Jerome Rothenberg: Polen/1931

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Jerome Rothenberg: Polen/1931

Rothenberg-Polen/1931

ESTHER K. KOMMT NACH AMERIKA: 1931

Die Wildnis: doch außerdem
der Name einer Kantine
wo die beiden Liebenden Tee trinken
ohne miteinander zu sprechen
sich aber eine Welt in Einsamkeit teilen:
1931: Esther K.
& Leo Levy
haben sich gefunden hier am Ende eines kurzen Lebens:
nichts beginnt so schmerzhaft
wie der erste Schritt durch die Glastür ins Freie
der erste Blick auf den Stadtverkehr
sogar das Rumpeln der neuen U-Bahn unter Houston Street
all dies geschah im Lauf der Jahre:
der Priester quälte sie & das war eine Sache
der Gouverneur stieß Seufzer aus & das war eine andere
ihre Mutter wurde inkontinent & das war das dritte
andere Ereignisse folgten: das vierte war die Geburt
eines Kindes tot zur Welt gekommen
sie rieb seine Hände musste sich aber selbst die Brust geben:
muffige Gerüche: Leo Levy
ist jeden morgen auf dem Weg zum Hühnermarkt
verfolgt seinen Traum von Macht
Esther K. wundert sich: wie konnte ich gefangen werden
in diesem Körper?
in einem anderen Leben wäre sie
ein Playgirl gewesen: nicht sie
sondern eine andere warf Rosen
in den Dnjepr
tanzte auf der treibenden Eisscholle
nach Amerika
keine andere als sie
löste die Schleife am Hosenstall des Hundeverkäufers aus Shanghai
& schmierte seinen Riemen:
Fleisch das in den Tropen explodierte
aufschreckende Papageien
badeten im Kopf von Esther K.
der Reisende der den Ganges überquerte
entdeckte Harlem
auf der anderen Seite
der Mann mit sechs Fingern an einer Hand
hatte vier an der anderen:
so wiederholte sich Geschichte mit beachtlicher
Geschwindigkeit
brachte sie zuerst dazu
Leo Levy kennenzulernen & dann
zu verlieren: brachte ihn dazu
sich die Nägel zu lackieren
mit Eiweiß
brachte beide dazu aus Ohrenschmalz die Zukunft zu lesen
Bonbons zu verkaufen in türkischen Bädern
& Baumwolle in Kanada
dazu von „1931“ ein Remake als Tonfilm zu drehen
was für schöne Träume die Welt haben wird von Esther K.
sprach Leo Levy
ich werde der Welt Träume machen die sie träumen soll von Esther K.
& Kleider sich zu kleiden wie ihr Ebenbild
ich will kämmen ihr Haar dass es fällt bis Nicaragua
klettere dann hinauf der Länge nach
& lasse es mich tragen auf das Deck eines windschnellen Bootes
das nach Jerusalem segelt: Lebewohl!
der neue Preis für Mandeln ist ein fairer Preis
die Armen unter deinem Fenster & die Armen
an deiner Tafel
werden immer da sein: auch die Radfahrer
aber rückwärts radeln & straucheln
vor Kirchengemeinden werden sie so tun als wären sie
im Rückstand: eine Krise
das Gute Leben der Verzagten
ruft: diesen Wert
sollte man lernen: eine Quelle des Reichtums
nur zu weit entfernt ohne Finesse
beide werden krank & sterben
viel später: getrennte Betten erwarten sie
Chimären gekleidet wie Revuegirls
für die Regie & Liebe: sein Name
zu Ben Messiah geändert
ihren in seinen: ein altes Paar
das wie nasse Laken riecht
sie werden manchmal Händchen halten
spüren wie winzig ihre Handflächen sind: die Wildnis
hat sie geschrumpft: morgen
in der Früh
war eine Lüge:
ein Glas mit Tee:
vielleicht ein Zwiebelbrötchen:
ein Lutschbonbon:
zwei bittere Mandeln:
drei halb angeknabberte Fruchtgeleestückchen:
eine Zitrone
eine Zitrone
eine Zitrone
eine Zitrone
eine Zitrone
eine Zitrone
usw.

 

 

In den Gedichten des Bandes Poland/1931

beschwört der 1931 in New York geborene US-amerikanische Dichter Jerome Rothenberg das Jahr seiner Geburt, die Sprache seiner Ahnen, die Orte seiner Herkunft. In den achtziger Jahren ist Rothenberg nach Polen gereist, um dort nach den Spuren seiner jüdischen Vorfahren zu suchen. Seine dabei entstandene vielsprachige Ethnopoesie folgt einem Prinzip der „Grand Collage“ (Robert Duncan) und beginnt mit der Beschwörung einer Sprache, die fast ausgelöscht wurde. Das polnische Jiddisch des Jahres 1931 ist wenige Jahre später zu einer Sprache der Geister, der Dibbuks, der ermordeten Juden geworden. In seiner obsessiven Ahnenfeier sucht Rothenberg die Dokumente und Sprechweisen seiner Vorfahren auf, überblendet die Zeiten, folgt den Emigranten in die „Amerikakatastrophe“ und wiederholt die alten jüdischen Rituale für eine Gegenwart, die nicht vergessen sollte:

Mein Geist ist gestopft mit Tischtüchern & mit Ringen doch mein Geist träumt sich nach Polen gestopft mit Polen.

Norbert Langes Übersetzung überträgt das Amerikanische in die Sprache der deutschen Invasoren. Umso deutlicher behauptet sich dabei das Jiddische jener Geister, die von sich sagen:

polyn polyn polyn polyn polyn zaynen mir nid.

roughbooks, Ankündigung

 

Beiträge zu diesem Buch:

Vincent Sauer: „Wie kann ich sprechen für eine Geisterstadt?“
fixpoetry.com, 24.6.2019

 

Jerome Rothenberg: Five Translations/Versions of Poland/1931, „The Wedding“

 

Lyrikmarkt 2.0: roughbooks

 

Fakten und Vermutungen zum Autor
Porträtgalerie: Dirk Skibas Autorenporträts
Fakten und Vermutungen zum Übersetzer
shi 詩 yan 言 kou 口

 

Norbert Lange am 28.11.2013 in der Lettrétage Berlin Kreuzberg.

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