Marina Zwetajewa: Gedichte • Prosa

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Marina Zwetajewa: Gedichte • Prosa

Zwetajewa/Gontscharowa-Gedichte • Prosa

DER DICHTER

1

Poet – aus Fernen führt er her die Rede.
Poet – die Rede führt ihn fort in Fernen.

Planetenschrift, der Zeichen Drift – mäandernd
Die Gleichnis-Landfahrt… zwischen Ja und Nein −
Vom Glockenturm sich schlagend – zwingt des
aaaaaandern
Tons Bogen er… Kometen-Flug heißt sein

Spazierpfad. Glieder, aus der Reih gerissen
Der Gründe, heißt – verbunden! Blickt empor,
Verzweifelt! Seiner Sonnen Finsternisse
Sieht kein prognostischer Kalender vor.

Er ist’s, der durcheinanderwirft die Karten,
Er, der Gewicht und Zählung fälscht und Geld,
Er ist’s, der aus der Schulbank Fragen startet,
Der Kant aufs Haupt schlägt, auf den Kopf ihn stellt.

In Kerker eingesargt, entfaltet
Baum-schön des Baumes Bildnis er…
Er, dessen Spuren immer kalt sind,
Er ist der Zug, der abfährt, leer,
Den jedermann versäumt…
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaKometen-Flug,

Poeten-Flug: er brennt, doch ohne Wärme,
Pflückt ab, doch zieht nicht auf – er sprengt, bricht ein!
Die Bahn, gekrümmt, geschweift, Poet, dein Schwärmen
Trägt kein prognostischer Kalender ein!

8. April 1923

2

Sie sind, die übrig sind, erläßlich
(Und der Gesichtskreis schließt sie aus),
Nicht aufzählbar für euer Welt-Adreßbuch:
Das Abfalloch ist ihnen – Haus.

Sie sind die nackt Gebliebenen, Verjagten,
Stumm euch wie Mist, und wortlos – Vieh,
Sind eurem seidenen Saum – ein Nagel!
Den Räderwurfdreck ekeln sie.

Sie treten in den Schein, nicht in Erscheinung.
(Ihr Signum: Lepraschuppen, Grind!)
Die Welt hat Hiobs, die des armen einen
Jobs ärmere Neider sind:

Poeten – wir −, auf Parias das Reimwort!
Und über ihre Ufer-Wand
Aufsteigend: Gott den Göttinnen entreißen!
Die Jungfrau aus der Götter Hand!

22. April 1923

3

Sagt schon, was bleibt mir Stiefbalg und Blinden
In einer Welt, die Augen und Väter bescheint,
Wo über Flüche, wie Straßen, hinweggeht
Das Grauen! Erkältet gilt, der weint!

Sagt schon, was bleibt durch Rippe und Schicksal
Sängerin! Wie Trunksucht! Sibirien! Brand!
Brücken sind meine Gesichte! Gewichtlos,
Wo Wägstücke lauern in jeder Hand.

Sagt schon, was bleibt mir Sängerin und Ersten
In einer Welt, die im Grau ihr Schwarz vergaß!
Wo Einfälle in Thermosflaschen krepieren!
Maßlosigkeit in einer Welt nach Maß?!

22. April 1923

Übersetzt 1 + 2 von Elke Erb, 3 von Richard Pietraß

 

 

Unglück im Unglück

– Zu einem Gedicht Marina Zwetajewas. –

Statt mich langwierig zu erinnern, was sich wann und warum zu meiner schwierigsten Übersetzung eines Gedichts auswuchs, wage ich die Rolle rückwärts zu meinen Anfängen. Mit ihr lande ich im Jahr 1974, dem Erscheinungsjahr meines Poesiealbums. Meine unbändige Freude auf dies schmale Heft, das mein Debüt wurde, doppelte sich durch die mich zugleich ehrende wie beschwerende Einladung Fritz Mieraus, für ein Album Marina Zwetajewas (1892–1941) ein Gedicht zu übertragen, das, wie ich bald bemerkte, ein Füllhorn von Schwierigkeiten barg. Es handelte sich um das Schlußgedicht des dreiteiligen Zyklus Der Poet von 1923, dessen ersten Teile, wie ich mit Erscheinen des Heftes erfuhr, Elke Erb anvertraut waren. In ihm beginnt die dreißigjährige, seit einem Jahr im Prager Exil lebende Dichterin:

Poet – aus Fernen führt er her die Rede.
Poet – die Rede führt ihn fort in Fernen.

Das – zwei Wochen später geschriebene – mittlere Gedicht setzt ein:

Sie sind, die übrig sind, erläßlich
(und der Gesichtskreis schließt sie aus),
nicht aufzählbar für euer Welt-Adreßbuch;
Das Abfalloch ist ihnen – Haus.

In Unkenntnis dieser beiden galt mir das dritte als gänzlich selbständiges Ars poetica-Gedicht, das ich mit Dichterin überschrieb. Als felsenfeste Basis genoß ich erstmals die ob ihrer Akribie und ihres Variantenreichtums gerühmten Interlinearübersetzungen Oskar Törnes. Da ich diese nicht mehr zur Hand habe, folgt dem Original hier meine nachträgliche Rohfassung, damit ermeßbar wird, was ich, in Echo-, Spiegel- und Analogiesucht, versuchte, erreichte und schuldig blieb.

 

 

Interlinearübersetzung

3

Was bleibt mir zu tun, mir Blindem* und Stiefsohn* *(männliche Form!)
In einer Welt wo jeder ,bevatert‘  u n d  ,sehend‘ ist,
Wo über Flüche/die Verwünschten wie über Mahlgut/ Schüttgut/ Dämme hinwegfegen
Die Schrecken! Wo ein Schnupfen
Genannt wird – das Weinen!

Was bleibt mir zu tun, durch (Adams-)Rippe und Vorsehung/ Handwerk
Der Sängerin!    Wie Abschied! Trunksucht! Sibirien!
Mit meiner Sinnestäuschung/meinen Gesichten – wie über eine Brücke!
Mit ihrer Gewichtlosigkeit/ Unwägbarkeit
In der Welt der Gewichte.

Was bleibt mir zu tun, dem Sänger* und Erstgeborenen* *(männliche Form)
In einer Welt, in welcher der Schwärzeste – grau ist!
Wo man Eingebung/ Inspiration aufbewahrt/ hütet, wie in Thermosflaschen!
Mit dieser Maßlosigkeit
In der Welt der Maße?

Als kaum Dreißigjähriger einer eben Dreißigjährigen das Kreuz ihres Jahrhunderts von den wunden Schultern zu nehmen, schien meine brüderliche Aufgabe. Ich habe mich gebückt und es Millimeter Richtung unsres Horizonts gerückt. Mag es verwaist stehen und von ihr zeugen, der hochgemuten Freundin Rilkes und Pasternaks, der, mit ihren Nächsten, weder in Rußland noch Deutschland, Prag noch Paris, und zuletzt in Stalins Schlangengrube zu helfen war.

DICHTERIN

Sagt schon, was bleibt mir Stiefbalg und Blinden
In einer Welt, die Augen und Väter bescheint,
Wo über Flüche, wie Straßen, hinweggeht
Das Grauen! Erkältet gilt, der weint!

Sagt schon, was bleibt durch Rippe und Schicksal!
Sängerin! Wie Trunksucht! Sibirien! Brand!
Brücken sind meine Gesichte! Gewichtlos,
Wo Wägstücke lauern in jeder Hand.

Sagt schon, was bleibt mir Sängerin und Ersten
In einer Welt, die grau ihr Schwarz vergaß!
Wo Einfälle in Thermosflaschen krepieren!
Maßlosigkeit in einer Welt nach Maß?!

Richard Pietraß, in Palmbaum. Literarisches Journal aus Thüringen, 24. Jahr, 1. Heft, 2016

 

Marina Zwetajewa lesen

Kein russischer Dichter hat sich so sehr selber erfinden müssen wie Marina Zwetajewa. Tochter, die ein Sohn sein sollte. Dichter, in dem man die Poetessa lieber sah als den Poeten.
Als Sohn erwartet und als die unerwünschte Tochter zur Pianistin bestimmt (dem Wunschleben der Mutter), erträumt sie sich phantastische Adoptionen: durch einen Teufel im Zimmer der Stiefschwester, durch Altgläubigen-Nonnen in Tarussa, dem mittelrussischen Sommersitz der Familie, durch eine Tante in der Schweiz. Daß man eine Poetessa vor sich habe, war ein Gemeinplatz der beginnenden zwanziger Jahre. Ossip Mandelstam, konnte sich nicht fassen vor Entrüstung über die „Muttergottesstrickereien“ der Zwetajewa; ihr ganzes Moskau sei erlogen, bestenfalls unfreiwillige Parodie und überhaupt gebe es nur eine Frau, die mit dem Recht einer neuen Muse in den Kreis der Poesie getreten sei – die russische Wissenschaft von der Poesie, wie sie jetzt in der Formalen Schule von Eichenbaum, Shirmunski und Schklowski an Kraft gewonnen habe. „Zigeunerlyrismen“ sagt Majakowski. „Kleine Welt“, sagt Leo Trotzki: „Sie umfaßt die Dichterin selbst, einen Unbekannten mit Melone oder mit Sporen und – unvermeidlich – Gott, ohne besondere Kennzeichen.“ Valeri Brjussow, der Symbolist und frühe Förderer der Zwetajewa, will die Verkennung steuern, worauf kommt er? Auf einen Abend der Poetessen, von ihm präsidiert. Noch als Boris Pasternak 1926 Rilke auf Marina Zwetajewa aufmerksam macht, weiß er nur Marceline Desbordes-Valmore, die französische Romantikerin, zum Vergleich zu empfehlen.
Und das einer Frau, die ein „Wunder an Verstehen“ erwartet. Das Wunder zwischen „Ich küsse immer – als erste“ und „Zwischen uns – die Doppelklinge“. In ihrer „Erzählung von Sonetschka“, ihrer Geliebten während des Kriegskommunismus in Rußland, gibt es eine Stelle, die keiner der Sprecherinnen ausdrücklich zugewiesen ist, beide könnten sie sprechen:

Vor allem aber, ich küsse immer als erste, einfach so wie ich die Hand gebe; nur – unwiderstehlicher: Ich kann es einfach nicht erwarten! Danach, jedes Mal: Wer treibt dich bloß? Du bist selber schuld! Ich weiß genau, daß das niemandem gefällt, daß sie alle gern demütig tun und scharwenzeln, eine Gelegenheit abpassen, hinterherrennen, Jagd machen… Vor allem das – ich kann es nicht ausstehen, wenn der andere als erster küßt. Jedenfalls weiß ich, daß ich das will.

Aber dann „Die Klinge“:

Zwischen uns – die Doppelklinge,
Treueschneide – auch im Geist…
Aber der Bruder, herzbezwingend?
Und die Bezaubrung, die Schwester heißt?
……………………..
Zwei Seiten geschärft – und schneidet?
Es vereint! Zerreiß, Schwert, das Kleid,
Und, Wunde zu Wunde, Bein zu Beine,
Zueinander uns, drohender Wächter, befreit!

Marina Zwetajewa erfand das „ewige Paar der Sich-Nie-Begegnenden“. So bezeichnete sie 1929 (in deutsch) ihr Leben, das sie mit den Männern und Frauen ihrer Liebe lebte. Die Irritationen waren ungeheuer, beginnend bei ihrem Mann Sergej Efron, der nicht ahnte, wem er zugefallen war und endend bei Tanja Kwanina, ihrer letzten Liebe in Moskau, die auch nachdem sie die „Erzählung von Sonetschka“ gelesen hatte, nicht begriff, wie sie geliebt wurde. Das Wunder blieb aus und der eine, von dem Marina Zwetajewa sagt, er sei der einzige gewesen, der gewußt habe, wie sie geliebt sein wolle, Nikodim Plutzer-Sarna, ihr Geliebter im Sommer 1916, ist verschollen.
Heftig und innig, Usurpation und Verzicht, beides in einem – darauf war keiner gefaßt. Als es 1940 zu Begegnungen mit Anna Achmatowa kam, war die Achmatawa, die in den Gesprächen meist geschwiegen hatte, von der ungebrochenen Wildheit der Zwetajewa aufgerührt und soll gesagt haben, verglichen mit Marina sei sie sanft wie ein Kälbchen. Zweifellos blieb in dieser Verbindung immer ein Rest an Gewaltsamkeit, die Gewaltsamkeit einer Erfindung. Doch nur auf diese Weise ist es Marina Zwetajewa gelungen, etwas Unglaubliches zu vollbringen: In ihrer Heftigkeit reinigte sie das große Gefühl und man wird sich nicht wundern, von der Lieblingslektüre ihrer Jugend zu hören: Der Junge Adler von Edmond Rostand, Der Trompeter von Säkkingen von Viktor von Scheffel, Undine von de la Motte Fouqué. Herzzerreißende Geschichten von großen Passionen und großem Entsagen. Die viel verhöhnten Verse aus dem Büchlein der Lieder, das Scheffel in sein Versepos hineinschreibt, hört man hier etwas anders:

Behüt’ dich Gott! Es wär so schön gewesen,
Behüt’ dich Gott! Es hat nicht sollen sein.

Es gab für Marina Zwetajewa nur eine Gestalt, die die Spannung von Heftigkeit und Innigkeit, von Gefühlswucht und Entsagung auszuhalten vermochte, eine Gestalt, die sie ihr Leben lang gesucht und erfunden hat, die sie aus den Büchern ihrer Jugend herauslas, an der sie ihre geschichtlichen Sympathien maß und der sie sogar noch den Namen ihres Sohnes entlieh – die Gestalt des Ritters. Alexander Blok ist für sie der Ritter inmitten eines leeren Literaturbetriebs. Ritter St. Georg, der alte Schutzheilige Nordrußlands, steht ihr für die Weiße Bewegung, und ihrem Mann, dem Offizier der Weißen Armee, huldigt sie in einem „Georg“-Zyklus. Im Gesicht der Statue des Ritters Bruncvik unterhalb der Prager Karlsbrücke glaubte sie, ihre Züge zu erkennen. Ritter Bruncvik, der Legende nach Přemysl II erwarb auf seinen Fahrten vor seiner vierzigjährigen Herrschaft über Böhmen einen Löwen und ein Zauberschwert. Wenn sie einen Schutzengel habe, so Zwetajewa, dann einen mit seinem Gesicht, seinem Löwen und seinem Schwert. 1925 nannte sie ihren Sohn Georg.
Marina Zwetajewa – der weibliche Ritter, die Amazone. Was hat sie erzählt? Mit sechzehn besuchte sie mit dem Vater eine Charlottenburger Gipsabgießerei und durfte sich von den Kopien zwei wählen. „Und was war es, meine Liebe auf den ersten Blick – eine Amazone! Achills geliebte Feindin, von ihm erschlagen und beweint, und jene, die andere, gesittete, meine ,erste beste‘ – niemand anderes als Aspasia!“ Aspasia, die kluge Hetäre, Geliebte des Perikles, Genossin der Philosophen.
Sieht man die Erfindungen in der Ritter-Amazone-Aspasia ineinandergehen? Sohn in der Tochter, Dichter in der Poetessa. Mann in der Frau.

2
Hochfahrend und wild wird sie einem begegnen, wo immer man sie aufschlägt. Aber diese Abschiede, Abweisungen, Verzichte, Sarkasmen, Beschimpfungen – vogelbeerbitter, sagt sie – haben einen unwiderstehlichen Zauber, den Zauber des Aufruhrs gegen die Vergänglichkeit. Es ist dieser Aufruhr, der sie zum Dichter macht.
„Für wen schreibe ich“, fragt sie 1927 in ihrem-Essay „Dichter über Kritiker“: „Nicht für die Millionen, nicht für einen einzelnen, nicht für mich. Ich schreibe für die Sache selber. Die Sache schreibt sich durch mich.“ – „Der furchtbarste, der erbittertste (und der würdigste!) Feind des Dichters ist das Sichtbare. Ein Feind, den er nur auf dem Wege der Erkenntnis überwältigt. Das Sichtbare in den Dienst des Unsichtbaren zu zwingen – das macht das Leben des Dichters aus.“
Man hat sie mit diesem Anspruch mythoman genannt, und tatsächlich haben alle, die mit ihr zu tun bekamen, diesen Kampf gegen das Sichtbare am eigenen Leib erfahren müssen und fürchten gelernt. Selbst die Tapfersten, die Helden ihrer großen Brief-Romanzen – Boris Pasternak und Rainer Maria Rilke – sind am Ende vor Marina Zwetajewas Mythisierungen zurückgeschreckt, wie erst die Zaghaften. Sie fanden da ihr Leben wieder als das sichtbare Material, aus dem die Zwetajewa das unsichtbare Entzücken ihrer Liebe, ihrer Verlassenheit, ihrer Vermessenheiten und Niederlagen arbeitete. Dem Dichter Maximilian Woloschin, ihrem Förderer und väterlichen Freund von der Krim, hat sie die Beschreibung dieser Operationen in den Mund gelegt: „Wenn Sie einen Menschen lieben“, sagt er zu ihr, „möchten Sie immer, daß er ginge, damit Sie von ihm träumen können. Möglichst weit weg ginge, damit es sich um so länger träumen ließe.“
Daß sie mit diesem Konzept nie die Saison bediente, gar die wechselnden Ismen, die „Quadrille der Literatur“, ist nur die äußere Form ihrer Entledigung von den gefährlichen Sichtbarkeiten. Immer sind die Besiegten ihre Helden, die ins Unsichtbare Sinkenden. In der Revolution zeigt sie das Heldentum der Gegenrevolutionäre. In der Emigration sagt sie von der Sowjetunion: „Die Kraft ist dort.“ Der Massendissens der Frauen in Frauenkursen, im Suffragetteneifer, Feminismus, Heilsarmeetreiben ist ihr tief zuwider: in der Kunst gebe es keine Frauenfrage. Die Russin kultiviert ihre deutschen Verwurzelungen, mythisiert natürlich auch hier. 1919 im Tagebuch:

Frankreich ist mir zu leicht, Rußland zu schwer, Deutschland angemessen – der alte Stamm, die Eiche, heilige Eiche (Goethe! Zeus!). Deutschland ist die passende Hülle für meinen Geist, Deutschland – mein Leib: seine Ströme – meine Hände, seine Haine – mein Haar, es ist ganz mein, und ich ganz – sein!… Deutschland – Schraubstock für den Leib und Eleusinische Felder für die Seele. Ich bei meiner Maßlosigkeit brauche einen Schraubstock.

Und die Russin verbindet sich mit einem russischen Juden, dem sie durch alle Unlösbarbeiten folgt, folgt „wie ein Hund“, wie sie es in der Stunde seiner tödlichen Bedrohung mit einem furchtbaren Eid geschworen hat, denn: „Alle Dichter sind Juden.“ Sie bleibt sich selber treu, als sie wider allen guten Rat in der sicheren Erkenntnis ihres Untergangs 1939, ihrem Mann folgend, in die Sowjetunion zurückkehrt.
Außerhalb der literarischen Schulen und politischen Übereinkünfte stehend, fehlt der Zwetajewa der Gruppen-Bonus. Und es mag durchaus auch darauf zurückgehen, daß sie von den großen russischen Dichtern des Jahrhundertbeginns Westeuropa als letzte erreicht. Sie ist ganz allein. Valeri Brjussow, einer der Organisatoren des russischen Symbolismus und nach der Revolution ein Arrangeur der literarischen „Quadrillen“, nannte die Zwetajewa wegen dieser fehlenden Gruppenzugehörigkeit sogar einen „Niemand“ was sie freilich selber nur als einen weiteren „titre de noblesse“ verbuchen konnte.
Wahr ist, daß sie von keinem der Flügel der russischen Avantgarde, mitgetragen wurde. Weder vom poetischen Aktivismus, der sich vor der Revolution geistig und nach der Revolution auch organisatorisch mit der sozialistischen Umwandlung Rußlands verband (Futurismus, vor allem Majakowski und seine „Linke Kunstfron“), noch vom poetischen Universalismus, der sein Ziel in der Anstrengung des Menschheitsgedächtnisses und der Gewinnung einer welterfahrenen Häuslichkeit für Rußland sah (Akmeismus, vor allem Nikolai Gumiljow, Ossip Mandelstam und Anna Achmatowa).
Beide Wege waren für Marina Zwetajewa ungangbar, weil sie ihre Grundlagen zerstört hätten. Der aktivistische, weil er einer ruhmredigen Ausstellung des persönlichen Lebens, eines Terrors des Sichtbaren, einer Glorifizierung der Vergänglichkeit bedurfte. Der universalistische, weil er einer Vereinigung von Alltag und Poesie, der Sublimierung des Sichtbaren, eines Einverständnisses mit der Vergänglichkeit bedurfte. An Majakowskis Beispiel hat sie ihr kritisches Verständnis des Aktivismus erörtert:

Ruhm beim Dichter konzediere ich als Reklame – zu finanziellen Zwecken. So applaudiere ich, selber der Reklame abhold, dem – auch hier unvergleichlichen – Maßstab Majakowskis. Wenn Majakowski Geld braucht, veranstaltet er die fällige Sensation („Reinigung der Dichter“, „Schlachtfest der Poetessen“, „Amerikas“ usw.). Skandal, die Leute strömen und lassen ihr Geld. Majakowski, den Dichter, schert weder Lob noch Schmähung: Er weiß, was er wert ist. Aber Geld braucht er. Und seine Selbstreklame ist gerade in ihrer Grobheit reiner als die Papageien, Affen und der Harem von Lord Byron, der bekanntlich kein Geld brauchte.
Unerläßliche Anmerkung: weder Byron noch Majakowski setzten für Ruhm ihre Leier in Gang, beide – das persönliche Leben, den Abfall. Byron braucht Ruhm? Da legt er sich einen Zoo zu, wohnt im Hause Rafaels, fährt –
vielleicht – nach Griechenland… Majakowski braucht Ruhm? Da zieht er sich die gelbe Jacke an und wählt zum Auftrittsort einen Bretterzaun. Das Skandalöse des persönlichen Lebens bei gut der Hälfte aller Dichter ist lediglich die Reinigung jenes Lebens, damit es dort rein sei.

Diese Forderung von Vergänglichkeit war für Marina Zwetajewa, ebenso unannehmbar wie die eines stillen Einverständnisses mit ihr. Daher der Aufruhr, als sie bei der Rückkehr in die Sowjetunion die Achmatowa in ihrer großen Dichtung der Gedächtnisse Poem ohne Held scheinbar nur mit irgendwelchen Banalitäten aus dem Balleben der russischen Vorkriegszeit beschäftigt fand.
Auch was den Vers angeht, hielt sich Martina Zwetajewa außerhalb der Saison. Sie macht die exzessive Anstrengung der russischen Wortwurzeln bei Welemir Chlebnikow und den Futuristen ebensowenig mit wie die (impressionistischen) Lautnuancentechniken Mandelstams. Weder die Meetingssyntax Majakowskis noch die Flüstersyntax der Achmatowa. Was sie sich gewinnt, ist eine Virtuosität im Rhythmischen: russische Lied und Sagenfolklore, russischer Kirchengesang, die Auslassungen und Kürzel der Zurufe auf der Straße, das Stammeln und Stottern der Erregung, das Stocken des Erkennens. Gedankenstrich und Ausrufezeichen sind daher die Favoriten ihrer poetischen Interpunktion – die Zeichen des Wechsels und des Affekts. Der Wechsel als Übergang, noch mehr als Ankündigung des Unerwarteten, aber dann auch kombiniert mit Einschaltungen von Fragen und Ausrufen. Und das Zeichen des Affekts nach Befehl, Aufforderung, Warnung, Wunsch, Ausruf, Anrede. Man sehe als extremen Fall das Gedicht „Der Vorhang“ von 1923: Bei 24 Versen 18 Gedankenstriche, 12 Ausrufezeichen; in der deutschen Fassung von Elke Erb sogar 29 bzw. 14.
Hier gibt es nicht den Versuch, einer Syntax des Alltags zu folgen, weder der des vertrauten Gesprächs oder des Selbstgesprächs wie bei Anna Achmatowa noch der des argumentierenden Tribunen wie bei Majakowski. Es ist eine Syntax, die dem Sichtbaren seine wesentliche, innere, unsichtbare, unvergängliche Bewegung ablauscht. „Ablauscht“ – so hat sie es selber genannt, „Silbe für Silbe ablauscht“; aber gleich hat sie eine schöne Ermunterung angefügt, die unsere Lektüre bestimmen könnte. Sie schrieb nämlich:

Wie kann ich, ein Dichter, d.h. ein Mensch des Wesens der Dinge, von Form verführt werden? Ich werde vom Wesen verführt, die Form kommt von allein… Die allmähliche Offenbarung der Züge – so wächst der Mensch, so wächst das Kunstwerk. Wie abgeschmackt, ,formal‘ vorzugehen, d.h. mir (und häufig noch ziemlich falsch) meine Entwürfe nachzuerzählen. Wenn es die Reinschrift gibt, ist der Entwurf (die Form) schon überwunden. Ehe du mir erzählst, was ich in dem vorliegenden Fall bieten wollte, zeig mir lieber, was du dir hast nehmen können.

Fritz Mierau, Nachwort

 

Marina Zwetajewa (1892–1941)

„… war eine Frau mit einer tatkräftigen männlichen Seele, entschieden, kämpferisch, unbändig. Im Leben und im Schaffen brach sie zielstrebig, gierig und fast raubtierhaft zu einer Endgültigkeit und Bestimmtheit durch, in deren Verfolgung sie weit gegangen ist und alle überholt hat.
Außer dem wenigen Bekannten hat sie eine Menge bei uns unbekannter Sachen geschrieben, gewaltige, stürmische Schöpfungen, einige im Stil der russischen Volksmärchen, andere nach Motiven allbekannter historischer Sagen und Mythen.
Ihre Publikation wir ein großer Triumph und Fund für die russische Poesie sein und sie auf einen Zug mit dieser verspäteten und noch dazu einmaligen Gabe bereichern.
Ich denke, die größte Revision und die größte Anerkennung erwarten die Zwetajewa.“ (Boris Pasternak, 1957)
Diese Auswahl aus den Gedichten der Jahre 1916-1939 verdeutlicht Weite und äußerste Subjektivität der Lebenssicht und -empfindung der Dichterin. – Der Essay über Leben und Werk der Malerin, Graphikerin und Bühnenbildnerin Natalja Gontscharowa (1881-1962) ist Lebens- und Schaffensbekenntnis Marina Zwetajewas selbst.

Verlag Philipp Reclam jun. Leipzig, Klappentext, 1987

 

Hans Gellhardt: Achmatowa – Pasternak – Zwetajewa

 

Zum 70. Todestag von Marina Zwetajewa:

Bettina Wöhrmann: Der Granatapfelkern Persephones
Ostragehege, Heft 64, 2011

Fakten und Vermutungen zur Autorin
Fakten und Vermutungen zum Herausgeber + Gespräch + Archiv
Nachrufe auf Fritz Mierau: Süddeutsche Zeitung ✝ Börsenblatt

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