachdichtung von Karl Dedecius im Rózewicz-Band der Polnischen Bibliothek (Suhrkamp, 1983) −

Hätte man mir diese Verse als den Text eines deutschen Dichters zu lesen gegeben, ich wäre in beruhigtem Einverständnis gewesen. Hier wurde der toten Kinder meiner in den letzten Kriegsmonaten 1945 vernichteten Vaterstadt gedacht. Eines dieser hätte ich selbst sein können. Weil dies nun aber eine Nachdichtung aus dem Polnischen war, ging eine Irritation von den Versen aus, die sich als eine Art Argwohn auf ihren Übersetzer bezog. Unmöglich, dachte ich, konnte Rózewicz den Namen der Stadt und die Eigennamen jener Brüder als deutsche Namen geschrieben haben. Ebenso abwegig schien der Gedanke, das polnische Gedicht könnte mit dem Zitat einer deutschen Inschrift, also mit deutschen Worten beginnen. Hatte nicht der Primas der polnischen Katholiken höchstselbst in Breslau erklärt, daß in Schlesien seit jeher die Steine polnisch redeten? War dies nicht die offizielle Sprachregelung, mit der die Polonisierung vormals deutscher Landesteile legitimiert werden sollte? Und hatte diese in polnischen Schulbüchern damals festgeschriebene Geschichtsklitterung nicht ihre westdeutsche Entsprechung in jenem revisionistischen Slogan „Schlesien bleibt unser“, den die Landsmannschaft der Schlesier noch im Jahre 1985 beinahe zum Motto ihres Deutschlandtreffens in Hannover gemacht hätte? Nein, von einem polnischen Dichter, und gar von einem, den die Volksrepublik just im selben Jahr 1955 mit ihrem Staatspreis geehrt hatte, war mitten im Kalten Krieg und fünfunddreißig Jahre bevor sich die Bundesrepublik Deutschland zur förmlichen Anerkennung der polnischen Westgrenze verstand, kein Gedicht zu erwarten, in dem schlesische Steine deutsch sprechen könnten.
Ein Übersetzungsproblem schien hier vorzuliegen, eins der speziellen deutsch-polnischen Art. Hatte Rózewicz die deutschen Namen und die unzweifelhaft deutsche Inschrift des Epitaphs in der Neißer St. Jakobskirche, in der ich getauft und später Meßdiener war und die übrigens erst nach 1945 in den Rang einer Kathedrale erhoben wurde – hatte er die deutschen Namen in seiner Sprache geschrieben, so entsprach das Gedicht akkurat jener polnischen Geschichtsklitterung. Dann mußte eine sinngetreue Übertragung dem Übersetzer ein delikates Problem bedeuten. Um der offiziellen polnischen Auslegung schlesischer Geschichte gerecht zu werden, hätte er Inschrift und Eigennamen in polnischer Sprache wiedergeben müssen. Übertrug er aber das Ganze wortwörtlich ins Deutsche, so mußte sich die geopolitisch-historische Botschaft der Verse in ihr Gegenteil verkehren, und seine Übersetzung entspräche dann ebenso akkurat dem deutschen Verständnis schlesischer Geschichte. Dies schien hier der Fall. Doch ohne Kenntnis des Originals war diese Ungewißheit nicht zu beheben.
Was zusätzlich irritierte, war eine sprachliche Sonderbarkeit in der dritten Zeile. Im Sammelband der Polnischen Bibliothek lautet sie „under diesem Stein“. Dieses „under“ aus der „vor dreihundert jahren“ gemeißelten Inschrift tönt fast wie eine barockzeitliche Lautung. Sollte Rózewicz sie so zitiert haben, wäre es deutsch gewesen, andernfalls aber das „under“ dem Nachdichter anzulasten, der dann mit Hilfe eines Pseudo-Archaismus versucht haben könnte, der vielleicht polnisch zitierten Inschrift eine barock-deutsche Originalität zu fingieren. Was lag hier vor: ein philologisch-politischer Übersetzungs-Fauxpas oder doch nur die hochgradige Verwirrung eines nachdenklichen Lesers der deutschen Nachdichtung eines polnischen Gedichtes?
Bevor ich es zuließ, daß meine Verehrung für Karl Dedecius ins Wanken geriet, mußte ich ihn selbst befragen und mich urtextkundig machen. Nun erfuhr ich, daß jenes pseudobarocke „under“ nur ein Druckfehler in der deutschen Rózewicz-Ausgabe ist, und sah nun zum ersten Mal das polnische Original des Gedichtes. Meiner vorherigen Zweifel und Vorurteile aber schämte ich mich nicht. Für sie gab es Gründe, und die sind bis heute eine Voraussetzung meines Staunens über diese polnischen Verse aus dem Jahre 1955 geblieben −

„Liegen und Ruhen
in einer Gruft
unter diesem Stein“
mówia gotyckie ostre
jak miecze litery

W katedrze swietego Jakuba
w Nysie

Dwaj bracia marmurowi
mali chlopcy
Johannes i Friedrich
umarli w kwietniu i maju
przed trzema wiekami

(…)

Die Stadt Neiße (in der auch Joseph von Eichendorff starb und begraben liegt) wird im Gedicht so genannt, wie sie heute heißt, Nysa. So hätte sie auch der Übersetzer nennen sollen, um der polnischen Intention der Verse ganz gerecht zu werden. Wie aber wäre das im Original fremdsprachig-deutsche Zitat, die Worte des Epitaphs, in der Nachdichtung wiederzugeben gewesen? Hier war ein Grenze der Übersetzbarkeit erreicht. Vielleicht hätte der Nachdichter in einer Anmerkung darauf hinweisen sollen: Hier wird deutsch zitiert. Fast bin ich ihm dankbar, daß er es unterließ, denn erst durch mein zweifelndes Fragen bin ich Tadeusz Rózewicz wirklich nahegekommen. Das Epitaph spricht in deutsch-gotischen Lettern, und auch die „vor dreihundert jahren“ gestorbenen Brüder behalten ihre angestammten Namen. Sie behalten sie stellvertretend für die im Februar 1945 in den Kellern der untergegangenen Stadt Neiße erstickten Kinder. Ihr Epitaph mit den deutschen Namen ist durch die Verse des polnischen Dichters zu einem Mahnmal für diese Namenlosen geworden.

Peter Horst Neumann, Merkur, Heft 544, 1994

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