Peter Rühmkorf: Walther von der Vogelweide, Klopstock und ich

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Peter Rühmkorf: Walther von der Vogelweide, Klopstock und ich

Rühmkorf-Walther von der Vogelweide, Klopstock und ich

JETZT MITTEN IM KLAREN

Also Freund, also ernst, also eh ich endgültig verasche,
und meine Saugkraft verlier,
trink ich noch einmal
B l u t s b r ü d e r s c h a f t
mit der Branntweinflasche
und du prüfst das Revier.

Ich nehm die Dickere, du nimm die Dünnere,
d i e   W e l t
läßt wieder mal hoffen;
woran, an welche Stunde ich mich erinnere,
ich war immer besoffen.

Schau, dieser stark bewölkt bis bedeckte,
d i e s i g e
Tag lichtet langsam die Miene:
leichtere Schnäpse, mittlere, schließlich riesige:
e i n e   f l a m m e n d e   S o n n e n t e r r i n e –

Setzt euch nieder, frostklirrende Elfen;
dies ist hier kein Feuer von Stroh!
Immer zu! wir werden dem Eis schon zum Durchbruch verhelfen
u n d   d e n   B ü s t e n
herab vom Niveau.

Grüß dich Theben, hochgebaut, siebentürig,
wie rieselst du plötzlich zusammen
und kuckst so konkav?
Wenn zur Seite neigt sich mein Schiff schieflastig, wie Lyrik,
u n a b w e n d b a r   w i e   S c h l a f…

Muß ich etwa allein übern Fluß?
Was mauscheln die stygischen Schilfe?
H e r r   Ch a r o n,   z w e i   L e t h e!
eine kleine Übersetzhilfe,
aber Lethe mit Schuß!

Und nicht zu knapp bemessen:
W e l t, wie du im Rückblick dich wölbst.
Doch mein Stundenglas,
meine Einweguhr,
meine Smith & Wesson entsichre ich selbst.

Oder was oder wann oder wie?
Nein, lieber jetzt mitten im Klaren.
Und ihr spielt mir nochmal – diese alteda! –
M i s t m e l o d i e
von den Leuten, die strudelwärts fahren.

 

 

 

Lieber Jürgen Manthey,

anbei der jetzt endgültig aus dem Jenseits in die Gegenwart übersetzte Walther, Klopstock-Korrekturen und – naja, einige neue Gereimte und Gebundene von mir selbst (NKE in statu nascendi). Was man mir vermutlich als Anmaßung verübeln wird, diese Annäherung bis auf Tuchfühlung (jetzt sogar noch im Bild vollzogen), ist eigentlich viel Schlimmeres: rücksichtslos-liebevolle Einverleibung/Annektion. Ich habe die beiden Literaturdenkmäler aus dem reaktionären Traditionsbett gelöst, sie kühn an die eigene Brust gerissen und sie neu beatmet – wollen sehen, inwieweit das der weiteren Überlieferung gut tut. Aber nicht darüber wollte ich eigentlich mit Dir reden, sondern über den tieferen Hintersinn der Unternehmung. Wenn das Buch – außer daß es für Kunst, Kunst und nochmals Kunst trommeln geht – einen übergreifenden Gottesbeweis führen möchte, dann doch diesen, daß es immer Zeiten verstärkten sozialen Bodenfließens sind, die das Ich als literarisches Subjekt auf Trab bringen. Wenn ein ICH sich gar so weit in den Vordergrund wagt wie bei Walther, wie bei Klopstock, dürfen wir außerdem annehmen, daß der Vorgang mit spezifischen Klassenunsicherheiten zusammenhängt – Klassenunsicherheiten in der Brust eines Autors, versteht sich. In diesem Sinn sollte sich der Vordertitel des Buches im Innern dann vielleicht so enthüllen: Walther von der Vogelweide, KlopstocK… UND DAS ICH! Könnten wir diese Fragen in den nächsten Tagen nochmal besprechen? Sollten wir – ein Vorschlag – die hundert sofort anschließenden Probleme nicht einmal von Grund auf diskutieren und den Disput dem Buch beigeben? – Eilig und herzlich wie immer

Peter Rühmkorf, Hamburg, den 7. Juli 75, Rowohlt Taschenbuch Verlag, Klappentext, 1975

 

„Fundament“ und „Gewölbezone“

– zur Architektur von Peter Rühmkorfs poetologischem Weltbild (am Beispiel des Buches Walther von der Vogelweide, Klopstock und ich)

I
Peter Rühmkorf ist einer der Schriftsteller, bei denen ein Gedichtband oft im Verbund mit anderen literarischen Produktionsformen steht, die meist in jenen Jahren bevorzugt werden, in denen der Lyriker entweder neue Gedichte schreibt, die später ein Buch füllen, oder aber für längere Zeit als Gedichteschreiber pausiert. So entstand nach den beiden Gedichtbüchern seines literarischen Beginns in den sechziger Jahren sein aus „Exkursen in den literarischen Untergrund“ geschürftes Buch Über das Volksvermögen (1967), dem in den siebziger Jahren ein Ausflug in die Hochliteratur des deutschen Expressionismus folgte, dessen Ergebnis in Gestalt von 131 expressionistischen Gedichten der Öffentlichkeit samt Vorwort und Kommentaren zu einzelnen Texten vorgestellt wurde (1976). Über eine kaum kleinere Zeitspanne hinweg war Rühmkorf einzelnen Schriftstellern vergangener Jahrhunderte auf der Spur, um – wie bei den Expressionisten – herauszufinden, wie diese Dichter „heute eigentlich“ dastehen, angefangen bei Klopstock, dessen Gedichte er für eine Taschenbuchausgabe (1969) auswählte und mit einem Vorwort versah, bis hin zur Wolfgang-Borchert-Monographie und den wohl am weitesten in die Vergangenheit lotenden Studien, die er zum Leben und Werk Walther von der Vogelweides trieb. Dem korrespondieren von Rühmkorfs Anfängen bis in die unmittelbare Gegenwart hinein jene Arbeiten, die wohl am meisten dem Broterwerb dienten: die für den Tag und die Stunde geschriebenen Literaturkritiken, ohne die manch einer seiner später geschriebenen Essays wohl kaum entstanden wäre, vor allem jene großangelegten kritischen Bestandsaufnahmen, für welche die zu Beginn der sechziger Jahre publizierte Studie „Das lyrische Weltbild der Nachkriegsdeutschen“ stehen kann, aber auch jene Aufsätze zu zählen sind, die in den siebziger und achtziger Jahren – und nun mehr zur eigenen Selbstverständigung – verfaßt wurden. Viele dieser Texte sind Auftragsarbeiten, von einer konkret faßbaren Gelegenheit her geschrieben, wie nicht wenige der Polemiken, in denen sich Rühmkorf mit Zeitgenossen anlegt oder den Zeitpuls zu fühlen versucht.
Dabei ist unübersehbar, daß alle diese Arbeiten, zu welcher Stunde und aus welchem Anlaß sie auch geschrieben sein mögen, in einem inneren Zusammenhang stehen, der zwar Arbeitsteilung nicht ausschließt, letztlich aber in der Person des Autors, auch wenn sie in vielerlei Gestalt im jeweiligen Text anwesend ist, einen übergreifenden Bezugspunkt findet, der erkennen läßt, daß die unterschiedlichen Produktions- und Präsentationsformen von artistischer Lyrik, märchenhaft-fiktiver Prosa (Der Hüter des Misthaufens), verspielter Klecksographie (Fleckenkunde) und kritisch reflektierender Standortbestimmung in Literatur und Politik als ein Ensemble begriffen werden müssen, das Rühmkorf als öffentlichen Darsteller („Lyrik auf dem Markt“) einbegreift. Als eine Ensembleform eigner Art ist vor allem jene Publikation anzusehen, in der gleichsam simultan und damit auf einen Blick zu sehen ist, was in der Regel nicht nur zeitlich nacheinander, sondern auch in unterschiedlichen Publikationsorganen der Öffentlichkeit zur Kenntnis gebracht wird. Es ist das 1975 erschienene Buch Walther von der Vogelweide, Klopstock und ich, in dem sich an einem Ort versammelt findet, was Rühmkorfs Vielgesichtigkeit in der Zusammenschau auf jene Mitte hin einsehbar macht, die sein literarisches Schaffen konstituiert: die literaturgeschichtliche Studie, in der am exemplarischen Fall das Verhältnis von Schriftsteller und Gesellschaft, Kunst und Politik erkundet und für die Jetztzeit noch immer gültig verallgemeinert wird, den Dialog, der als Organon poetologischer Fundierung künftigen Schreibens im Spannungsfeld lyrischer Selbstdarstellung gehandhabt wird, die als Probe aufs Exempel vorgeführten Gedichte, mit denen Rühmkorf eine neue Phase seines Gedichteschreibens einleitet, als deren manifestes Ergebnis der 1979 erschienene Band Haltbar bis Ende 1999 angesehen werden kann, und der programmatisch-unprogrammatische Aufsatz „Kein Apolloprogramm für Lyrik“, mit dessen Hilfe die literarische Szene sondiert und – zum wiederholten Male – die „Aussichten für Lyrik“ abgeschätzt werden.
Es ist jedoch nicht nur das Nebeneinander reflektierender Prosa und subjekterkundender Lyrik, das diesem Buch eine besondere Bedeutung in Rühmkorfs literarischem Werk zuweist. Es sind mehr noch die thematischen Korrespondenzen und gedanklichen Entsprechungen, die hier augenfällig werden lassen, wie die einzelnen Genres einander zuarbeiten und der analytisch erarbeitete Gesellschaftsbefund der Literaturprognose den Boden bereitet und jene Art des Gedichteschreibens vorbereitet, das in diesem Buch dann auch anhebt. Es scheint so, als wolle Rühmkorf gleich auf den ersten Seiten seines Drei-Dichter-Buches den methodischen Schlüssel für die eigene Arbeitsweise liefern, wenn er das berühmte Selbstporträt Walthers in dessen „Bauabschnitten“ zu rekonstruieren versucht:

1. „Ich saß auf einem Stein“
– das heißt:
der Selbstporträtist begibt sich auf ein
haltbares Fundament.
2. „Und schlug ein Bein über das andere“ – das heißt:
Die Gestalt nimmt von unten her Kontur
an und beginnt sich locker zu verfestigen.
3. „Darauf stützte ich den Ellenbogen“ – So!
Jetzt ist der immer noch etwas kippligen
Konstruktion ein tragender Balken einge-
zogen worden, wobei – fast unter der Hand –
gleichzeitig Spannung mit ins Spiel kommt.
4. „Ich hatte in meine Hand geschmiegt das
Kinn und meine Wange“
– Das Fazit, die Bilanz:
vier Striche und die Figur
sitzt! Damit sehen
wir nun aber auch schon die Gewölbezone erreicht,
und wir können gemeinsam zu den höheren und
höchsten Gedankenaufbauten übergehen
[…] (Walter von der Vogelweide, Klopstock und ich, S. 9f.)

Rühmkorfs Verfahrensweise, „Fundament“ und „Gewölbezone“ als zwei zueinander gehörende und aufeinander bezogene Begriffsgrößen seines Denkens überraschend neu zu nennen, wäre freilich verfehlt, denn es handelt sich dabei um ein Spannungsverhältnis, dessen sich der Dichter schon recht früh bewußt geworden ist und auf das er in seinen Aufsätzen immer wieder zu sprechen kommt. Die Konstellation, in der es in den siebziger Jahren geschieht, unterscheidet sich von der in den Jahren zuvor jedoch durch zwei nicht unwesentliche Besonderheiten. Die eine erklärt sich aus einer im Vergleich zur Lyrik der fünfziger und sechziger Jahre veränderten biographischen und dichterischen Situation. Rühmkorf hat die Schwelle seines vierten Lebensjahrzehnts längst überschritten und gebraucht selbst – wenn auch mit einem Schuß Ironie – für seine in den siebziger Jahren verfaßten Gedichte den Begriff „Alterslyrik“, womit wohl auch die Frage gestellt und zu beantworten war, ob sich ihm nach den Jahren der Lyrikabstinenz, in denen er sich als Dramatiker versuchte und seine Aktivitäten mit denen der außerparlamentarischen Opposition verband, noch einmal ein Zugang zu jener literarischen Gattung eröffnen würde, die sich in seinem poetologischen Denken seit jeher mit dem Begriff „Artistik“ verbindet: die Lyrik.
Auf diese Frage bündig zu antworten bedeutete nicht zuletzt, in einer zunehmend veränderten literarischen Szenerie die Koordinaten zu vermessen, die der eigenen Positionsbestimmung dienlich sein konnten; forderte dazu heraus, die landläufigen Schreibweisen kritisch zu sichten und jene Prämissen theoretisch auf Begriffe zu bringen, die es erlaubten, das Übermaß an falschem Bewußtsein (die Überanstrengung der politischen Wirkungsfunktion des Gedichts) soweit abzubauen, daß dem Gedicht jene Freiräume absichtslosen Kunstwollens zurückgewonnen werden, die es wieder tauglich machen als Medium jener Person, für die Rühmkorf den freilich lange vertrauten Namen „das lyrische Ich“ gebraucht. Er vor allem ist es, der in den poetologischen Bemühungen ins Zentrum rückt und dem Dichter schließlich die Richtung anzeigt, die zurück zum Gedicht führt. Es ist jedoch keine Rückkehr aufs Altenteil früher gewonnener Einsichten und Schreibkünste, sondern ein Weg nach vorn, der hypothetisch erst einmal als Negation der Negation umschrieben werden soll.

II
Rühmkorfs Absicht und Arbeitsweise im Umgang mit Erbe und Tradition wird auch im Falle Walthers von der Vogelweide sowohl im Titel („Reichssänger und Hausierer“ heißt das Oppositionspaar) als auch als Absichtserklärung ohne Umschweife als landläufigen Mustern (hier der akademischen Walther-Interpretationen) zuwiderlaufend deklariert. Das überlieferte Walther-Bild im „Codex Manesse“ fixierend, wird unumwunden erklärt:

was die immobilen Sitzbilder denn doch nur sehr unvollkommen wiedergeben, ist die im Gedicht schrittweise vollzogene Aufstockung einer Figur von unten nach oben, von der Basis bis zum Scheitel, von einem tragfähigen Unterbau bis schließlich hinauf in jene bewegten Überbaubereiche, in denen die auf- und umgewühlten Gedanken ihr friedloses Wesen treiben. (Walter von der Vogelweide, Klopstock und ich, S. 9)

Damit ist gesagt, was ins Bild gesetzt werden soll: kritische Revision eines im 19. Jahrhundert im Zeichen „völkischer Wiederaufrüstung“ entdeckten „Nationaldenkmals“, das als affirmative Reichsgründungsideologie mißbraucht wurde, indem die „zahlreichen Hinweise auf Weltbegebenheiten und Zeitereignisse in enger Verbindung mit den meist offen und kraß zu Tage tretenden Temperamentsausbrüchen-Freudenbekundungen“ als zwei Seiten eines Prozesses begriffen werden, in dessen Zentrum ein Individuum steht, das Rühmkorf „fast zeitgenössisch in seinen zwischen Privatpassion und politischen Leidenschaften zerteilten Interessen“ (Walter von der Vogelweide, Klopstock und ich, S. 13) nennt. Das ist der Punkt, an dem sich Walther und Rühmkorf begegnen, der jüngere Dichter den älteren als seinen Zeitgenossen erkennt und seinen Fall als den eigenen zu analysieren beginnt. Es geschieht einerseits dadurch, daß der Dichter des 20. den des 12. Jahrhunderts in „schlichte Alltagsprosa“ übersetzt, wo es um die irdischen Güter der damaligen Zeit geht, andererseits scheut er sich nicht, sich in seinen Vorgänger hineinzuversetzen, um jenen psychischen Mechanismen auf die Spur zu kommen, nach denen sich der Transformationsvorgang von der (ökonomischen) Basis in den (dichterischen) Überbau im lyrischen Subjekt vollzieht, dessen Existenz ihm allein schon die Wörter „,ich‘, ,meiner‘, ,mir‘, ,mich‘“ in den Anfangszeilen der Walther-Gedichte verbürgen. Nicht von ungefähr sieht Rühmkorf dieses „Ich-Bewußtsein“ in einem Augenblick der Krise und des Umbruchs entstehen, der seiner Lage bei aller Verschiedenheit der Zeitalter und der Personen in den siebziger Jahren verglichen werden kann, wenngleich die Vorzeichen dabei umgekehrt werden müssen. War es bei Walther der „Verlust sozialer Identität“, der aus dem „zerspaltenen Selbstverständnis als Hofdichter“ ein „gleichsam höheres“ freisetzte, so ging es Rühmkorf wohl eher darum, ein als brüchig erkanntes Gemeinschafts- und Kollektivbewußtsein, das sich nicht mehr beglaubigen ließ, durch jene Wahrheiten neu zu begründen und vor sich selbst zu legitimieren, die aus der Erfahrungswelt eines Individuums allein geschöpft wurden. Was er im Verlaufe seines Erkundungszuges in das deutsche Mittelalter am Beispiel des „Reichssängers und Hausierers“ an den Tag bringt, erweist sich zum Schluß hin als ein Lehrbeispiel schließlich auch für einige Literaturdeuter der siebziger Jahre unseres Jahrhunderts, denen der Hamburger eine gehörige Lektion in Dialektik erteilt:

Daß das Sein das Bewußtsein formt, ist ein Fundamentalsatz materialistischer Geschichtsauffassung und Gesellschaftsphilosophie – es ist die unsre – und, so für sich genommen, doch nur eine Erkenntniskrücke für die Erstkläßler eines Literatur- und Gesellschaft-Seminars. Das Sein kann nämlich so und so formen, und wie der Mangel an Besitz und Eigentum noch nicht unbedingt zu der erwünschten Sozialkritik führen muß, so wenig die Verleihung einer Sinecure in die erwartete Sorglosigkeit. (Walter von der Vogelweide, Klopstock und ich, S. 55f.)

Auch bei Friedrich Gottlieb Klopstock, dem zweiten Dichter in der Reihe von Walther bis Rühmkorf, wird gleich auf der ersten Seite Auskunft darüber gegeben, was den Biographen an seinem Gegenüber vor allem interessiert:

Nehmen wir Klopstocks Leben im Längsschnitt, so nimmt es sich fast wie eine modellhafte Komplikation der deutschen Misere aus. Es verzeichnet nicht nur getreu alle Schwankungen im ökonomischen Fundament der Gesellschaft, sondern – und heftiger – die Vibrationen und Irritationen im ideologischen Überbau. (Walter von der Vogelweide, Klopstock und ich, S. 81)

Wie beim Walther-Essay legt sich Rühmkorf auch diesmal gleich bei der Prämissendiskussion (auf die Frage nach dem Woher Klopstocks heißt es ohne Umschweife: „aus zerrütteten Verhältnissen und der Konkursmasse einer großen Privatinitiative“; Walter von der Vogelweide, Klopstock und ich, S. 81) mit der akademischen Zunft an, der nachgesagt wird, daß sie „die für uns wichtigen Interdependenzen von ökonomischen Fundamentalerschütterungen und nervösem Überbaugeflacker – wenig Wert gelegt“ (Walter von der Vogelweide, Klopstock und ich, S. 85) habe. Wirkte es im Falle Walthers von der Vogelweide noch anachronistisch, wenn Rühmkorf dort mit Begriffen wie „Tendenzkunst“ und „Kunststücke“ (in diesem Falle sogar mit einem eigenen Werktitel) operierte, um seinen Dichter in die Gegenwart herüberzuholen, bewegt er sich bei Klopstock schon auf einem Terrain, auf dem die vorgefundenen Verhältnisse jenen weitgehend gleichen, mit denen sich der Gegenwartsschriftsteller konfrontiert sieht. Der Schriftsteller tritt (in der Person Klopstocks) als ein „radikal neuer Typ des Bürgers und des literarischen Produzenten auf den Plan“ (Walter von der Vogelweide, Klopstock und ich, S. 86). Diesen Dichter kann der Analytiker rechtens einen „Vorläufer“ auch deshalb nennen, weil er sich als einer der ersten deutschen Dichter des 18. mit einer in den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts durchaus aktuell zu nennenden Fragestellung auseinandersetzen mußte: dem Verhältnis der Poesie zur Revolution. Am Einzelbeispiel – Klopstocks Gedichten auf die Französische Revolution von 1789 – wird der Sachverhalt gezeigt, exemplifiziert an Gedichten wie „Kennet euch selbst“ und „Sie, und nicht wir“ bis hin zu jenen Texten („Die Jakobiner“ und „Das Neue“), mit deren Hilfe Rühmkorf das Dilemma zeigt, in das der einstige Revolutionsdichter im Verlaufe der Ereignisse in Frankreich geriet.

Der Mann, dessen man sich eben noch für die Sache der Revolution ganz sicher glaubte, entzieht sich – unverhoffter Renegat – dem Zugriff. (Walter von der Vogelweide, Klopstock und ich, S.114)

Wie am Schluß des Walther-Essays zieht der Klopstock-Interpret auch diesmal aus dem „aufregenden Kasus“, nun unter „individualpsychologischem Blickwinkel“, einen unübersehbar auch für die Gegenwart und die eigene Situation beachtenswerten Schluß, der für die eigene Leid- und Schmerzbewältigung im Sinne eines warnenden Beispiels, das Nachahmen nicht verdient, richtungweisend für den Lyriker Rühmkorf gewirkt haben könnte:

Aller freudigen Aussichten ledig, starrt er mit nahezu masochistischer Vernarrtheit auf diesen ihm einzig interessant erscheinenden Punkt der Weltgeschichte, entzaubert und festgenagelt in einem […] So mündet der hoffnungsvoll begonnene Kehraus in einem von fürstlichen Löwen und königlichen Adlern bevölkerten Feudalzoo jetzt in die negative Dämonologie einer „Klubbergmunizipalgüllotinoligokra-Tierrepublik“. (Walter von der Vogelweide, Klopstock und ich, S. 116)

Die Wendungen, die einige Schriftsteller der Bundesrepublik, die in den Jahren der Studentenrevolte zu Wortführern des politischen Aufbruchs geworden waren, im Verlaufe der siebziger Jahre ihrem literarischen Leben gaben, mögen Rühmkorf dabei mit vor Augen gestanden haben. Damit ist auch gesagt, worum es ihm bei den beiden Beispieldemonstrationen ging: um Grundsteinlegungen für ein Materialfundament, das es ihm gestattet – die eigene Dichtungsproblematik einbeziehend –, die darüberliegende Etage zu betreten, von der aus es möglich ist, nicht nur das Leben und Werk zweier Dichter zu überblicken, sondern das Ganze: die jeweilige Epoche und den geschichtlichen Prozeß. Damit hat er sich auch die für Verallgemeinerungen und Theoriediskussionen unverzichtbare erhöhte Plattform geschaffen, um in den kritischen Diskurs über das Geschriebene und den für die Veröffentlichung gewählten Titel eintreten zu können. Ein Brief an den Lektor Jürgen Manthey, der auf der Rückseite des Buches als Faksimile abgedruckt wurde, dokumentiert die Grenzüberschreitung, die nun vom Autor zum Sachverständigen für Literatur hin vollzogen wird. Der Schreiber Rühmkorf wird zum Sprecher, und der Dialog löst die weitgehend an den Text fixierte Analyse der beiden vorangegangenen Partien des Buches ab.

III
Das Thema, von dem der Dialog ausgeht, ist einerseits enger gefaßt als die Thematik der beiden Vorkapitel, andererseits, wenn man darunter die das „lyrische Ich“ überschriebene Problematik versteht, weiter als die Erörterungen im Walther- und Klopstockteil, denn es erweist sich, daß es um ein Generalproblem lyrischer Theorie und Praxis geht, das Autoren und Zeitalter übergreift.
Die für die beiden Dialogpartner gewählten Kürzel R und M (sie stehen für Rühmkorf und Manthey) lassen keinen Zweifel daran, daß zumindest die R genannte Person mit dem Autor identisch ist. Da der Lektor im Brief per Sie angesprochen wird, im Dialog aber die Duzform gewählt wird, könnte die mit M titulierte Person auch als Alter ego von R verstanden werden, als dessen Stichwortgeber und Widerpart zugleich, der das Gespräch in Gang zu bringen hat. Das geschieht zunächst, indem die Fäden zum Walther- und Klopstock-Kapitel geknüpft werden und in Erinnerung gerufen wird, was dort gezeigt worden war: die Zwiegestalt des Ichs als „Privatperson“ und „Kunstfigur“. Die ist Rühmkorf auch für die Erörterung der eigenen Dichtungsproblematik wichtig genug, um sie in ihrer Stimmigkeit gleich noch einmal zu bewahrheiten. Das geschieht zunächst dadurch, daß der Terminus „lyrisches Ich“ zur jüngeren Lyrikgeschichte und vor allem Gottfried Benn gegenüber per Negation abgegrenzt wird:

ein Ich, das praktisch nur im Aggregatzustand des Gedichts existierte und mit dem dahinterstehenden Subjekt nicht viel zu tun haben soll. […] ein Ich ohne Vergangenheit, Herkunft, sozialen Werdegang, private Eintrübungen, biografische Bedingtheiten: etwas gewissermaßen Unbedingtes! (Walter von der Vogelweide, Klopstock und ich, S. 123)

Ob Benn das lyrische Ich wirklich so definiert hat und nicht der als Titel seiner Autobiographie gewählte Terminus „Doppelleben“ geeigneter wäre, das von Rühmkorf gemeinte Problem zu veranschaulichen, mag dahingestellt bleiben. Worum es dem Gesprächsführer geht, kann kaum mißverstanden werden: um das Ich als ein Gesellschaftswesen. Es steht am Schluß seiner Redepassage:

Es bildet sich unter dem Druck und dem Zug von sehr bestimmten sozialen Prägekräften und tritt eigentlich auch nur umständehalber in Erscheinung. In bestimmten charakteristischen Spektren aber von Zeit zu Zeit als eine Art von Typus. (Walter von der Vogelweide, Klopstock und ich, S. 123)

Die siebziger Jahre waren für Rühmkorf eine Zeit, in der sich ein solcher Typus bildete, den er im Laufe des Gesprächs immer genauer zu bestimmen beginnt. Daß er es am Beispiel der eigenen Biographie – wie schon Jahre zuvor in dem Buch Die Jahre die Ihr kennt – tut, kann nach alldem kaum noch überraschen. Wie bei Walther und Klopstock beginnt diese Vorführung auch diesmal mit einer Zeitalterbestimmung: des „neuen Grundlagenfließens und neuer Klassenspannungen“. Denn:

Solange eine Klasse unangefochten herrscht, hat das Ich überhaupt keinen Grund, sich große Gedanken über sich selbst zu machen […] Das bishin gesammelte oder doch am Ausdruck seiner selbst ziemlich uninteressierte Ich wird irre an seinen alten Zusammensetzungen; es beginnt, seine Knochen neu zu sortieren, seine Wesenszüge umzuordnen, sein Blatt neu zu mischen und plötzlich tritt es über in einen veränderten Aggregatzustand. (Walter von der Vogelweide, Klopstock und ich, S. 123f.)

Hier spricht der theoretische Kopf wohl mehr oder weniger pro domo, gleichsam um sich selbst dafür zu legitimieren, daß Peter Rühmkorf wieder Gedichte schreibt und es nicht mehr als eine Schande ansieht, von Kunst zu sprechen. Es ist ein Revisionsakt, der hier begrifflich-theoretisch vorbereitet wird, durch literaturgeschichtliche Beispiele, die weit hergeholt wurden, untermauert. Solches Gedankenspiel droht freilich in einem Regelwerk zu erstarren, wenn Zeiten gesellschaftlicher Spannungslosigkeit als Zeiten ichloser Lyrik glaubhaft gemacht werden sollen und übersehen wird, daß gerade in Zeiten wirtschaftlicher Stabilität, mündelsicherer Anlagen und unumstößlich scheinender moralischer Werte Verunsicherung um sich greifen kann und Postulate formuliert werden, wie sie sich in vielen expressionistischen Gedichten finden, in denen das einzelne Ich als Wortführer der ganzen Menschheit in Erscheinung tritt. Die „sicheren Lebensformen“ schlossen in diesem Fall „Verfall und Triumphs-Gefühle nicht aus, sie erzeugten sie geradezu. Wohl auch deshalb, weil „Überbaugeflacker“ schon einsetzte, als die Fundamente der Gesellschaft noch unzerstörbar erschienen. Auch was Rühmkorf „persönliche Klassenunsicherheit“ nennt, greift begrifflich viel weiter aus, als im weiteren Gesprächsverlauf an biographischen Fakten zum Sachverhalt mitgeteilt wird. Es sind jene Passagen, in denen der Zeitbericht immer mehr Züge einer nicht von Selbstlob freien Selbstdarstellung (oder soll man von wohlkalkulierter Werbung sprechen) annimmt und R. sich zu den „kleineren Zeitvoraussagern“ zählt, zu denen er eigentlich, wenn es nach seiner Theorie ginge, gar nicht gehören dürfte. Worauf sich die Fähigkeit, „so für 4-5-6 Jahre“ die Zukunft zu antizipieren, bezieht, ist mit dem Jahr 1968 sinnfällig angezeigt:

M: Und als sich die APO dann wirklich bildete und die Proteste sich von Papier lösten und die Öffentlichkeit bewegten, da warst du zunächst mit dabei.

R: Ein paar Male sogar als Vorpfeifer, und zwar ganz unmetaphorisch. Ich skandierte unsere Kader-Sprüche mit der Trillerpfeife. Hab dann auch immer wieder auf Podien gestanden und Reden gehalten. Ziemlich chiliastische.

M: Von dem Chiliasmus, von dem Menschheitsbeglückerpathos ist soviel nicht geblieben.

R: Ich habe nie abgeschworen.

M: Du hast dich mokiert, und zwar ganz und gar nicht zimperlich. Über die ,Popsozis‘, die ,Oberbekleidungsrevolutionäre‘, über die ,linken Heilsmystiker‘, die ,Boutiquen-Robespierres‘ – das hast du sogar alles zu Papier gegeben. Es klang beinah schon wie der alte Klopstock 1792, als er der Französischen Revolution abschwor. (Walter von der Vogelweide, Klopstock und ich, S. 135)

Und dann ist auch die Rede von jenem Debakel, das Rühmkorf als Dramatiker erlebte, als er die „Marktlage“ verkannte und mit „Parabelstücken über wirtschaftlichen Konkurrenzkampf“ ein „schlimmes Lehrstück“ erlebte:

Ich war äußerlich und innerlich Pleite, mein Bewußtsein ging auf Grundeis. (Walter von der Vogelweide, Klopstock und ich, S. 136f.)

Von diesen Erfahrungen geprägt – im Gespräch erzählt er auch von anderen Produktionsweisen, denen er sich damals zuwandte –, definiert sich sinnbildlich nun auch der Lyriker mit seinen „neuen Gedichten“ als Akrobat und Hochseilkünstler, und das Gespräch steuert auf das Thema jenes Aufsatzes zu, der als Schlußteil dem Buch beigegeben wurde. „Kein Apolloprogramm für Lyrik“ heißt er.

Zuvor jedoch wird gedanklich noch einmal Anlauf für eine Kunstformel genommen, die wohl als das Fazit des Dialogs angesehen werden kann:

M: Die Poesie als eine legitime Schwester der Anarchie?

R: Mit dem einzigen gewaltigen Unterschied, daß Poesie ihre eigenen Halte- und Ordnungssysteme entwickelt. Ziemlich rigide sogar. Und daß sie einem Äußersten an Gefährdung/Bedrohung mit einem Äußersten an innerer Festigkeit zu begegnen sucht. (Walter von der Vogelweide, Klopstock und ich, S. 146)

Damit geht einher, was Rühmkorf „getrennte Existenzen“ nennt.

Es kann also durchaus sein, daß der eine von uns für politische Parteiungen oder gesellschaftliche Ordnungen votiert, vor denen der andre sich schüttelt. (Walter von der Vogelweide, Klopstock und ich, S. 147)

Der Widerspruch zwischen beiden ist nun gleichsam programmiert, das Spannungsverhältnis in der eigenen Person installiert, die neue Basis für das Gedichteschreiben gegründet. Der Freiraum, in dessen Grenzen diese Art der Kunstpraxis wieder geübt werden darf, ist geschaffen. Es gibt keine Hindernisse mehr, sich erneut der „Kunststücke“ zu bedienen, ohne die das Gedichtemachen bei Rühmkorf in der Vergangenheit nicht denkbar war. Wie aber wird das „neue Gedicht“ aussehen, das in den siebziger Jahren probiert und Haltbar bis Ende 1999 in Aussicht genommen wird? Läßt sich an den „21 Gedichten“, die Rühmkorf für diesen Band zusammengestellt hat, schon die Probe aufs Exempel machen?

IV
Verglichen mit dem 1979 publizierten Gedichtband Haltbar bis Ende 1999 fällt an diesen 21 Texten auf, daß sie nicht, wie bei Rühmkorf üblich, nach Gruppen geordnet und dann noch einmal untertitelt, sondern mehr oder weniger lose gereiht wurden, vermutlich sogar in einer Zeitfolge, auf alle Fälle jedoch so, daß die Jahre von 1972 (dieses Datum wird im Gedicht „Druse“ gleich am Anfang signalisiert) bis 1975 als wahrscheinlicher Entstehungszeitraum angenommen werden können. Wichtiger jedoch als der hier noch fehlende thematische Obernenner für diese Gedichte ist, daß einige in einem offenkundigen Korrespondenzverhältnis zueinander stehen, ablesbar sowohl an Gedichten, die den elegisch-ironischen Ton der Altersreflexionen im Dialog aufnehmen, erkennbar aber auch an Texten, die direkt dessen Vokabular benutzen, „Hochseil“ und „Zirkus“ zum Beispiel. Auch der Tonfall, die Wortwendung und die Rhythmisierung des einen oder anderen Gedichtes erinnert an frühere Gedichte aus der „Kunststücken“-Zeit. Das mag ein Indiz dafür sein, daß sich der Dichter auch in seiner Sprache wiedergefunden hat, hat aber mehr wohl mit der Praxis des „Artisten“ zu tun, dem es hin und wieder gefällt, sich selbst zu zitieren (das war auch im Dialog schon so) oder der geschriebenen bzw. gesprochenen Sprache mehr als der eigenen den Vorzug zu geben. Auch darin ist der neue dem alten Lyriker vergleichbar geblieben. Sein Wortarsenal reicht noch immer vom „Volksvermögen“ bis zur Neologismusbildung höchsteigener Provenienz. Daß ihm im neuzeitlichen Sprachverschleiß die Sprache noch nicht gänzlich abhanden gekommen ist, beweist er mit Galgenhumor im Gedicht „Nekropolis“, in dem der Tod auch visuell gegenwärtig ist, als Graphem sowohl für diese Stadt, aber auch dafür, daß im Zeichen des Endes auch das Gedicht mehr und mehr mit Leerstellen ausgefüllt werden muß, die mit dem Todeskreuz angezeigt werden.
Ehe Rühmkorf in einem der letzten Gedichte dieses Bandes das „Hochseil“ wieder besteigen kann, muß er zuerst weit unten den Boden dafür bereiten. Unten bezeichnet dabei sowohl das Stimmungstief, das einige seiner Gedichte zu erkennen geben, als auch die Baisse, als die ihm nun die Jahre des Alters erscheinen. Das „Druse“-Gedicht gibt Einblick in das Wortlaboratorium, in dem seine „Auffanggläser“ aufgestellt werden sollen:

16 Uhr 30. – Auffanggläser beiseite gestellt. Filterpapiere abgeheftet. Drei Kreuze geschlagen. Schlußstrich gezogen. Lyrik in meinem Alter noch? Wohl doch’n bißchen unseriös. Zumindest ein Luxus, den man auf längere Sicht gar nicht durchhalten kann. (Walter von der Vogelweide, Klopstock und ich, S. 152)

Der Zweifel greift um so tiefer, weil auch die eigentliche Sinnfrage – Wozu, wofür Lyrik heute? – vorerst nicht produktionsstimulierend beantwortet werden kann, nicht zuletzt deshalb, weil das Gedicht so sehr Ausdruck eines einzelnen Menschen ist, daß es sich jedem anderen von vornherein entzieht oder verschließen muß. Rühmkorf kalkuliert dieses Berufsrisiko ohne Illusionen:

(…) Man zieht und zieht seine
S c h a t t e n
aus spitziger Feder,
kilometerweise, aber
von einer gewissen Qualität an wird es dann
für Dritte und Vierte fast zwangsläufig
u n – v e r – s t ä n d l i c h –
Wackeln Sie nur nicht so
unmutig mit dem Überbau, meine Herrschaften!
Wenn diese Gesellschaft sich   k e i n e
G e d i c h t e   leisten kann,
d e n   A n s p r u c h ,
ne Kulturnation zu bleiben, werde
I C H ?
a u s  e i g e n e r ?
T a s c h e ?
b e s t r e i t e n ?
Gar nichts werd ich
. (Walter von der Vogelweide, Klopstock und ich, 152f.)

Die diesem Gedicht benachbarten Texte umkreisen mehr oder weniger die hier umrissene Situation des Dichters. Das Gedicht „Vormärz“ signalisiert seine prekäre Lage, indem es einen Feldherrenspruch aufnimmt und ins Gegenteil umkehrt: zur Bezeichnung eines Besiegten, der sich seine Niederlage eingestehen muß:

Ich saß, ich sah, ich schrieb,
der letzte Kuli,
der hinterm Glück zurückgeblieben war;
bereits der Morgen hatte was von Juli
mitten im Februar.
(Walter von der Vogelweide, Klopstock und ich, S. 155)

Das Gedicht „Schon ab Vierzig“ liest sich vom Schluß her auf den ersten Blick wie die Zurücknahme dieser Lagebeschreibung, wenn sich die Du-Person als „im Kampfe unbesiegt“ bezeichnet. Aber auch hier wird im Grunde vom Ende gesprochen, nur daß es „von der eigenen Hand“ gesetzt wird, also kein anderer sich als Sieger ausrufen kann. Selbst der zunächst gar nicht tragikumwitterte Titel „Abtrunk“ liest sich konnotativ eher wie „Abschied“ oder „Absage“, womit sowohl das Leben als auch die Dichtung gemeint sein können. Erst am Schluß dieses Gedichts gelingt die Gegenbewegung, für die nicht von ungefähr das Adverb „hoch“ steht:

Fahr ich hoch, aus dem knirschenden Joch,
mit ununterkriegbaren Sinnen:
I c h   w i d e r s p r e c h e ,
i c h   w e t t e r l e u c h t e   n o c h !
conquistadorisch nach innen
. (Walter von der Vogelweide, Klopstock und ich, S. 157)

Daß dieser Weg „nach innen“ ein Fluchtweg sein könnte, der noch immer nicht Rettung zu verheißen vermag, bestätigt das Gedicht mit dem Titel „Kiez“, in dem sich das lyrische Ich als

Alter Mann, auf frischer Flucht befindlich,

vorstellt, dem sich die Frage stellt:

Warum krempelt sich dein Kopf nach innen?,

ehe am Schluß Selbstermutigung die Stimmung umschlagen läßt:

Bruder, führst du auch ein ungeliebtes
L e b e n,
hau es auf den Kopf, das Haupt –
seinen eignen Leidenssirup saufen, doch, das gibt es,
öfter als man glaubt.
(Walter von der Vogelweide, Klopstock und ich, S. 159)

Kneipenszenerie und durch Alkohol bewirkte Gemütserleichterung, ohne die solches Selbsterkennen vielleicht gar nicht formulierbar wäre, bleiben auch für Gedichte unverzichtbar, die alkoholisch eingeleitet oder mit dem Namen eines solchen Getränks „Jetzt mitten im Klaren“ doppeldeutig betitelt werden. Weitet sich im Gedicht „Elbterrassen“ die Szenerie in metaphysische Bereiche („Ist das astral? Orplid?“), die es gestatten, das eigene Dilemma zu generalisieren („W a s   i s t   d e r   M e n s c h ?“), so bekommt im letzteren „Herr Charon“ den Auftrag, „Übersetzungshilfe“ in das Totenreich zu leisten. Die Trinkermetaphorik verbindet sich mit dem Todesmotiv, ganz gleich, ob „Lethe mit Schuß“ bestellt oder ein „Gnadenschluck“ (wer assoziiert nicht auch hier die ursprüngliche Wortverbindung) verlangt wird. In dieser Lage ist es dem lyrischen Ich aber offenbar auch versagt, bei der „säuselnden Sirene“, die im Gedichttitel „Undine“ genannt wird, mehr als einen trügerischen Trost (oder Selbstvergessenheit) zu finden, wie es sich als unmöglich erweist, einem politischen Imperativ wie „Anschluß an Masse finden“ zu folgen, um darin aufgehen oder sich aufgeben zu können. Diese Einsicht findet ihre Entsprechung in einer Strophe von „Mailied für junge Genossin“, in der nun auch für das Gedichteschreiben erst einmal der Negativpol bestimmt wird, ohne den die Dialektik von Kunst und Politik nicht wiederhergestellt werden kann:

Kunst als Waffe? – da sei Majakowskij vor!
Deibel, diese blutige Krawatte.
Dicker Danton, der den Kopf verlor,
als er seine Zähne noch beisammenhatte.
(Walter von der Vogelweide, Klopstock und ich, S. 175)

Nach alldem verwundert es nicht, daß der Aufschwung, der das lyrische Ich hinauf aufs „Hochseil“ bringt, nicht zu einem Befreiungsakt gerät, mit dem es gelingt, dem innerlich zerrissenen und verunsicherten Ich zu entfliehen. Im Gegenteil: auch die Kunst bleibt im Bannkreis des Zweifelhaften und Prekären, wenn sie sich an die Prämissen hält, die Rühmkorf für sie aufgestellt hat und dem Ich zuordnet:

Wer von so hoch zu Boden blickt,
der sieht nur Verarmtes/Verirrtes.
Ich sage: wer Lyrik schreibt, ist verrückt,
wer sie für wahr nimmt, wird es.
(Walter von der Vogelweide, Klopstock und ich, S. 178)

Das Fazit, das aus diesen Gedichten gezogen werden kann, ist eindeutig: Ich und Welt befinden sich in einem beklagenswerten Zustand, und noch ist das rettende Ufer nicht in Sicht, von dem aus wieder Gedichte möglich werden, wie man sie – zumindest vereinzelt – im Lyrikbuch von 1979 findet, wo die erste Gedichtgruppe mit dem Untertitel „Von mir – zu euch – für uns“ eine wesentlich modifizierte Weltsicht und Schreibhaltung ankündigt. Insofern ist es der Situation angemessen, wenn die Überschrift des Textteils, der den 21 Gedichten vorausgeht, in Abrede stellt, was möglicherweise erwartet wird. Sie lautet: „Kein Apolloprogramm für Lyrik“ und gibt zu verstehen, daß die Höhenflüge der Raumfahrer keine Entsprechung in der Lyrik der siebziger Jahre finden, weil ihr das „Universalbenzin“ (zumindest für Rühmkorf trifft das zu) ausgegangen ist.

V
Der Schlußtext ist der kürzeste im Ensemble der vier in diesem Buch nachlesbaren. Er umfaßt acht Druckseiten, zu lang mithin für ein literarisches Manifest, zu kurz für ein Panoramabild wie „Das lyrische Weltbild der Nachkriegsdeutschen“. Um einen bloßen Anhang zu den Haupttexten handelt es sich aber auch nicht, dafür ist dieses Prosastück zu stark in das thematische Netzwerk der vorherigen Textsorten eingebunden, und es kann auch nicht übersehen werden, daß der Autor hin und wieder auf frühere Publikationen zurückgreift, deren Thesen er erneut ins Feld führt. Das gilt da, wo von Adorno die Rede ist, für den Aufsatz „Einige Aussichten für Lyrik“ (1963) als auch für den im gleichen Jahr verfaßten Brief an einen Geschäftsfreund mit dem Titel „Erkenne die Marktlage“. Setzt man „Kein Apolloprogramm für Lyrik“ zu den literaturgeschichtlichen Studien über Walther und Klopstock in Beziehung, dann kann er zumindest in einem Punkt als deren Fortsetzung deklariert werden, denn er ergänzt das Vergangenheitsbild durch das der literarischen Gegenwart. Darauf soll nun noch einmal das Augenmerk gelenkt werden.
Rühmkorf bilanziert zunächst die Marktaktivitäten – verstanden als Versuche, das Gedicht vor ein größeres Publikum zu bringen – in den „mittleren Sechzigern“ und konstatiert das sattsam bekannte Grundübel:

da die Gesellschaft in Wirklichkeit keinen Platz für Lyrik hatte, allenfalls Abstellplätze, verkehrte sich die Platzwahl selbst zur baren Utopie, d.h. zur krampfhaften Suche nach immer neuen Unörtern. (Walter von der Vogelweide, Klopstock und ich, S. 185)

Was als Innovation begann, blieb ohne die erhoffte Wirkung, sowohl die Nachfrage auf dem Gedichtmarkt betreffend als auch auf Anzeichen veränderten Publikumsverhaltens bezogen, die offenbar ausblieben und über ein ritualisiertes Frage-und-Antwort-Spiel zwischen Autor und Rezipient nicht hinauskamen. Aber auch die Bemühungen, die an der „Wende von den Sechziger zu den Siebziger Jahren“ einem neuen Gedichttyp zum Durchbruch verhalfen, den Rühmkorf „das epigrammatische Lehrgedicht“ nennt und auf fünf Merkmale festlegt, vermochte die Situation nicht grundlegend zu verändern. Dabei handelt es sich hier um eine Sprechweise, die der Kritiker Rühmkorf ein Jahrzehnt zuvor selbst willkommen geheißen und für einige seiner Eigenschaften belobigt hatte, die er diesem Gedichttyp jetzt mehr oder weniger anlastet, nicht nur, weil diese Gedichte den Sozialismus nicht genug verbreiten halfen, sondern weil diese Praxis des Gedichteschreibens auf das Gedicht zurückschlug, indem es dieses mehr und mehr dessen beraubte, was zu einem Gutteil seine Wirkungskraft ausmacht: seine Kunstfertigkeit. Nimmt man die Gedichte, die Rühmkorf als Beispiele nennt, unter diesem Gesichtspunkt in Augenschein, kann man dem Kritiker einerseits wohl zustimmen, muß andererseits aber hinzufügen, daß die Vielfalt und der Reichtum der Sprechweisen, die im Zeichen eines stark politisierten Wirklichkeitsverhältnisses entstanden, außer acht gelassen werden. Wenn Rühmkorf schließlich für eine ihm angemessene Schreibweise die damals in Mode kommende „neue Subjektivität“ nennt (zum Glück an einige Namen gebunden, die seinen Gedanken keinen Abbruch tun), vertraut er offenbar mehr dem modischen Schlagwort, anstatt tiefer lotend danach zu fragen, ob dieses Programm nicht auf eine andere Art von Einseitigkeit hinauszulaufen drohte und dem Privatich in einem Maß Tür und Tor öffnete, das einer „Tendenzwende“ gleichkam. Solche Weiterungen mochten 1975 noch nicht generell absehbar sein, in der Folgezeit jedoch waren sie die Regel, die das Spiel (die Marktlage) bestimmte. Als das eigentliche Dilemma nennt Rühmkorf „den Eindruck, als ob sich die Poesie die eigne Existenzfrage gar nicht stellt und sich vor Tod-oder-Leben in eine pläsierliche Welt des schönen Scheins verflüchtigt. So viele nette kleine Bruderschaften in Apoll! – aber kein einzelgehender Satyr wagt sich aus den Schutzgebieten hervor ins Freie, kein meinetwegen Marsyas, um den Sterblichen unter Lebensgefahr eine richtige Menschenmusik vorzuspielen.“ (Walter von der Vogelweide, Klopstock und ich, S. 189)
Das ist der Punkt, an dem das, was kein Programm (zumindest keines mit großen Ankündigungen) sein sollte, dennoch ins Programmatische übergeht. Es ist – was die darin intendierte Verhaltensmaxime angeht – auf einen einzigen Begriff zu bringen: „Unerbittlichkeit“. Gemeint ist damit die Fähigkeit, „einem anderen Gesetz ins Auge zu blicken“. Diese Tendenz kleidet der Lyriker (nachdem er das griechische Götterpaar Dionysos und Apoll eingeführt hat) in ein antikes Gleichnis:

Vor die Wahl gestellt, wem das Gedicht sich gesellen soll und wem seine Stimme leihen, mit Apoll den bestechlichen Musen oder mit Marsyas den ausdrucksbegierigen Menschen, der himmlischen Betrugsartistik oder dem Hunger nach Lebenswahrheit, den Fellabziehern oder den Geschundenen, kann, muß die fast aus der Welt konkurrierende Gattung doch schon von Schicksalswegen die Partei ergreifen der so oder so oder so Deklassierten und Entfremdeten. (Walter von der Vogelweide, Klopstock und ich, S. 190)

Damit ist die Negationsform im Titel („Kein“) ebenso deutlich bestimmt – nun mit dem Götternamen unbezweifelbar auf Literatur und nicht auf die Raumfahrt bezogen –, wie das der Situation gemäße Denken und Schreiben seine Richtung im Sinne einer neuen Sinnbestimmung gefunden hat. Es ist kein vages Zwischen-den-Fronten-und-Lagern-Stehen, sondern ein entschiedenes Parteinehmen, dem das Wort geredet wird, nicht in einem vordergründig politischen, sondern in einem tiefverstandenen menschlichen Sinne, der auch sozial faßbar bleibt. Bestimmtheit und Offenheit halten sich die Waage ebenso wie Selbstbewußtsein und Realitätssinn.
Was am Schluß dieses Prosatextes in ein Gleichnis gefaßt wird, ist bald auch in einzelnen Gedichten in lyrischer Sprechweise vernehmbar, stellenweise so wie im Gedicht „Bleib erschütterbar und widersteh“, wo Programm und Gedicht eins werden und erkennen lassen, daß Rühmkorf eine zumindest über den Tag hinausweisende Antwort auf einige der Fragen gefunden hat, die in diesem Buch gestellt werden mußten:

Widersteht! im Siegen Ungeübte,
zwischen Scylla hier und dort Charybde
schwankt der Wechselkurs der Odyssee…
Finsternis kommt reichlich nachgeflossen;
aber du mit – such sie dir! – Genossen!
teilst das Dunkel, und es teilt sich die Gefahr,
leicht und jäh – – –
Bleib erschütterbar!
Bleib erschütterbar – und widersteh. (Haltbar bis Ende 1999, S. 28)

Klaus Schuhmann, aus Manfred Durzak/Hartmut Steinecke (Hrsg.): Zwischen Freund Hein und Freund Heine: Peter Rühmkorf. Studien zu seinem Werk, Rowohlt Verlag, 1989

 

Beiträge zu diesem Buch:

Heinz Ludwig Arnold: Einer, der querliegt
Frankfurter Hefte, Heft 10, 1976

Günther Bärnthaler: Walther von der Vogelweide bei Peter Rühmkorf. Mit Hinweisen zur methodisch-didaktischen Umsetzung in der Schule
Mittelalter-Rezeption, 1982

Trude Ehlert: Walther von der Vogelweide, Klopstock und ich
Zeitschrift für deutsche Philologie, Heft 101 1982

Geno Hartlaub: Die Wahlverwandtschaften des Peter Rühmkorf
Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt, 4.1.1976

Hans Jürgen Heise: Lyriker auf Traditionskurs
Die Welt, 6.12.1975

Klaus Michael Hinz: Forschungen eines Fauns
Stuttgarter Zeitung, 23.7.1976

Jürgen Kolbe: Graziös in Gefahr
Der Spiegel, 5.1.1976

Karl-Jürgen Miesen: Wer ist, wer wird verrückt. Rühmkorf las in der Kunsthalle 
Rheinische Post, 1.12.1975

Wolfgang Pewesin: Zur Interpretation des Walther-Liedes „muget irschouwen“. Offener Brief an Peter Rühmkorf 
Der Deutschunterricht, Heft 6, 1976

Albert von Schirnding: Ansichten eines Fauns
Süddeutsche Zeitung, 13./14.3.1976

Peter Schütt: Lauter geniale Kunststücke. Lyrik und Literaturkritik von Peter Rühmkorf 
Deutsche Volkszeitung, 15.4.1976

Michael Stone: Ein Schuß Marx, drei Schuß Alkohol
Stuttgarter Zeitung, 14.2.1976

Reinhardt Stumm: Rühmkorfs fröhliche Wissenschaft
Nürnberger Nachrichten, 21./22.2.1976

Gert Ueding: Rühmkorfs Überlebenskunst
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24.1.1976

Jürgen P. Wallmann: Schandschnauze Walther
Deutsche Zeitung, 2.1.1976

Jürgen P. Wallmann: Herr Walther zwischen allen Stühlen
Der Tagesspiegel, 1.2.1976

Jürgen P. Wallmann: Des Reichs genialste Schandschnauze
Schwäbische Zeitung, 23.4.1976

Peter Wapnewski: Zwischen Freund Hein und Freund Heine
Die Zeit, 5.3.1976

Wyss, Ulrich: Rühmkorf, Walther von der Vogelweide und ich
Euphorion, Heft 2/3, 1978

anonym: Klopstock aus dem Sperrmüll
Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt, 7.7.1974

anonym: Rühmkorf nimmt Klopstock zur Brust
Münchner Merkur, 4.12.1975

anonym: Pangraz und Rühmkorfs Zauberbrille
Die Welt, 8.1.1976

 

Eine Podiumsveranstaltung mit Peter Rühmkorf

… „Finismus“ heisst die Richtung, die der heute siebenundvierzigjährige Peter Rühmkorf unter dem Pseudonym Leslie Meier zusammen mit Werner Riegel bis 1956 in der Zeitschrift Zwischen den Kriegen verfochten hat. Das Wort, das wohl kaum in einem Fremdwörterlexikon zu finden sein dürfte, wurde dem lateinischen „finis“ (Ende) nachgebildet und meint für den Bereich der Lyrik – denn damit befasst sich Peter Rühmkorf hauptamtlich –, dass es mit dem Dichten ein für allemal aus und vorüber sei, dass die ganze Gattung Gedicht ausgedient habe. Wer nun aber meint, Rühmkorf hätte aus dieser etwas voreiligen, aber immerhin bemerkenswerten Erkenntnis die Konsequenzen gezogen und eine Stelle als Tankwart oder Fremdenführer gesucht, der verkennt sein paradoxes Genie. Obschon für ihn die Lyrik tot und längst beerdigt ist, kann er von sich nämlich behaupten:

An Einfällen ist kein Mangel, und das Wort versagt sich mir nicht.

Mit einem kleinen Geniestreich macht Rühmkorf, da er nun mal nicht ohne Gedichte leben kann, das Unmögliche möglich: Die Zeit der Gedichte ist vorüber, Rühmkorf schreibt dennoch welche; was läge näher, als die so entstehenden Produkte „Vorüber- und Dennochlieder“ zu nennen?
Dass es ihm nie an Einfällen mangelt, dafür sorgen übrigens alle jene Gedichte und sonstiges Literarisches, das entstanden ist, bevor die Zeit für Lyrik vorüber war. Rühmkorf kennt sich da gut aus und weiss virtuos und ohne falsche Hemmungen mit Zitaten und Anspielungen zu spielen, er ist ein Meister der bitterbösen Parodie, ein Fachmann für die Verhunzung von einstmals literarisch Erhabenem. Allerdings rächen sich hier die Toten auch, denn gerade das parodistische Moment macht Rühmkorfs Schöpfungen elitär: Eine Breitenwirkung ist ihnen zum vornherein versagt, weil nur wenige sogenannte Intellektuelle von ganzem Herzen mitlachen können. Rühmkorf tut daher gut daran, sein politisches Engagement nicht an die grosse Glocke zu hängen und sich als unpolitischen Lyriker zu verstehen:

Gestern Kommunist, morgen Kommunist, aber doch nicht heute beim Dichten!

Unmittelbar sympathisch an seinen Arbeiten ist jedenfalls das einem direkten Engagement abholde, mit dem parodistischen Grundton eng verknüpfte spielerische Element, das den Leser mit einbeziehende Vergnügen des Autors, lustig draufloszuschnattern, ohne darauf zu achten, dass immer besonders Tiefsinniges dabei herauskommt.
Für einen derart schwierigen und nicht leicht in irgend eine literarische Gattung einzureihenden Poeten hatte das Stadtzürcher Präsidialamt sicher Mühe, einen Fachmann für die übliche einleitende Laudatio zu finden, als es für den 15. Januar im Rahmen des Literarischen Podiums einen Abend mit Peter Rühmkorf vorbereitete. Doch wozu hält sich die Eidgenossenschaft in Zürich einen gewissermassen staatlich approbierten Literaturprofessor, dem so etwas wie diplomatische Immunität im literarischen Leben Zürichs zusteht, und der daher immer frisch von der Leber weg formulieren darf ? Professor Dr. Adolf Muschg übernahm den Job. Er stellte dem nicht sehr zahlreichen, aber links von der Mitte recht prominenten Auditorium Peter Rühmkorf als einen „poeta doctus“ vor, der sowohl in Latein und Mittelhochdeutsch als auch auf soziologisch parlieren könne, sich aber bescheidenerweise gleichwohl mit Deutsch begnüge. Muschg lud – als ob das noch notwendig gewesen wäre – ausdrücklich „zum Genuss von Missverständnissen“ ein und sparte nicht mit den von einem feinsinnigen Lächeln begleiteten humorvollen Tiefschlägen gegen die (übrigens gar nicht anwesenden) „feinen Leute“. In Rühmkorf sah er denn auch vor allem den Repräsentanten der 67/68er Studentenkrawalle, einen allerdings, der resignieren musste und nun gewissermassen den Hofnarren der bürgerlichen Gesellschaft spielen muss. Ein Trost nur, dass „noch niemand freiwillig Hofnarr gewesen ist“ und im Grunde genommen immer „die Höfe die Narren waren“. So nebenbei erhielt Professor Muschg auch noch Gelegenheit, die ehemals modischen Warenhausbrände mit den Maschinenstürmereien des 19. Jahrhunderts gleichzusetzen:

Man zerschlägt die Produktionsmittel erst, wenn man keine Hoffnung mehr hat, sie sich anzueignen.

Peter Rühmkorf, der zuletzt mit an einem anderen grossen Revolutionär geschulten Worten – „Hier steht Rühmkorf, er kann nicht anders!“ – aufs Podium gebeten wurde, hatte es schwer, den in ihn gesetzten progressiven Hoffnungen gerecht zu werden. Zum Glück nahm er sich selbst weit weniger ernst, als man hatte befürchten müssen. Wenn aber trotz seiner Begabung als Kabarettist keine rechte Stimmung in dem barocken Musiksaal aufkommen wollte, so lag das wohl zur Hauptsache an der Virtuosität dieses Gedankenjongleurs, dessen Texte sich einem unmittelbaren Verständnis – was das in diesem Falle auch immer heissen möge – nur schwer erschliessen. Man hörte Gedichte und Prosatexte aus Rühmkorfs jüngsterschienenem Buch Walther von der Vogelweide, Klopstock und ich. Beim Ausschnitt aus dem Text über den mittelalterlichen Minnesänger interessierten mehr noch als die eigenwillig interpretierten biographischen Details Rühmkorfs Uebersetzungen der Gedichte, die von einem unbefangenen Verhältnis zur Literaturgeschichte und einem sicheren Einfühlungsvermögen zeugen. In einem Essay „Kein Apolloprogramm für Lyrik“ nahm Rühmkorf ausführlich Stellung zur Möglichkeit lyrischer Dichtung heute. Er scheint nun für das Gedicht doch auch theoretisch wieder eine Chance zu sehen, es wird für ihn zu einer „archaischen Mitteilungsform, mit der man noch aus dem Medienverband der Informationskonzerne heraustreten kann“. Aber auch darauf wird man Peter Rühmkorf wohl letztlich nicht festlegen können!
Man lernte am 15. Januar jedenfalls einen eigenwilligen literarischen Zeitgenossen kennen, ein „Original“ voller Ideen, einen Satiriker voll des schwärzesten Humors und einen Lyriker, der die Gabe hat, mitten in einem scheinbar in jeder Hinsicht respektlosen Pamphlet Sangbares, echt Poetische aufklingen zu lassen.

Die Tat, 22.1.1976

Peter Rühmkorf – ein bundesdeutscher Poet

Durch Adolf Muschgs geschickte Einführung des bundesdeutschen Poeten Peter Rühmkorf war man fast von so etwas wie Spannung angesteckt; denn er empfahl den Besuchern des Literarischen Podiums im Stadthaus, sich eine Stunde lang provozieren zu lassen von einem linken Satiriker, einem lyrisch vermittelten Rühmkorf, der aus seinem neuen Opus Walther von der Vogelweide, Klopstock und ich lesend „zum Genuss von Missverständnissen einlüde“. Muschgs launiges, von progressiver Diktion gespicktes Präludium war den Besuch des Abends schon wert – mit dem Dichter Rühmkorf dagegen hatten wir etwas mehr Mühe, was nichts über seine Qualität aussagt.
Qualitäten besitzt er nämlich vor allem im Ausbau eines versierten, aus Gegenwartssprache sich speisenden schein-lyrischen Jargons, dessen Abstand zur klassischen Idee des Lyrischen ihm einen Raum zur Gegen-Lyrik bietet, in dem er sich doch wieder kritisch beziehen kann auf die Modelle der Tradition. Es gibt bei Rühmkorf eben nur eine Sprache, keinerlei Schichtung: von der Fäkalie, die Zärtlichkeit sein kann, bis zum tagespolitischen Propaganda-Slogan ordnet sich alles zu einer Sprache, die aber eben nur noch in so etwas wie „Lyrik“ sich kritisch präsentieren lässt. Darin ist sozusagen ein gesellschaftsanalytischer Impetus, der mittels satirisch-lyrischer Analyse der bundesdeutschen Sprachmentalität den Spiegel ihrer Fatalität vorhalten will. Und dieser Impetus will mehr sein als „Wackeln mit dem Ueberbau“. So Rühmkorf. Ist er mehr? Der Lyriker – nach Rühmkorf ein „anthropologisches Monstrum“ – bleibt als Monstrum wenigstens ein Individuum mit persönlicher Kraft. Von einer solchen konnte Rühmkorf nicht Zeugnis ablegen an diesem Abend, jedenfalls eben nicht mit diesem Programm, mit dem er sich eher einen Bärendienst leistet; denn er liest und liest und liest lustig Lustiges und immer und immer Satirisches aus derselben Küche und nach selbem Rezept. Für Hörer wenigstens sollte er sich vielseitiger zeigen. So verharrt man eher vor ihm in der Frage, die er poetisch so inkarnierte:

Rede ich Blödsinn oder dichte ich schon, oder lieg ich, unhaltbar, dazwischen.

gae, Neue Zürcher Nachrichten, 21.1.1976

 

LUFTPOST
Für Peter Rühmkorf

Luftikus, lau ist die Luft
in der du auf hanfenem Seil
überm Abgrund der Gruft
kobolzt um dein Seelenheil.

Pfiffikus, dünn ist der Pfiff
fahrend durch Mark und Bein.
Riffikus, steifer das Riff;
Drumrum oder mittendrin?

Glückhans, ganz ist das Glück
erst bekleistert von Pech.
Meistere noch ein Stück
heiterhin, motzfrech.

Peterchen, werd mir nicht leise
der Mond beschweigt seinen Ring.
Puterchen, werde nicht weise
dreh noch ein linkes Ding.

Turmulus in deiner Mansarde
paffe den Schiffen den Weg.
Schick sie, övelrasierter Barde
hinaus ins Logbuch der See.

Richard Pietraß

 

Peter Rühmkorf-Tagung vom 23. bis zum 26.10.2009: Im Vollbesitz meiner Zweifel – Peter Rühmkorf

 

 

Gespräch I – Walter Höllerer spricht mit Peter Rühmkorf über seine Schulzeit

 

Gespräch II – Das Gespräch dreht sich um Rühmkorfs Studienzeit

 

Gespräch III und Lesung I – Peter Rühmkorf spricht über seine Zeit bei der Zeitschrift Konkret und liest Lyrik

 

Gespräch IV und Lesung II – Walter Höllerer spricht mit Rühmkorf über Politik und Rühmkorf liest Lyrik

 

Gespräch V und Lesung III – Ein Gespräch über Peter Rühmkorf als Poet und Poetologe. Noch einmal liest Rühmkorf Lyrik

 

Lesung und Gespräch VI – Peter Rühmkorf liest Gedichte aus dem Band Kleine Fleckenkunde, dann beantwortet er Fragen aus dem Publikum

 

Heinz Ludwig Arnold: Meine Gespräche mit Schriftstellern 

 

Zum 70. Geburtstag des Autors:

Hajo Steinert: Ein Leben in doll
Deutschlandfunk, 24.10.1999

Zum 75. Geburtstag des Autors:

Hanjo Kesting: In meinen Kopf passen viele Widersprüche
Sinn und Form, Heft 1, Januar/Februar 2005

Zum 10. Todestag des Autors:

Ulrike Sárkány: Zum zehnten Todestag des Poeten Peter Rühmkorf
ndr.de, 7.6.2018

Zum 90. Geburtstag des Autors:

Stiftung Historische Museen Hamburg: Laß leuchten!
shmh.de, 20.7.2019

Julika Pohle: „Wer Lyriks schreibt, ist verrückt“
Die Welt, 21.8.2019

Vera Fengler: Peter Rühmkorf: Der Dichter, die die Welt verändern wollte
Hamburger Abendblatt, 21.8.2019

Volker Stahl: Lästerlustiger Wortakrobat
neues deutschland, 22.8.2019
Elbe Wochenblatt, 27.8.2019

Hubert Spiegel: Der Wortschnuppenfänger
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24.8.2019

Anina Pommerenke: „Laß leuchten!“: Rühmkorf Ausstellung in Altona
NDR, 20.8.2019

Maren Schönfeld: Herausragende Ausstellung über den Lyriker Peter Rühmkorf
Die Auswärtige Presse e.V., 21.8.2019

Thomas Schaefer: Nicht bloß im seligen Erinnern
Badische Zeitung, 26.8.2019

Willi Winkler: Der Dichter als Messie
Süddeutsche Zeitung, 28.8.2019

Paul Jandl: Hanf ist dem Dichter ein nützliches Utensil. Peter Rühmkorf rauchte seine Muse herbei
Neue Zürcher Zeitung, 11.9.2019

 

„Laß leuchten!“ Susanne Fischer über die Rühmkorf-Ausstellung im Schiller-Nationalmuseum.

 

„Laß leuchten!“ Friedrich Forssman über die Rühmkorf-Ausstellung im Schiller-Nationalmuseum.

 

„Laß leuchten!“ Jan Philipp Reemtsma über die Rühmkorf-Ausstellung im Schiller-Nationalmuseum.

 

Fakten und Vermutungen zum Autor + Archiv + KLGIMDb
Georg-Büchner-Preis + Johann-Heinrich-Merck-Preis
Interview 1 + 2 + 3
Porträtgalerie: Autorenarchiv Isolde Ohlbaum +
Autorenarchiv Susanne Schleyer + Galerie Foto Gezett
shi 詩 yan 言 kou 口
Nachrufe auf Peter Rühmkorf: Spiegel ✝ Die Welt ✝ FAZ 1 + 2 ✝
literaturkritik.de 1 + 2 ✝ Die tageszeitung ✝ Die Zeit ✝
Badische Zeitung ✝ Haus der Literatur  Tagung ✝ Stufe ✝

 

Bild von Juliane Duda mit den Texten von Fritz Schönborn aus seiner Deutschen Dichterflora. Hier „Rühmkorfzahn“.

 

Bild von Juliane Duda mit den Zeichnungen von Klaus Ensikat und den Texten von Fritz J. Raddatz aus seinem Bestiarium der deutschen Literatur. Hier „Rühmkorf, der“.

 

Beitragsbild von Juliane Duda zu Richard Pietraß: Dichterleben – Peter Rühmkorf

 

Film über Peter RühmkorfBleib erschütterbar und widersteh. 1/2

 

Film über Peter RühmkorfBleib erschütterbar und widersteh. 2/2

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.

0:00
0:00