Anders als die meisten seiner russischen Wegbereiter, Zeitgenossen und Nachfolger hat Gogol die Schweiz nicht als Tourist besucht, nicht um vor dem Rheinfall in die Knie zu gehn oder vom Gotthard den Süden zu grüßen, sondern um »sich zu vergraben« und einfach da – dort! – zu sein: »Ein moderner Schriftsteller, ein Vertreter des komischen Genres, ein Sittenschilderer muß sich recht fern von seiner Heimat aufhalten.« Vorübergehend – unterwegs nach Paris – ließ sich Gogol im Herbst 1836 in Genf, Lausanne, Vevey nieder (»das reinste Tobolsk!«), wo er angestrengt zu wohnen versuchte und sich nach längerer Unterbrechung wieder ans Schreiben machte: »Mein Zimmer erwärmte sich, und ich nahm die ›Toten Seelen‹ vor, die ich in Petersburg begonnen hatte. Alles schon Geschrieben arbeitete ich um, ich bedachte genauer den ganzen Plan, und nun bin ich dabei, ihn auszuführen – ich schreibe ruhig, als wär’s eine Chronik.« Auch in der Schweiz war es die Architektur, und nicht die schwere Küche, nicht die welsche Bonne, von der sich Gogol »überwältigt« fühlte und die ihn zur Wiederaufnahme seines Buchprojekts ermächtigte: der gothische Bau der Alpen wurde ihm, wie zuvor das gothisierende Romanwerk Walter Scotts, zum Vorbild für sein eigenes architektonisches Vorhaben. Im Verlies des Schlosses zu Chillon, dessen Frischluftschlitze immerhin einen schmalen Blick auf den Montblanc freigaben, stieß Gogol, nach eigenem Bericht, »einen Seufzer aus und ritzte mit russischen Buchstaben seinen (meinen!) Namen ein, ohne selbst recht zu wissen, was er (ich!) da tat«. – »Nur den Geschlechtsnamen!« bat der einheimische Winzerjunge, von dem Gogol sich die Hand führen ließ: »Bitte, nur den Geschlechtsnamen.« Und schon hatte sich der Autor verschrieben, er hielt mitten im Namenszug die Hand seines Begleiters an, überlegte sich, ob er rasch noch das Datum hinzusetzen sollte, sah jedoch gleich wieder davon ab – er hätte damit, bei der Nachwelt, den Vorwurf »trivialer Vieldeutigkeit« riskiert – und schrieb nun gleichwohl den eigenen Namen aus.1Am Tag darauf war Sonntag. In seiner Kammer war Gogol mit der liegengebliebenen Korrespondenz beschäftigt, während im Salon der als Page angeschirrte Winzer mit unbestimmbaren Tanzschritten auf und ab ging, wobei er leise vor sich hin pfiff. Gogol, der bald seine ganze Aufmerksamkeit an jene Geräusche verlor, glaubte aus dem Getrippel des Knaben ein Geheimnis – eine geheime Topographie – herauszuhören und horchte dessen Schritte nun intensiv nach verschlüsselten Botschaften ab: er fühlte sich angesprochen wie noch nie. »Aber eben«, so berichtet dazu (in Dar, New York 1952, S. 202) Nabokov: »… wir lesen, und wir werden immer lesen. ›Tiefer, noch tiefer, noch viel tiefer werde ich mich einleben in diese fremde Erde. Und obwohl meine Gedanken mein Name, meine Werke einzig für Rußland bestimmt sind, werde ich, wird meine irdische Hülle weit von dort – nämlich irgendwo hier – verwesen …‹ Der solches schrieb, pflegte bei seinen Wanderungen durch die waadtländische Schweiz alle Eidechsen, die ihm über den Weg liefen, mit seinem Spazierstock und mit der Verachtung des kleinrussischen Dandys treffsicher aufzuspießen: ›Teufelsgezücht!‹. Und doch nicht Grund genug, um nach Hause zurückzukehren.« So blieb Gogol, unter Eidgenossen, im Exil. Das einzige, was Gogol der Schweiz vermacht und auch tatsächlich hinterlassen hat, ist seine in Stein geritzte Unterschrift:
Da diese aber trotz intensivsten Nachforschungen – Wände, Boden, Stützpfeiler des Verlieses sollen vor kurzem Quadratdezimeter um Quadratdezimeter abgelichtet worden sein – noch nie hat identifiziert werden können, bleibt ungewiß, ob sich Gogol wirklich als »Autor« oder bloß als Saisonnier mit unklarem, vielleicht gar illegalem Status in der Schweiz aufgehalten hat.2Zur Problematik der semiologischen und pragmatischen Wechselbeziehung zwischen Signatur und Ereignis hat Jacques Derrida auf dem Congrès international des Sociétés de philosophie de langue française (Montréal, August 1971) Erhellendes beigetragen; seine damaligen »Randgänge der Philosophie« (vgl. Marges de la philosophie, Paris 1972) ließen die Rede freilich nicht auf Gogol kommen, könnten aber durchaus zu diesem hin und über ihn hinaus verlängert werden.
aus: Felix Philipp Ingold: Haupts Werk Das Leben Ein Koordinatenbuch vom vorläufig letzten bis zum ersten Kapitel.
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