aaaaaaavielleicht ist der Mensch
aaaaaaadie Zerreißprobe Gottes
aaaaaaadenn das Zwiegespräch
aaaaaaalange sorgsam gepflegt scheint
23945 beinahe verstummt
23946–23951
Marlen Haushofer, Die Wand, Düsseldorf 1983, S. 44: „Nicht dass ich fürchtete, ein Tier zu werden, das wäre nicht sehr schlimm aber ein Mensch kann niemals ein Tier werden, er stürzt am Tier vorüber in einen Abgrund. Ich will nicht, dass mir dies zustößt.“
aaaaaaaselbst die Rückkehr hinüber
aaaaaaazum Tier ist versperrt
aaaaaaawir würden heißt es an ihm
aaaaaaavorbeistürzen in
23950 einen Abgrund niemand will
aaaaaaadass ihm das zustößt
aaaaaaazugleich wächst die Versuchung
aaaaaaaherauszufinden
aaaaaaawo es ende das Stürzen
23955 wenn es an allem
aaaaaaavorbeiführt nicht nur am Tier
aaaaaaawenn man sich selbst sieht
aaaaaaawie man langsam verschwindet
aaaaaaaund nur noch dieses
23960–23964
Friederike Mayröcker, dieses Jäckchen (nämlich) des Vogel Greif. Gedichte 2004–2009, Frankfurt a. M. 2009, S. 19: „Das Küchenfenster steht offen mein Hirn / in den Kniekehlen, atme schwer“.
23960 einknickende Gefühl bleibt
aaaaaaaeines Gedankens
aaaaaaaeines letzten vielleicht der
aaaaaaasich einnistet in
aaaaaaaeiner meiner Kniekehlen
23965 beim Abwärtsgehen
aaaaaaavor allem ist es als ob
aaaaaaaein Teil des Gehirns
aaaaaaaFunken schlagend den Durchgang
aaaaaaaerzwingen wollte
23970 zwischen dem trockenen Blau
aaaaaaaund dem feuchten Lehm
aaaaaaaaus dem Staub eines Berges
aaaaaaanichts Nutziges ist
aaaaaaasonst noch vorhanden in mir
23975 also werde ich
aaaaaaaauf der Strecke bleiben und
aaaaaaadies deute ich so:
aaaaaaaAuferstehung ist möglich
aaaaaaaes macht keinen Sinn
23980 mehr darüber zu sagen
aaaaaaaetwas ist da und
aaaaaaaarbeitet unerbittlich
aaaaaaaan meiner Hoffnung
aaaaaaaentgegen jeder Vernunft
23985 und sozusagen
23986
„sunder warumbe / áne warumbe ([Leben] ohne Warum)“ ist ein Topos, der immer wieder in mystischen Texten auftaucht, u.a. bei Margareta Porete (Der Spiegel der einfachen Seelen). Hier wird Bezug genommen auf die vielfache Verwendung des Begriffs bei Meister Eckhart. Vgl. dazu Bernard McGinn, Die Mystik im Abendland, Bd. 4: Fülle, Die Mystik im mittelalterlichen Deutschland (1300–1500), Freiburg etc. 2008, S. 330–340.
aaaaaaa„sunder warumbe“ wird hier
aaaaaaafestgehalten an
aaaaaaaeiner täglichen Übung
aaaaaaadie kein Ziel verfolgt
23990 die im schlichten Aufschreiben
aaaaaaabesteht von allem
aaaaaaawas sich mir zeigt dieser Text
23993
Marcel Proust, À la recherche du temps perdu. III: Le temps retrouvé, Paris 1954, S.1043: „Long à écrire.“ („Ja, es war lang, was ich zu schreiben hatte.“ Ders., Auf der Suche nach der verlorenen Zeit [FA II, 7: Die wiedergefundene Zeit], Frankfurt a.M. 2004, S. 520.)
aaaaaaalong à écrire wird
aaaaaaaverhindern dass mich eine
23995–24000
Marcel Proust, a.a.O., S. 860: „Pour moi, j’y vis plutôt une sorte de douceur quasi physique, de détachement des réalités de la vie, si frappants chez ceux que la mort a déjà fait entrer dans son ombre.“ („… eine gleichermaßen physisch bedingte Sänftigung, eine Loslösung von den Realitäten des Lebens, die man mit Überraschung immer bei denen konstatiert, die schon im Schatten des Todes leben.“ a.a.O., S. 248.)
23995 Art douceur physique
aaaaaaaergreift und ich mich von den
aaaaaaaRealitäten
aaaaaaalöse des Lebens als ob
aaaaaaaich schon im Schatten
24000 leben würde des Todes
schreibt Franz Dodel an einem gigantischen und einzigartigen Lyrikprojekt, das er mit Nicht bei Trost überschreibt. Die Arbeit besteht aus einem sich scheinbar wie von selbst fortspinnenden Text, einem Endlos-Poem mit der stetigen Folge von 5–7–5–7 Silben, das inzwischen auf 26.000 Verse angewachsen ist und täglich fortgesetzt wird.
Wie ein textiles Geflecht breitet sich dieses Kettengedicht in die verschiedensten inhaltlichen Richtungen aus. Es schwingt von lyrischen Natureindrücken zu philosophisch religiösen Betrachtungen, verarbeitet antikes Textmaterial, greift biographische Erinnerungsbruchstücke auf und bezieht sich immer wieder auf die sich ausbreitende Textur selbst.
Statt an Ende, Ziel und suspekten Trostangeboten orientiert sich dieser Text an der Offenheit schweifender Reflexion und sinnlich genauer Betrachtung. Noch intensiver wird dieses Umschichten von Arten des Staunens im „wachen Schlaf“ des sich beim halblauten lesen entwickelnden meditativen Sogs.
Edition Korrespondenzen, Klappentext, 2014
Jan Kuhlbrodt: Das große Ganze, und wir darin
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Franz Dodel – Nicht bei Trost.
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