Genug gehadert! Lassen wir das Blatt verschwinden!
Ein toller Dämon sitzt mir im Genick,
Es ist, als hätte mich Friseur François von hinten
Gewaltig eingeseift und shampooniert.
Ich bin – wollen wir wetten? – noch am Leben,
Und wie ein Jockey bürge ich dafür,
Dass ich mich in die Zügel legen
Und mächtig traben werde – glaubt es mir!
Ich weiss: der Jahrgang einunddreissig
Erblüht bereits im Faulbeerbaum.
Ich weiss: die Regenwürmer reifen,
Ganz Moskau schwimmt, wiegt sich im Traum.
Nur mit der Ruhe! Ungeduld bringt Kosten.
Ich steigere das Tempo ohne Hast,
Verlasse kalten Fusses unsern Posten
Und halte die notwendige Distanz.
„Nichts ist wieder gutzumachen…“ Mit diesen Worten unterstrich Ossip Mandelstam in einem Brief vom März 1930 die Tatsache, dass seine private und politische Situation als Sowjetschriftsteller unhaltbar – weil „unerträglich“ – geworden war; doch er fuhr fort:
Jeder Abbruch ist eine Chance. Diese muss ich wahren. Ich darf sie nicht vergeben.
Dem Abbruch von Mandelstams literarischer Karriere – er hatte seit 1925 ausser Kinderversen nichts mehr veröffentlicht und kaum noch etwas geschrieben – war eine von langer Hand inszenierte und mit äusserster Schärfe ausgetragene Verleumdungskampagne vorangegangen, die den damals noch nicht vierzigjährigen Autor physisch wie psychisch schwer belastete: Mandelstam, mittellos, krank und rasch gealtert, hatte keinen Beruf und keine Wohnung mehr:
Schwer ist mir. Schwer ist mir immer, aber ich finde jetzt die Worte nicht, um darüber zu berichten. Man hat mich verwechselt, man hält mich fest wie in einem Kerker, es gibt kein Licht. Ich möchte die Lüge wegfegen – und es geht nicht… Ich muss fort von hier. Und zwar gleich. Doch wohin sollte ich gehen? Eine Wüste umgibt mich…
Dass Mandelstam im Frühjahr 1930 durch Vermittlung Nikolaj Bucharins eine Kaukasusreise unternehmen konnte, änderte zwar nichts an seinem materiellen Elend, verhalf ihm aber – fern vom „buddhistischen“ Moskau, noch ferner vom „revolutionären“ Leningrad, dessen Friedhofsruhe ihn mit Todesangst erfüllte – zu einer mehrmonatigen Atempause und ermöglichte ihm die Wiederaufnahme seiner literarischen Arbeit. In Begleitung seiner Frau hielt sich Mandelstam, nach einem kürzeren Aufenthalt in Georgien, vom Frühsommer bis zum Spätherbst 1930 in Armenien auf, jenem urtümlichen, hochkultivierten Land, das er als Vorposten des mediterranen, mithin des griechisch-römischen Kulturraums und als „jüngere Schwester Judäas“ all „den bärtigen Städten im Osten“ vorzog.
Wie Mandelstam die „Chance“ des „Abbruchs“ genutzt hat, ist belegt durch eine zwischen Mitte Oktober und Anfang November (auf der Rückreise in Tiflis) entstandene – später durch mehrere Zusatztexte ergänzte – Gedichtfolge sowie durch den Prosazyklus „Reise nach Armenien“ (1933) und die dazugehörigen Vorstudien (1931). Mit dem Aufenthalt im Kaukasus, wo die altgriechische, die frühchristliche und die jüdische Geisteswelt sich verschränken, erhielt Mandelstam – sein lyrisches Spätwerk bezeugt es aufs eindrücklichste – die „Gabe der Dichtung“ zurück; die „Verse entstanden in dichter Folge“, und „es begann ein neuer Abschnitt seines Lebens“ – der letzte; 1938, im Alter von siebenundvierzig Jahren, starb Ossip Mandelstam als Opfer des stalinistischen Terrors in einem fernöstlichen Durchgangslager .
Die vorliegende Textsammlung enthält nebst dem zwölfteiligen Verszyklus „Armenier“ eine Reihe weiterer Gedichte und Fragmente Ossip Mandelstams, die in denselben thematischen Zusammenhang gehören. Zur Erhellung des zeitgeschichtlichen, biographischen und literarischen Hintergrunds wurde den Texten eine Auswahl von Notizen beigegeben, in denen Mandelstam seinen Kaukasusaufenthalt – auch dessen Vorbereitung, dessen Folgen – punktuell vergegenwärtigt und die ihm, zumindest teilweise, als Vorlage für sein letztes Prosawerk, Reise nach Armenien, gedient haben.
Mandelstams „Armenien“-Zyklus erschien erstmals (ohne Epigraph) in der Zeitschrift Novyj mir (1931, H. 3); ein ergänzter Nachdruck erfolgte 1966 in der Zeitschrift Literaturnaja Armenija (H. 1) und wurde bald darauf in die amerikanische Werkausgabe von Gleb Struve und Boris Filippow übernommen (Sobranie sočnenij, I, Washington 1967), die auch alle weiteren hier übersetzten Gedichte enthält. Letztmals erschien der Zyklus (wiederum ohne Epigraph) in Nikolaj Chardshijews textkritischer Edition von Mandelstams Gedichten (Stichotvorenija, Leningrad 1973). Den Erstdruck der Notizbücher aus Armenien und Georgien besorgte Irina Semenko für die sowjetische Monatsschrift Voprosy literatury (1968, IV); ein Nachdruck dieses Materials ist in der amerikanischen Werkausgabe enthalten (III, New York 1969). – Wassilij Grossmans Bericht aus Armenien, der hier (soweit er Mandelstam betrifft) als Klappentext verwendet wird, entstammt dem Prosaband Gute Wünsche! (Dobro vam!, Moskau 1967); bei der Notiz von Gework Emin handelt es sich um einen Auszug aus dessen Hinweis auf Mandelstams Reise nach Armenien (in Literaturnaja Armenija, 1967, H. 3).
Für Auswahl und Anordnung der Texte zeichnet der Übersetzer verantwortlich.
Felix Philipp Ingold, Nachwort, Mai 1985
… ein wahrhaft biblischer Geist ist in den Gedichten zu spüren, die Mandelstam Armenien gewidmet hat – die Luft des Ararat, des Bibelbergs, vermengt mit dem Geist des Volks, das die Bibel geschaffen hat. Mandelstam hatte schon vor seiner Ankunft in Armenien von diesem Land geträumt, und er hat nicht nur dort an Ort und Stelle darüber geschrieben, sondern auch später in Moskau und in Woronesh, bis in seine letzten Lebenstage… Zu seiner „schöpferischen Dienstreise“ traf Mandelstam zusammen mit seiner Frau im Mai 1930 in Armenien ein und hielt sich hier bis zum November auf. Er war über Leninakan angereist, und danach bereiste er von Eriwan aus ganz Armenien – er fuhr nach Aschtarak und Etschmiadsin, zum Agaraz und zum Sewan… Den Juni und Juli verbrachte er am Sewan-See, und dort hatte er auch Gelegenheit, sich mit zahlreichen Kulturschaffenden bekanntzumachen… Mandelstam beschreibt das problematische Armenien der dreissiger Jahre, ein Land voller Ausrufezeichen, doch sind seine Gedanken und Gefühle in keiner Weise durch den Kalender oder durch besondere Feierlichkeit geprägt; durch nichts eingeengt, können sie sich frei und eigenmächtig entfalten – und das gehört ja zu den charakteristischen Eigentümlichkeiten Mandelstams. Mag sein, dass gerade aus diesem Grund all seine Aufzeichnungen, niedergeschrieben auf grund frischer Erinnerung an konkrete Begebenheiten, noch heute nicht veraltet sind…
Gework Emin
Zwei Monate lang hielt ich mich in Armenien auf; fast die Hälfte davon verbrachte ich in Eriwan. Doch das Leben in Eriwan bescherte mir keine neuen literarischen Bekanntschaften… Ein wenig versuchte ich mich dadurch zu trösten, dass ich den Schriftsteller Martirosjan beiläufig nach Ossip Mandelstams Aufenthalt in Armenien befragte. Mir waren reizende und rührende Einzelheiten über Mandelstams Leben in Armenien bekannt, ich hatte seinen armenischen Gedichtzyklus gelesen. …
Doch Martirosjan konnte sich Mandelstams nicht entsinnen… Er sagte mir blass, dass er sich dumpf an einen hageren, augenscheinlich sehr armen Mann mit langer Nase erinnere, den er zweimal mit Speise und Wein bewirtet habe; nach dem Umtrunk habe der Langnasige jeweils Gedichte rezitiert – allem Anschein nach war dies Mandelstam.
Naja, dachte ich bei mir – ist doch klar! Mandelstams Gedichte sind herrlich, das ist Poesie an sich, das ist reine Wortmusik. Vielleicht sogar ist sie es allzu sehr – zu sehr nur Poesie, zu sehr nur reine Wortmusik. Manchmal kommt es mir so vor, als habe die Dichtung des 20. Jahrhunderts, wie brillant sie auch immer gewesen sein mag, an jener Herzenskraft und Herzenswärme und auch an jener überwältigenden Menschlichkeit verloren, durch welche die dichterischen Genies des vergangenen Jahrhunderts sich ausgezeichnet haben. Als hätte die Poesie den Bäckerladen aufgegeben, um sich dem Juweliergeschäft zuzuwenden; als wären die grossen Bäcker von den grossen Juwelieren abgelöst worden. Mag sein, dass gerade deshalb die Gedichte manch eines bemerkenswerten zeitgenössischen Autors so schwierig sind; weil sie sich nur kraft dieser Schwierigkeit dem Pariser Urmeter – dem Mass aller Seelen und Dinge – entziehen können.
Aber in den Versen von Mandelstam klingt eine bezaubernde Musik auf, und nicht wenige seiner Gedichte gehören zum Besten, was seit Alexander Bloks Tod in russischer Sprache geschrieben wurde… Und obgleich Mandelstam nicht die ganze grosse Last der russischen Poesie auf seinen Schultern getragen hat, ist er ein wahrhaftiger, ein wunderbarer Dichter. Ein Abgrund trennt ihn von den vielen kurzlebigen Autoren. Und doch hat keiner meiner Bekannten in Eriwan irgendeine Erinnerung an Mandelstams Armenienaufenthalt bewahrt.
Wassilij Grossman
MANDELSTAM
Am Leben –
wem verdanke ich diese Ehre?
Meine Seele zögert. Mit Dante
durch die Sowjetnacht.
Ich streune durch die Ruinen
von Hellas.
Ich komm hier nicht raus.
Nadeshda, weg
mit den Gedichten, schnell!
Caesar, wie hast du es geschafft,
unsere Lebendigkeit
zu vernichten?
Am Lagertor
verließ mich alle Hoffnung.
Der Einzige, der Russisch spricht,
konnte es nicht vergessen.
Ein Gott vergibt,
ein Halbgott nicht.
Die Schreie
verlieren sich in den Weiten meines Landes.
Rafael Cadenas
Übersetzung: Geraldine Gutiérrez-Wienken und Marcus Roloff
Olga Martynova: Eine Streichholzflamme im Wind
Frankfurter Rundschau, 29.1.2019
Paul Celan liest Ossip Mandelstam: „Diese Nacht, nicht gutzumachen“.
1. Erlanger Literaturpreis für Poesie als Übersetzung 2005 an Felix Philipp Ingold.
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