DIE ZWÖLF
I
Schwarzer Abend.
Weißer Schnee.
Wind! Wind!
Seht doch, wie er Menschen fällt!
Wind, Wind
Überall auf Gottes Welt.
Wirbelwehn
Weißen Schnees.
Glatteis unterm Weiß.
Erbarmen! −
Alle, die da gehn,
Gleiten aus, die Armen.
Zwischen zwei Häusern ein Draht.
An dem Draht ein Plakat:
Alle Macht dem Verfassungsrat!
Das Mütterchen kann und kann nicht begreifen,
Warum so viel Stoff,
Solch ein mächtiger Streifen
Über der Straße hängt.
Sie schüttelt den Kopf und denkt:
„Viele Fußlappen wärens für unsere Kleinen,
Die vor Kälte weinen…“
Wie ein Huhn trippelt sie
Den Schneedamm hinab.
„Muttergottes, diese Bolschewiki
Bringen uns noch ins Grab!…“
Der Wind peitscht den Frost
Vor sich hin.
Der Bürger dort drüben versteckt erbost
In dem Kragen Nase und Kinn.
Und wer ist denn der da? Mähneschüttelnd steht er
Und murmelt:
„Verräter,
Ihr habt Rußland zugrunde gerichtet…“
Sicher einer, der Reden schwingt – oder dichtet.
Und jener in der Kutte,
Um Schneewehn schleichend, schlaff −
Wie ist dir heut zumute,
Genosse Pfaff?
Sag, denkst du noch daran,
Wie fett du warst? Und auch
Ans Kreuz, das jedermann
Sah schmücken deinen Bauch?
Und die da, karakulkraus,
Sagt zu der da leis:
„Damals weinte das ganze Haus!…“
Und – bauz! −
Fällt aufs Eis.
Ach, och,
Helft ihr doch!
Wie lustig, wie dreist
Ist der Wind,
Der an Röcken reißt
Und Passanten mäht
Und das Riesenplakat
Alle Macht dem Verfassungsrat!
Bald knittert, bald bläht
Und ins Ohr Redefetzen weht:
„Auch bei uns gabs genau
So ’nen Rat, dort im Bau:
Erst Diskussion,
Dann Resolution −
Die Nacht fünfundzwanzig, die Stunde zehn.
Wie wärs nun mit Schlafengehn?“
Spät ist die Stunde,
Die Straße leer.
Ein Vagabund
Schleicht krumm umher.
Der pfeifende Wind geht rund.
Komm doch ran,
Armer Hund,
Küssen wir uns zum Gruß…
Hast du Brot?
Ahnst du, was kommt?
Geh weiter, schon gut.
Himmel, schwarz wie Ruß.
In der Brust aber loht
Eine traurige Wut,
Eine schwarze, heilige Wut.
Genosse,
Sei auf der Hut!
Übersetzt von Alfred Edgar Thoss
I
„Das Werk Alexander Blocks“, schrieb Majakowski nach dem Tod des Dichters im Jahre 1921, „ist eine ganze poetische Epoche, eine Epoche der jüngsten Vergangenheit.“ Während viele Dichter sich noch immer nicht von der Romantik seiner Frühzeit gelöst hätten, sei ihr von anderen längst der Krieg erklärt worden. Sie reinigten die Seele von den Resten des Symbolismus, legen die „Fundamente neuer Rhythmen, türmen die Steine neuer Bilder, fügen die Zeilen mit neuen Reimen“. Sie schaffen die „Poesie der Zukunft“. Alle aber gedächten des Dichters mit Liebe. Block stand an der Schwelle zu dieser „Poesie der Zukunft“. Sein Poem „Die Zwölf“ (1918) war Höhepunkt einer vierzigjährigen Periode der russischen Dichtkunst und Auftakt einer Poesie des realen, geschichtsmächtigen Menschen. Verbindung einer in zwei Jahrzehnten zur Vollendung gebrachten Wort- und Verskunst mit dem Rhythmus, der Sprache, der „Musik“ der Revolution. Das Poem gab in der aktuellen Atmosphäre der ersten Revolutionsmonate eine Philosophie der russischen Geschichte von der visionären Kraft und Epochenbedeutung wie Puschkins „Eherner Reiter“ oder Nekrassows „Wer lebt glücklich in Rußland?“. Block betonte in einer Bemerkung von 1920 ausdrücklich den Zusammenhang der „Zwölf“ mit früheren Dichtungen:
Im Jahre 1918 ergab ich mich ein letztes Mal den Elementen nicht weniger bedingungslos als im Januar 1907 oder im März 1914… Während ich „Die Zwölf“ schrieb, vernahm ich körperlich, mit dem Gehör, mehrere Tage hindurch ein großes Rauschen, ein strömendes Rauschen (wahrscheinlich vom Zusammenbruch der alten Welt).
Unüberhörbar die Erinnerung an das Dionysische, auf dem 1907 das Buch Schneemaske und Faina, 1914 Carmen und 1918 Die Zwölf fußten. Unüberhörbar aber auch die Genugtuung über die sinnliche Konkretheit seines Revolutionserlebnisses. Die Zwölf beschlossen sein Werk, das er als eine „Trilogie der Vermenschlichung“ verstand. Die drei Bände seines gesammelten Werks (1911-12, zweite Redaktion 1916, endgültige 1921) bezeugen den Weg „von einem Augenblick überhellen Lichts durch den unumgänglichen Sumpfwald zu Verzweiflung, Verdammnis, zur ,Vergeltung’… und zur Geburt eines ,gesellschaftlichen‘ Menschen, eines Künstlers, der der Welt mutig ins Auge sieht…“.
Blocks Poem entwirft mit seinen zwölf stilistisch heterogenen Gesängen eine neue Form der epischen Poesie, wie sie dann in Majakowskis, Jessenins, Pasternaks, Bagrizkis oder Selwinskis Poemen weitergeführt und modifiziert wurde. Die souveräne Kreuzung von Umgangsdialog, Losungsforrneln, Soldatentschastuschka, Abschiedsklagelied, Marsch und Romanze in einem Zeit- und Weltanschauungsgedicht revolutionierte aber darüber hinaus die alten Vorstellungen von den Möglichkeiten der Poesie überhaupt und wirkte auch auf Prosa und Dramatik.
An einer Dichtung der Epoche hatte Block schon lange gearbeitet: Zwischen 1909 und 1921 beschäftigte ihn das Poem „Vergeltung“. Zunächst als großes lyrisches Gedicht über den Vater konzipiert, gewann es allmählich eine Weite, die Block mit „die ,Rougon-Macquart‘ im kleinen“ umschrieb. Block wollte seine Zeit fassen. Das verlangte, so schien ihm, eine Disziplinierung des lyrischen Stroms. Das Poem „mit Milieu und Fabel“ versprach die Lösung. Große Teile wurden fertig. Als Ganzes aber blieb das Werk unvollendet. 1915 bekannte Block, die Lyrik habe gesiegt. Die erhoffte poetische Leistung brachten aber andere Werke, besonders die Bücher Jamben und Heimat, zuletzt Die Zwölf und Skythen. Der vorher durch minutiöse, zolasche Rekonstruktion aller Wechselwirkungen zwischen intellektueller Persönlichkeit und Geschichte mühevoll beschworene Kontakt von privatem und nationalem Schicksal wurde nun historisch akut geschlossen. Um endgültig realisiert zu werden, bedurfte die neue Sehweise, an der Block seit 1909 arbeitete, der historischen Erneuerung des Oktobers 1917. Blocks Problem war allgemein: dem lyrischen Subjekt die Körperlichkeit, die Materialität des Tages und der Geschichte zu geben. Ein Problem, an dem von verschiedenen Seiten her Demjan Bedny, Majakowski und Chlebnikow, Pasternak und Jessenin, Anna Achmatowa und Ossip Mandelstam arbeiteten. Und es war gerade die während der Bemühungen um das Poem „Vergeltung“ formulierte Arbeitsweise, die einen bestimmenden Einfluß auf die revolutionäre russische Dichtung haben sollte: „Ich bin es gewohnt“, schrieb Block, „Tatsachen aus allen Lebensbereichen, die mir zu einer Zeit zugänglich sind, zueinanderzuordnen, und ich bin überzeugt, daß sie alle zusammen immer einen einheitlichen musikalischen Impetus schaffen.“ Der Tod Tolstois, der Schauspielerin Komissarshewskaja, des Malers Wrubel, die Krise des Symbolismus, die Londoner Streiks, der „Panthersprung“, Stolypins Ermordung, aber auch der ungewöhnliche Sommer, die ersten Flüge und die Begeisterung für den Ringkampf – Ereignisse des Jahres 1910, sie zusammen hatten für Block einen einheitlichen „musikalischen“ Sinn.
„Musik“ repräsentierte für Block das Schöpferische in der Geschichte, dessen Träger die geschichtsbewußten gebildeten Schichten der alten Gesellschaft und die Volksmassen seien. Die tragische Entzweiung dieser beiden schöpferischen Kräfte des russischen Volkes hatte Block seit 1905 ganz intensiv beschäftigt. Im Gedicht wie in seiner publizistischen Prosa hatte Block dem elementar Schöpferischen des Volkes keinen Weg zu geschichtlichem Wirken gesehen. Die sozialistische Revolution, deren schöpferischen „Arbeitscharakter“ er sofort groß begriff, zerschlug die Knoten. Blocks Geschichtsbegriff hatte zweifellos etwas sozial Metaphysisches. Block verstand die Revolution als verdiente Vergeltung für die sozialen Sünden der Vergangenheit und verteidigte sie gegen die kleinen Ängste der russischen Intelligenz („Lasten auf uns etwa nicht die Vergehen der Väter?“), schloß aber, Alexander Herzen folgend, die Bourgeoisie aus dieser historischen Kette aus. „Politische Ökonomie“ entwürdige den heiligen Zorn gegen die „soziale Ungerechtigkeit“. Der Bourgeois wird als unschöpferisch verteufelt. Die realgeschichtlichen Beziehungen zwischen Bourgeoisie und Proletariat spielen keine Rolle. Um so stärker tritt das Schöpferische der Gegenkräfte hervor, die Block in den „Zwölf“ zum erstenmal episch direkt und in ihrem Verhältnis zur Geschichte darstellen kann.
1909 und 1915 schrieb Block seine hier folgende Autobiographie. Sie bezeugt die Weite des Wegs, eines Wegs durch die Revolutionen, auf dem Block wesentliche Elemente in die russische Poesie und die russische Kultur des 20. Jahrhunderts einbrachte. Er näherte sich einem realen Humanismus, wie er besonders das Werk Maxim Gorkis bestimmte, den er 1907 als die Verkörperung des anderen Rußlands und 1919 als den „Mittler zwischen Volk und Intelligenz“ anerkannte.
II
Alexander Block, Autobiographie
Die Familie meiner Mutter ist der Literatur und Wissenschaft eng verbunden.
Mein Großvater, Andrej Nikolajewitsch Beketow, Botaniker von Fach, war in seinen besten Jahren Rektor der Petersburger Universität (ich wurde auch im „Rektorhaus“ geboren). Die Petersburger Hochschullehrgänge für Frauen, die „Bestushewschen Kurse“ (benannt nach K.N. Bestushew-Rjumin), verdankten ihr Dasein hauptsächlich meinem Großvater.
Er gehörte zu jenen Idealisten reinsten Geblüts, die unsere Zeit kaum mehr kennt. Im Grunde begreifen wir sie gar nicht mehr recht, die eigentümlichen und oft anekdotenhaften Erzählungen von den fortschrittlichen Adligen der sechziger Jahre wie Saltykow-Stschedrin oder meinem Großvater, von ihrem Verhältnis zum Zaren Alexander II., von den Zusammenkünften des Literarischen Fonds und der Borelewschen Mittagsrunde, von der schönen französischen und russischen Sprache und der studierenden Jugend Ende der siebziger Jahre. Diese ganze Epoche russischer Geschichte gehört unwiederbringlich der Vergangenheit an, ihr Pathos ist entschwunden, und ihr Rhythmus mag uns heute allzu gemächlich erscheinen.
In seinem Dörfchen (Schachmatowo, Kreis Klin, Moskauer Gouvernement) pflegte mein Großvater, sein Taschentuch schüttelnd, auf die Vortreppe hinaus zu den Bauern zu treten, ganz wie I.S. Turgenjew, der, verlegen die Farbe am Geländer abpolkend, mit seinen Leibeigenen redete und Bittstellungen jeglicher Art – um des lieben Friedens willen – zu gewähren versprach.
Begegnete mein Großvater einem bekannten Bauern, so klopfte er ihm freundlich auf die Schulter und begann mit den Worten: „Eh bien, mon petit…“ Womit sich die Plauderei meistens erschöpfte. Seine liebsten Gesprächspartner waren dann zwei mir noch gut erinnerliche eingefleischte Spitzbuben: der alte Jacob Fidele, der uns die halbe Hausgerätschaft stahl, und der Gauner Fjodor Kuranow (mit Spitznamen Kuran), der, wie es hieß, einen Mord auf dem Gewissen hatte; sein Gesicht war immer blaurot – von Wodka und, gelegentlich, von Blutergüssen; er kam bei einem „Faustkampf“ ums Leben. Beide waren wirklich klug und sympathisch; ich – wie auch mein Großvater – mochte sie gern, und beide hegten für mich bis zu ihrem Tode große Sympathie.
Einmal sprach mein Großvater einen Bauern an, der einen Birkenstamm aus dem Wald schleppte: „Das ist zu schwer, komm, ich helfe dir.“ Wobei ihm der offenkundige Umstand entging, daß die Birke in unserem Wald gefällt worden war.
Ich selbst habe die besten Erinnerungen an meinen Großvater. Stundenlang konnten wir zusammen durch Wiesen, Sümpfe und Dickichte streifen; manchmal legten wir Dutzende Werst zurück, wenn wir uns im Wald verirrt hatten; wir gruben für die botanische Sammlung Gräser und Kräuter mit den Wurzeln aus; er benannte sie mir und lehrte mich mit dieser Pflanzenbestimmung die Grundlagen der Botanik, so daß mir bis heute zahllose Pflanzennamen geläufig sind. Ich weiß noch unsere Freude über eine außergewöhnliche Blüte des frühen Birnenapfels, die wir fanden, einer Art, die in der Moskauer Flora nicht vorkommt, und über einen kleinblättrigen niedrigen Farn; diesen Farn habe ich seither jedes Jahr auf dem Hügel gesucht, doch nie wieder gefunden; wahrscheinlich war er zufällig, durch Windsaat, dorthin gekommen und ist dann ausgestorben.
Das alles bezieht sich auf die dunklen Zeiten, die nach den Ereignissen vom 1. März 1881 angebrochen waren. Mein Großvater setzte seine Botanikvorlesungen an der Petersburger Universität bis zu seiner Erkrankung fort. Im Sommer 1897 warf ihn ein Schlaganfall nieder. Die letzten fünf Lebensjahre verbrachte er, der Sprache nicht mehr mächtig, im Rollstuhl. Er starb am 1. Juli 1902 in Schachmatowo. Zur Beisetzung wurde er nach Petersburg übergeführt. Zu denen, die seiner sterblichen Hülle vom Bahnhof aus das letzte Geleit gaben, gehörte Dmitri Iwanowitsch Mendelejew.
Dmitri Iwanowitsch spielte eine große Rolle in der Familie Beketow. Meine Großeltern waren eng mit ihm befreundet. Kurz nach der Bauernbefreiung waren er und mein Großvater ins Moskauer Gouvernement gefahren und hatten im Kreis Klin zwei benachbarte Güter gekauft; das Mendelejewsche Boblowo lag sieben Werst von Schachmatowo entfernt, und in meiner Kindheit, besonders aber in meinen Jugendjahren war ich oft dort. Die älteste Tochter Mendelejews aus zweiter Ehe, Ljubow Dmitrijewna, wurde meine Braut. 1903 fand in der Kirche des zwischen Schachmatowo und Boblowo gelegenen Dorfs Tarakanowo unsere Trauung statt.
Die Frau meines Großvaters, meine Großmutter Jelisaweta Grigorjewna, ist die Tochter des bekannten Naturkundlers und Mittelasienforschers Grigori Silytsch Korelin. Während ihres ganzen Lebens war sie mit Kompilationen und Übersetzungen wissenschaftlicher und literarischer Werke beschäftigt. Die Zahl ihrer Arbeiten ist groß; in ihren letzten Lebensjahren bewältigte sie bis zu 200 Druckbogen im Jahr; sie war sehr belesen und beherrschte mehrere Sprachen; sie hatte eine erstaunlich lebendige und eigenständige Weltsicht, einen bildhaften Stil und eine treffsichere, kühne Sprache, die die kosakische Herkunft verriet. Einige ihrer vielen Übersetzungen sind bis heute die unbestritten besten…
Abstraktes und „Verfeinertes“ lagen meiner Großmutter weniger; ihr Stil war allzu lapidar und hatte viel Umgangssprachliches. Ihr äußerst geradliniger Charakter vereinigte sich mit klarem Denken, klar wie die Sommermorgen auf dem Lande, an denen sie sich vor Tagesanbruch an die Arbeit zu setzen pflegte. Dunkel – wie an alles aus der Kindheit – erinnere ich mich an ihre Stimme, an den Stickrahmen, auf dem mit ungewöhnlicher Geschwindigkeit helle Wollblumen wuchsen, an die bunten Flickendecken, die sie aus alten, sorgsam aufbewahrten Stoffresten und Lumpen zusammennähte, und bei alldem an ihre unverwüstliche Vitalität und Lebensfreude, die mit ihr aus unserer Familie geschieden sind. Sie konnte sich einfach der Sonne erfreuen, des schönen Wetters, selbst in ihren letzten Lebensjahren noch, wo sie kränkelte und die Ärzte, bekannte und unbekannte, an ihr zermürbende und sinnlose Experimente übten. All das verminderte nicht ihren unbändigen Lebensdrang.
Ihre Vitalität und Lebensnähe äußerte sich auch in ihrem literarischen Geschmack; bei aller Feinheit des künstlerischen Verständnisses fand sie, daß „Geheimrat Goethe seinen Faust II nur geschrieben hat, um die tiefsinnigen Deutschen zu verblüffen“. Ebenso waren ihr die moralischen Predigten Tolstois zuwider. All das verflocht sich mit einer leidenschaftlichen Romantik, die mitunter in altväterliche Sentimentalität überging. Sie liebte Musik und Poesie und schrieb für mich kleine heitere Verse, in denen jedoch manchmal auch Trauer mitschwang.
Meisterhaft las sie Szenen aus Slepzow und Ostrowski oder verschiedenerlei Tschechow-Erzählungen. Als eine ihrer letzten Arbeiten übertrug sie zwei Tschechow-Erzählungen ins Französische (für die Revue des deux Mondes), wofür Tschechow ihr liebenswürdig dankte.
Leider blieben ihre Erinnerungen ungeschrieben. Ich besitze nur einen Entwurf; sie war mit vielen russischen Schriftstellern ihrer Zeit persönlich bekannt, verkehrte mit Gogol, den Brüdern Dostojewski, A. Grigorjew, Tolstoi, Polonski und Maikow. Ich habe auch noch jenes englische Romanexemplar in Verwahrung, das F.M. Dostojewski ihr seinerzeit persönlich zum Übersetzen gab. Die Übersetzung ist dann in der Zeitschrift Wremja erschienen. Meine Großmutter starb genau drei Monate nach dem Tode meines Großvaters – am 1. Oktober 1902.
In den Töchtern meiner Großeltern, meiner Mutter und ihren beiden Schwestern, lebten die Liebe zur Literatur und das echte Verständnis für deren hohe Bedeutung fort. Sie übersetzten alle drei…
In der Familie meines Vaters spielte die Literatur eine geringere Rolle. Mein Großvater väterlicherseits, Lutheraner, Nachfahre des Leibarztes Zar Alexej Michailowitschs, stammte aus Mecklenburg (ein Vorfahre, der Leibchirurg Iwan Block, hatte unter Paul I. den russischen Adelstitel erhalten). Verehelicht war mein Großvater mit der Tochter des Gouverneurs von Nowgorod – Ariadna Alexandrowna Tscherkassowa.
Mein Vater, Alexander Lwowitsch Block, hatte an der Warschauer Universität als Professor für Staatsrecht einen Lehrstuhl inne. Er starb am 1. Dezember 1909. Mit seinem Fachgebiet waren seine Tätigkeit und auch seine wohl weniger wissenschaftlichen als künstlerischen Ambitionen keineswegs ausgeschöpft. Sein Lebensweg ist dunkel, merkwürdig und erfüllt von komplizierten Widersprüchen. Er veröffentlichte lediglich zwei kleinere Bücher (die lithographierten Vorlesungen nicht gerechnet) und arbeitete in den letzten zwanzig Jahren an einem Werk über die Klassifikation der Wissenschaften. Hervorragender Musiker, Kenner der schönen Literatur und feiner Stilist, rechnete er sich zu den Schülern Flauberts. Das mag auch der wesentliche Grund dafür gewesen sein, daß er so wenig geschrieben und das Hauptwerk seines Lebens nicht zu Ende geführt hat; es gelang ihm nicht, seine unaufhörlich sich verzweigenden Ideen in die prägnante Form zu bringen, die er suchte. Diese Suche nach der dichtesten Form hatte etwas Verbissenes, Erschreckendes, wie auch seine gesamte seelische und physische Gestalt. Ich habe ihn wenig gesehen, doch ist mir sein Bild unauslöschlich in Erinnerung.
Die Kindheit verbrachte ich in der Familie meiner Mutter. Hier liebte und erfaßte man das Wort; hier walteten die althergebrachten Vorstellungen von literarischen Werten und Idealen. Vulgär – à la Verlaine – gesagt, behauptete hier die „éloquence“ das Feld; nur meine Mutter neigte zu beständiger Auflehnung und ruhelosem Interesse für das Neue; und besonders sie förderte meine Liebe zur musique. Im übrigen gab es niemanden in der Familie, der mich in irgendeiner Weise drangsaliert hätte; alle liebten und verhätschelten mich. Und der guten alten „éloquence“ schulde ich ewigen Dank, weil durch sie die Literatur für mich nicht erst mit Verlaine und der Dekadenz anfing.
Quelle meiner ersten Inspiration war Shukowski. Seit frühester Kindheit erinnere ich mich der immer wieder auf mich zurollenden lyrischen Wogen, die kaum noch mit greifbaren Namen verbunden waren. Es sei denn mit dem Namen Polonski und dem ersten Eindruck von seiner Dichtung.
Die „Lebenserfahrungen“ währten nicht lange. Dunkel erinnere ich mich an die riesigen Petersburger Wohnungen mit einem Haufen Leute, mit einer Amme, mit Spielzeug und Weihnachtsbäumen – und an die duftverströmenden Walddickichte unseres kleinen Gutes. Mit fünfzehn erlebte ich die erste bewußte Liebessehnsucht und mit ihr die erste Anwandlung von Bitterkeit und Ironie, die Jahre später in meinem ersten dramatischen Versuch („Der fahrende Komödiant“, lyrische Szenen) ihren Niederschlag fand. Zu „dichten“ begann ich wohl schon mit fünf Jahren. Weit später erst gründete ich gemeinsam mit Cousins und weitläufigen jüngeren Verwandten das Journal Westnik, das wir handschriftlich in einem Exemplar „herausgaben“ und bei dem ich drei Jahre als Redakteur und fleißiger Autor figurierte.
Ernsthaft ans Schreiben machte ich mich mit etwa achtzehn Jahren. Drei oder vier Jahre lang ließ ich das Geschriebene nur meine Mutter und meine Tante sehen. Es waren lyrische Verse, und bis zum Erscheinen meines ersten Bandes (Verse von der Schönen Dame) hatten sich an die 800 Gedichte angesammelt (ohne die frühen Jugendgedichte), von denen ungefähr 100 in die Ausgabe aufgenommen wurden. Manches von dem Alten veröffentliche ich bis heute gelegentlich in Zeitungen und Zeitschriften.
Unsere Familientradition und mein abgekapseltes Dasein bewirkten, daß ich bis zu den ersten Semestern an der Universität keine einzige Zeile von der sogenannten „neuen Poesie“ gelesen hatte. Hier ergriff, im Zusammenhang mit starken mystischen Liebeserlebnissen, die Poesie Wladimir Solowjows ganz von mir Besitz. Bis dahin war mir die Mystik, die die letzten Jahre des alten und die ersten Jahre des neuen Jahrhunderts beherrschte, unverständlich; mich beunruhigten wohl Zeichen, die ich in der Natur sah, doch hielt ich das alles für „subjektiv“ und hütete mich, anderen davon zu erzählen. Nach außen hin befleißigte ich mich damals der Schauspielerei, deklamierte hingebungsvoll Maikow, Feth, Polonski, Apuchtin und spielte in Laienaufführungen im Hause meiner künftigen Braut den Hamlet, den Tschazki, den Geizigen Ritter und… Vaudevilles. Die klardenkenden und nüchternen Leute meiner Umgebung bewahrten mich wohl vor den Umtrieben der mystischen Scharlatanerie, die einige Jahre später in bestimmten literarischen Kreisen in Mode kam. Zum Glück und Unglück kam die „Mode“ – wie gewöhnlich – erst auf, als sich innerlich alles wieder geglättet hatte. Als die Elemente, die unter dem Erdboden tobten, an die Oberfläche schlugen, sammelte sich eine große Schar von Liebhabern leichter mystischer Kost. Auch ich entrichtete in der Folgezeit meinen Tribut an diesen neuen schimpflichen „Trend“, doch geht das bereits über den Rahmen der Autobiographie hinaus. Wer sich dafür interessiert, sei auf meine Gedichte und auf den Artikel „Über den gegenwärtigen Stand des russischen Symbolismus“ (Zeitschrift Apollon, 1910) verwiesen. Doch zurück zum Thema.
Infolge meiner völligen Ignoranz und meines Unvermögens, mit der Welt in Kontakt zu treten, unterlief mir einmal eine peinliche Sache, an die ich heute mit Lächeln und Dankbarkeit zurückdenke: An einem regnerischen Herbsttag (des Jahres 1900, wenn ich nicht irre) ging ich zu einem (heute bereits verstorbenen) alten Bekannten unserer Familie, Viktor Petrowitsch Ostrogorski. Er war Redakteur der Zeitschrift Mir boshi (Gotteswelt). Ohne zu sagen, wer mich schickte, überreichte ich ihm klopfenden Herzens zwei kleinere Gedichte, die unter dem Eindruck der Wasnezowschen Fabelwesen Sirin, Alkonost und Gamajun entstanden waren; Er überflog die Gedichte, sagte: „Daß Sie sich nicht schämen, junger Mann! So was zu treiben, während in der Universität Gott weiß was im Gange ist!“ – und geleitete mich mit grimmigem Wohlwollen hinaus. Damals war ich beleidigt, doch heute erinnere ich mich daran lieber als an die späteren Lobpreisungen.
Danach unterließ ich es lange, mich irgendwo anzubieten, bis man mich 1902 an B. Nikolski empfahl, der damals gemeinsam mit Repin eine Studentenanthologie vorbereitete. Ein Jahr später begann ich bereits „ernsthaft“ zu publizieren. Die ersten Leser, die unvoreingenommen auf meine Gedichte aufmerksam wurden, waren Michail Sergejewitsch Solowjow und Olga Michailowna Solowjowa (eine Cousine meiner Mutter). Meine ersten Veröffentlichungen erschienen 1903 in der Zeitschrift Nowy putj und – etwa zur gleichen Zeit – im Almanach Sewernyje zwety.
Siebzehn Jahre meines Lebens wohnte ich in der Kaserne des Leibgardegrenadierregiments (als ich neun war, hatte meine Mutter ein zweites Mal geheiratet; mein Stiefvater, F.F. Kublizki-Piottuch, diente in diesem Regiment). Nach Abschluß des Petersburger Wwedenski-Gymnasiums (heute nach Zar Peter dem Großen benannt) nahm ich das Studium an der Juristischen Fakultät einer Petersburger Universität auf; dies reichlich unbedacht, denn nach dem dritten Semester wurde mir klar, daß ich zur Jurisprudenz gar keine Beziehung hatte. Im Jahre 1901, das sehr wichtig und für mein weiteres Schicksal entscheidend war, wechselte ich auf die Philologische Fakultät über, die ich im Frühjahr 1906 mit dem Staatsexamen in der slawisch-russischen Fachrichtung abschloß.
Die Universität spielte in meinem Leben eine unwesentliche Rolle, doch vermittelte mir die Hochschulausbildung eine gewisse geistige Disziplin und die üblichen Fertigkeiten, die mir bei historisch-literarischen Studien und eigenen kritischen Abhandlungen wie auch bei der künstlerischen Tätigkeit (Material für das Drama „Die Rose und das Kreuz“) sehr zugute kommen… Gelänge mir die Zusammenstellung eines Bandes mit meinen Aufsätzen und Artikeln, die in einer Vielzahl verschiedener Ausgaben verstreut sind und noch einer gründlichen Umarbeitung bedürfen, so würde ich für ihren wissenschaftlichen Gehalt in erster Linie der Universität zu danken haben.
Mein „selbständiges“ Leben begann eigentlich erst nach Abschluß der Universität. Ich schrieb weiterhin Gedichte, die seit 1897 alle als Tagebuch betrachtet werden können, verfaßte im Jahr meines Universitätsabschlusses die ersten Stücke in dramatischer Form; Hauptthemen meiner Aufsätze (außer den rein literarischen) waren „die Intelligenz und das Volk“, das Theater und der russische Symbolismus (nicht nur als literarische Schule gefaßt).
Jedes Jahr meines bewußten Lebens trägt für mich eine bestimmte Farbe. Von den Ereignissen, Erscheinungen und Tendenzen, die in dieser oder jener Weise besonderen Einfluß auf mich hatten, sind folgende zu nennen: die Begegnung mit W. Solowjow (den ich eigentlich nur von weitem zu Gesicht bekam), die Bekanntschaft mit M.S. und O.M. Solowjow, mit S.N. und D.S. Mereshkowski und A. Bely; die Ereignisse der Jahre 1904 und 1905; das Bekanntwerden mit dem Theatermilieu, das im Schauspielhaus der verstorbenen W.F. Kommissarshewskaja begann; der rigorose Niedergang überkommener literarischer Gepflogenheiten und der Beginn der „Fabrik“-Literatur parallel zu den Ereignissen des Jahres 1905; die Beschäftigung mit dem Werk von August Strindberg (zunächst über den Dichter W. Pjast); drei Reisen ins Ausland: Italien – Nord- (Venedig, Ravenna, Mailand) und Mittelitalien (Florenz, Pisa, Perugia und viele andere Städte und Orte von Umbrien); Frankreich (Norden der Bretagne, Pyrenäen – Umgebung von Biarritz, einige Male Paris), Belgien und Holland; außerdem fuhr ich eigentümlicherweise alle sechs Jahre nach Bad Nauheim (Hessen-Nassau), an das mich besondere Erinnerungen binden.
In diesem Frühjahr (1915) hätte ich Zum viertenmal dorthin reisen sollen; doch in die persönliche und niedere Mystik meiner Reisen nach Bad Nauheim mischte sich die allgemeine und höhere Mystik des Krieges.
Juni 1915
III
Unsere Auswahl folgt der komplizierten Bauweise der „Trilogie der Vermenschlichung“, Die Vorgriffe und Rückläufe dieses dramatischen Prozesses müssen freilich in der Beschränkung weniger heftig erscheinen. Tatsächlich ist Blocks Werk nur zu begreifen, wenn man das schroffe Nebeneinander der Stile akzeptiert. In Blocks System der lyrischen Stile, das nicht logisch auflösbar ist, wurde die russische Poesie gesammelt und neu gewonnen. Ossip Mandelstam formulierte den Zusammenhang dieses stilstrengen Sammelns alles „Einheimischen“ und des Geschichtssinns:
… Block hatte eine geschichtliche Liebe, eine geschichtliche Objektivität zur einheimischen Periode der russischen Entwicklung, die im Zeichen der Intelligenz und der Volkstümler stand. Die schweren dreisilbigen Takte Nekrassows waren für ihn erhaben wie Hesiods Werke und Tage. Die siebensaitige Gitarre, die Freundin Apollon Grigorjews, war für ihn nicht weniger heilig als die klassische Lyra. Er nahm die Zigeunerromanze auf und machte sie zur Sprache der Volksleidenschaft. Es scheint, als wehe von der hohen mathematischen Stirn der Sofia Perowskaja im gleißenden Licht Blockscher Erkenntnis der russischen Realität schon die Marmorkühle wirklicher Unsterblichkeit.
Man wundert sich nicht über Blocks Gefühl für Geschichte. Schon lange bevor er uns beschwor, die Musik der Revolution zu hören, hörte er die unterirdische Musik der russischen Geschichte – dort, wo selbst das angestrengteste Ohr nur eine synkopische Pause vernahm.
Obwohl Block seine Grundsymbolik der „Morgenröten“, „Sonnenuntergänge“, „Nebel“, „Winde“ und „Schneestürme“ ständig variierte und in neuen Zusammenhängen aufsuchte, hielt er sein System ziemlich konstant: Es repräsentierte ihm die Einheit des menschlichen Schicksals. Die Stilstationen seines Werks, die die Auswahl belegt, lassen sich etwa wie folgt beschreiben:
Blocks lyrische Anfänge standen unter dem Einfluß russischer Dichter der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Tjutschews, Apuchtins und Feths, und des Mystikers Wladimir Solowjow. Im Bild der „Ewig-Jungen“, der „Schönen Dame“, der „Herrscherin des Weltalls“, der „Geheimnisvollen Jungfrau“, das mit dem Prinzip zugleich die Geliebte meinte – Ljubow Dmitrijewna Mendelejewa, Blocks spätere Frau, versuchte der Dichter, die ersehnte Gestalt des neuen harmonischen Menschen, das Bild eines „goldenen Zeitalters“ aufzurufen.
Schon im Herbst 1902 setzte Block gegen Milde und Demut des Kults der „Schönen Dame“ eine „grausame Harlekinade“, die dann in seinem ersten lyrischen Drama „Die Schaubude“ (1906) ihre äußerste Zuspitzung erfährt. Die „Jungfrau aus dem fernen Land“, die „blasse Freundin“ erweist sich als Colombine, Pierrots Geliebte, Das Mysterium wird zur Posse, das „letzte Abendmahl“ findet in der Schaubude statt. Die Revolution von 1905 entdeckte dem Dichter das „wahre Gesicht des erwachten Lebens“, Hier begann seine Lösung vom Symbolismus, die er 1910 endgültig formulierte. Im Sommer 1905 entstand das Gedicht „Herbstliches Befreitsein“, das Blocks Rußlanddichtung einleitete. „… Träume und Nebel, mit denen die Seele ringt, um ein Recht auf das Leben zu gewinnen, Einsamkeit, Finsternis, Stille“ charakterisieren seinen ersten Band Verse von der Schönen Dame. Sein zweiter Band Unverhoffte Freude (1904-06) wurde das Buch des Übergangs. Die „grausame Harlekinade“, im Herbst 1902 als ironische Umdeutung der Mystik Solowjows begonnen, führte unter dem Eindruck Nekrassows und Apollon Grigorjews zu einer Natur- und Stadtmystik, einer „Mystik des Alltags“. Die Stadt erscheint im Widerstreit von Schönheit und Trivialität. Trivialität wird geheimnisvoll erhöht. Bekanntestes Beispiel das Gedicht „Die Unbekannte“. „Welttrunkenheit“, „Boheme der Seele“ nennt Block das Lebensgefühl dieser Zeit, die von den Büchern Schneemaske, Faina und Freie Gedanken beschlossen wird. Der Versuch, auf dem Weg des lyrischen Dramas die gesuchte Objektivierung der inneren Kämpfe zu erreichen, war nicht erfolgreich. Sie glückt erst in der intimen Anstrengung des Historischen in den Büchern Heimat und Jamben. 1908 entsteht der Zyklus „Auf dem Kulikowo-Felde“. 14. und 20. Jahrhundert werden konfrontiert. Diese Schlacht vom 7. zum 8. September 1380 gehöre, meinte Block, zu den symbolischen Ereignissen der russischen Geschichte, deren Enträtselung noch bevorstehe. Block hielt die Spannungen zwischen Volk und Intelligenz, die ihn in dieser Zeit beschäftigten, für bedeutend genug, um gerade ihnen jenes Ereignis zu assoziieren; das das russische Volk vor 500 Jahren vom tatarischen Joch befreite und eine selbständige nationale Entwicklung ermöglichte. „O mein Weib, meine Ruß! Wie schmerzhaft / Lang ist der Weg! / Der Weg, der geht durch die Brust / Wie ein Pfeil der freien Tataren.“ Der lange Weg und die ewige Unrast, die an Gogols dramatisches Rußlandbild erinnern, würden von nun an die gesamte Bildstruktur der Rußlanddichtung bis hin zu den „Zwölf“ bestimmen, die den dritten, abschließenden Band der „Trilogie der Vermenschlichung“ bildet.
Block weiß, daß das neue Rußland wächst „im Herzen der russischen Revolution“, mit deren Gewitter kein Blitzableiter fertig werden würde. Der reinigende Sturm, der die „schreckliche Welt“, die Welt der „Totentänze“, wie der Zyklus der Jahre 1912-14 heißt, hinwegfegen werde, mache aber den Menschen der alten Zeit, als der Block sich verstand, zum Opfer der unerhörten Widersprüche des Übergangs. Mehrere Dichtungen, die die neue Situation des Dichters fassen sollten, blieben unvollendet oder schlugen fehl. Sie wiesen aber, wie besonders das 1909 entworfene Poem „Vergeltung“ in ihrer neuen Konzeption auf die bevorstehenden „unerhörten Veränderungen“. Das Drama über „die Wiedergeburt Rußlands durch die Fabrik“, an dem Block 1913-16 arbeitete, werde einem anderen zur Vollendung aufgetragen, meinte er – „keinem Liberalen und keinem Konservativen, sondern einem Ruhelosen wie mir“. Es seien dafür noch „mehrere (sogar historische) Anläufe nötig“. Geschrieben hat es dann tatsächlich mit einer völlig neuen Sinngebung der Wiedergeburt Rußlands durch die Fabrik Wladimir Majakowski als Poem „Wladimir Iljitsch Lenin“, wobei Vergangenheit nicht länger als „Vergeltung“, sondern als geschichtliche Leistung begriffen wurde.
Block hatte die nahende Revolution vorausgesagt. Als sie vollzogen wurde, stand er auf ihrer Seite. Anfang November 1917 berief das Zentrale Exekutivkomitee die bedeutendsten Vertreter der Petrograder Intellektuellen in den Smolny, um über ihre Mitarbeit zu beraten. Unter den wenigen, die erschienen, waren Wsewolod Meyerhold, Wladimir Majakowski und Alexander Block. „Kann die Intelligenz mit den Bolschewiki zusammenarbeiten?“ fragte eine bürgerliche Zeitung. Block antwortete: „Sie kann und muß.“ Mit dem polyphonen Bau seines Poems „Die Zwölf“, in dem die Konzeption der gesamten Trilogie gipfelte, erreichte Block als erster geschichtliche Repräsentanz für die nachrevolutionäre russische Poesie. Er hob die ekstatische Doppelweltsymbolik der „Schneemaske“ – Kälte-Sturm −, die im zweiten Band bis zum „Schnee-Brand“, „Schnee-Feuer“ getrieben worden war, auf. Das Christussymbol gehörte zum System dieser Aufhebung ebenso wie die Hereinnahme der aktuellen Atmosphäre und der Eifersuchtstragödie, des Vorstadtdramas. „Ich habe nur konstatiert“, schrieb Block in einem Kommentar. „Wenn man auf diesem Weg in die Säulen des Schneesturms blickt, sieht man ,Jesus Christus‘. Aber manchmal hasse ich dieses weibische Gespenst selbst.“
Unmittelbar nach den „Zwölf“ und konzeptionell eng mit dem Poem verbunden, entstand im Januar 1918 die Dichtung „Skythen“. Die neue Persönlichkeit, den Menschen der Massen, in dessen tragische Verkettung Block zweifellos seine eigenen Widersprüche hineinprojizierte, faßte er in den „Skythen“ in philosophisch-historischer Verallgemeinerung: Die neuen „Barbaren“ bieten eine Alternative zur „alten Welt“. Wiedergeburt verspricht nur die Besinnung auf diese schöpferische Ursprünglichkeit.
Der Zusammenbruch der alten Welt war für Block von geschichtlicher Folgerichtigkeit. Er fand ihn in seiner Trilogie, die er 1921 mit den Erfahrungen der Revolutionsjahre zum drittenmal bearbeitete, vorgebildet, Die Bemühungen seiner letzten Jahre kreisten aber vor allem um die inneren Spiegelungen der neuen Zeit, um die Gestalt seines „neuen Menschen“. Es sind nach den bei den Poemen des Januars 1918 vor allem vier Vorträge, in denen Block die Konzeption des „neuen Menschen“ entwickelt und damit zugleich einen umfangreichen Kommentar zu seinem Weg von den Versen von der Schönen Dame zu den Zwölf vortrug: „Intelligenz und Revolution“ (1918), „Catilina“ (1918), „Der Zusammenbruch des Humanismus“ (1919) und die Puschkin-Rede „Über die Bestimmung des Dichters“ (1921). „Intelligenz und Revolution“ und „Der Zusammenbruch des Humanismus“ formulierten die „Wucht der russischen Revolution“, der gegenüber der Krämerstil der liberalen russischen Intelligenz unwürdig sei. Diesen großen Revolutionsbegriff untersuchte Block in dem Vortrag „Catilina. Eine Seite aus der Geschichte der Weltrevolution“ auf seine möglichen poetischen Erscheinungsformen. Block wählte ein scheinbar entlegenes Beispiel: Die Bedeutung der römischen Verschwörungen Catilinas im ersten vorchristlichen Jahrhundert und deren verdeckte Spiegelung in einem Gedicht des Catull. Block entwickelte hier seinen Entwurf jener neuen Geschichtsmächtigkeit, der die russische Lyrik unter dem maßgeblichen Einfluß Blocks zustrebte. Er schrieb: „… in der poetischen Empfindung der Welt gibt es keine Trennung zwischen Persönlichem und Allgemeinem; je sensibler ein Dichter ist, um so unzertrennlicher empfindet er ,Eigenes‘ und ,Nicht-Eigenes‘; daher sind die zartesten und intimsten Sehnsüchte der Seele des Dichters in Zeiten der Stürme und Katastrophen übervoll von Sturm und Katastrophe.“
Fritz Mierau, Nachwort
gehört zu den größten Dichtern der ersten Jahrzehnte unseres Jahrhunderts. Er war ein Romantiker, dessen Werk einen Bogen von den letzten Höhen der vorrevolutionären zu den weltbewegenden Anfängen der sowjetischen russischen Poesie schlägt. Bei Block sind das Thema der „schrecklichen Welt“ bürgerlicher Wirklichkeit mit dem romantischen Thema der Zukunft, das Thema der Liebe mit dem Thema Rußlands verbunden. Er selbst schrieb: „In der poetischen Weltsicht gibt es keine Trennung zwischen Persönlichem zum Gesellschaftlichem; je feinfühliger der Dichter ist, um so inniger verflechten sich in seinem Fühlen das Eigene und das Nichteigene, deshalb füllen sich in Epochen der Stürme und Unruhen auch die zartesten und intimsten Bestrebungen seines Herzens mit Sturm und Unruhe.“ Unser zweisprachiger Band enthält Gedichte aus den Jahren 1899 bis 1918.
Verlag Volk und Welt, Begleitzettel, 1970
− Der charakteristische Weg des sowjetischen Lyrikers Alexander Block / Notizen zum Gedichtband Schneegesicht. −
Alexander Block – der große Dichter des russischen Symbolismus. 1880 geboren, 1921 gestorben. Ein Dichter zwischen den Zeiten. Am Anfang das Fin de siècle, am Ende die Revolution. Und beides hat in seinen Gedichten vollkommenen Ausdruck gefunden.
Die Verse des Jungen Poeten besingen romantisch empfindsam die „schöne Dame“, die „Unbekannte“, und die Wirklichkeit von St. Petersburg verflüchtigt sich im Dämmerlicht der Jahrhundertwende, wird von der Sensibilität des Dichters umgewandelt in eine Seelenlandschaft unstillbarer Sehnsucht. Das mondäne Parfüm der Dekadenz und der Weihrauch der Mystik wölken darin auf. Irreale Welt aus Rausch und Demut. Melancholie. Ein Zaubergarten des Gefühls in irisierenden Farben. Der Widerstreit zwischen keuscher, scheu verehrender Verherrlichung der Frau und verführerischem Berauschtsein von Wein und erotischem Verlangen wird fast zum raffinierten Selbstgenuß.
Anders klingt Blocks Stimme 1918. Im großangelegten Poem Die Zwölf‘ werden der Marschschritt der Revolution und der die Straßen Petrograds peitschende Schneesturm eins. Alle Hektik der erregten Zeit fängt die hektische Bewegtheit der Sprache ein, die abrupt von Wirklichkeitsfragment zu Wirklichkeitsfragment springt. Bejaht werden das Chaotische, das Zerstörerische, das Gewaltsame. Unerbittlich ist die Verurteilung der alten Welt, scharf und sarkastisch. Und das Einverständnis des Dichters mit der Revolution wird in einer Vision von gewaltiger Kühnheit gegeben: Einer Rotarmistenpatrouille schreitet Jesus Christus voran.
Weit mehr als eine dichterische Metapher
Christus unter der roten Fahne. Die durch die Stadt marschierenden Rotgardisten sind zwölf, wie die Jünger Jesu. Dieses Bild ist mehr als eine grandiose dichterische Metapher. Es reißt, über das Gedicht hinausweisend, geschichtsmächtige Räume von unerhörten geistigen Dimensionen auf. Die Revolution ist begriffen als Weltenwende. Ihrer radikalen Energie kann nur der umfassendste Blick in diese weitesten Räume genügen. Und so sehr, wie auch in dem fast gleichzeitig entstandenen Gedicht „Die Skythen“, in dem Rußland als Sphinx der alten Welt Europas gegenübersteht und zum letztenmal die Besinnung, das Bruderfest und die Friedensfeier fordert, die geschichtsphilosophischen Grundlagen und Aussagen weit eher metaphorisch und mystisch als von objektiver Realität bestimmt sind mit einmaliger Kraft ist jedenfalls darin als Vision, Beschwörung, Symbol das Epochale der Situation formuliert.
Freilich: So scharf kontrastierend, wie es hier erscheinen mag, stehen sich der Dichter der „Verse von der schönen Dame“ und der Dichter der Zwölf nicht gegenüber. Es gibt Verbindungen, Uebergänge. Nicht unvorbereitet hat Block die Revolution getroffen. Schon vorher weitete sich sein Blick. Rußland wurde ihm zum Thema, tragisch und groß. Er beschwor Historie, die Mongolenzeit, die Schlacht auf dem Kulikowo-Felde. Er entwarf den Mythos eines von zielloser Unruhe bewegten Landes, unendlich geliebt in seiner Armut, mit seinen Relikten barbarischer Vergangenheit, und Bilder des Zukünftigen traten hinzu. Und wie sein Weltverständnis wandelte sich sein Selbstverständnis. Als „ein Kind des Lichts“, als „ein Sieg der Freiheit“ wünschte er von den Späteren verstanden zu werden.
Die Stufen der Entwicklung sind verdeutlicht
In der Lyrikreihe des Verlags Volk und Welt ist, herausgegeben von Fritz Mierau, in zweisprachiger Ausgabe eine Auswahl von Gedichten Alexander Blocks unter dem Titel Schneegesicht erschienen. Sie ist so angelegt, daß in ihr der Entwicklungsweg des Dichters verdeutlicht wird. Als einen Mangel kann man lediglich empfinden, daß nicht eben auch „Die Skythen“ aufgenommen sind, denn dieses Gedicht ist nicht weniger als Die Zwölf grundlegend für das Verständnis Blocks und seiner Haltung zur Revolution.
Eine ganze Anzahl Nachdichter wurde bemüht. Die meisten Uebertragungen stammen von Sarah Kirsch und Karl Mickel. Oft hat die faszinierende Schönheit der Blockschen Poesie eine nicht minder faszinierende deutsche Sprachgestalt gefunden.
H. U., Neue Zeit, 16.1.1971
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