Rolf Dieter Brinkmann: Standphotos

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Rolf Dieter Brinkmann: Standphotos

Brinkmann/New Yorker Comicszene-Standphotos

EINFACHE GEDANKEN ÜBER MEINEN TOD

Er
wird kommen, weder
mit einem Messer
in der Hand
noch mit
Gebrüll

er wird kommen
wie einer, der zufällig
vorübergeht und nach der Uhrzeit fragt
er wird kommen und seinen Hut lüften

elfter Februar
Neunzehnhundertdreiundsechzig, kurz
nach elf Uhr, der Morgen
ohne besondere
Aussicht, wenig
Licht, das
hereinfällt
in mein Zimmer, Engelbertstraße
vierter Stock

Und er wird kommen
er wird den Strom ablesen
und das Gas

er wird
die Tür schließen, höflich
wie jemand, der sich
nicht auskennt
im Leben.

 

 

Notiz

Ich habe immer gern Gedichte geschrieben, wenn es auch lange gedauert hat, alle Vorurteile, was ein Gedicht darzustellen habe und wie es aussehen müsse, so ziemlich aus mir herauszuschreiben. Eine Menge Fehlversuche sind vorausgegangen, die so überflüssig waren, wenn ich heute an die Produkte der ausgebufften Kerle denke, die sich Lyriker nennen lassen. Da sitzen sie, irgendwo unsichtbar, und haben mal irgendwas von sich gegeben, jetzt halten sie die Kulturellen Wörter besetzt, anstatt herumzugehen und sich vieles einmal anzusehen, lebende Tote, die natürlich schwerer zu beseitigen sind als die sogenannten großen, alten Vorbilder in den Regalen moderner Antiquariate. Welcome to the Rolling Stones! Die Texte der Fugs sind besser. Woran liegt das?
Ich bin keineswegs der gängigen Ansicht, daß das Gedicht heute nur noch ein Abfallprodukt sein kann, wenn es auch meiner Ansicht nach nur das an Material aufnehmen kann, was wirklich alltäglich abfällt. Ich danke, daß das Gedicht die geeignetste Form ist, spontan erfaßte Vorgänge und Bewegungen, eine nur in einem Augenblick sich deutlich zeigende Empfindlichkeit konkret als snap-shot festzuhalten. Jeder kennt das, wen zwischen tür und Angel, wie man so sagt, das, was man in dem Augenblick zufällig vor sich hat, zu einem sehr präzisen, festen, zugleich aber auch sehr durchsichtigen bild wird, hinter dem nichts steht scheinbar isolierte Schnittpunkte. Da geht es nicht mehr um die Quadratur des Kreises, da geht es um das genaue Hinsehen, die richtige Einstellung zum Kaffeerest in der Tasse, während jemand reinkommt ins Zimmer und fragt, gehen wir heute abend in die Spätvorstellung? Mir ist das Kaugummi ausgegangen1 Eine Zeitung ist aufgeschlagen und man liest zufällig einen Satz, sieht dazu ein Bild und denkt, daß der Weltraum sich auch jetzt gerade wieder ausdehnt. Die milde Witterung lockt Go-go-Girls in den Kölner Rheinpark. Das alte Rückpro-Verfahren. Die Unterhaltung geht weiter. Ein Bild entsteht oder ein Vorgang, den es so nie gegeben hat, Stimmen, sehr direkt.
Man braucht nur skrupellos zu sein, das als Gedicht aufzuschreiben. Wenn es dieses Mal nicht klappt, wirft man den Zettel weg, beim nächsten mal packt man es dann eben, etwas anderes. Sehen Sie hin, packen Sie das mal an, was fühlen Sie? Metall? Porzellan? Ein alte Kippe zwischen Zeigefinder und Mittelfinger! Und sonst geht es Ihnen gut? Man muß vergessen, daß es so etwas wie Kunst gibt! Und einfach anfangen.
Formale Probleme haben mich bisher nie so stark interessiert, wie das noch immer die Konvention ist. Sie können von mir aus auch ruhig weiterhin den berufsmäßigen Ästheten und Dichterprofis, die ruhig ihre persönlichen Skrupel angesichts der Materialfülle in feinziseliertem Hokuspokus sublimieren, als Beschäftigungsgegenstand bleiben. Die Toten bewundern die Toten! Gibt es etwas, das gespenstischer wäre als dieser deutsche Kulturbetrieb mit dem fortwährenden Ruf nach Stil etc.? Wo bleibt Ihr Stil, wo bleibt Ihr Stil? Haben Sie denn keine guten Manieren? Haben sie nicht gelernt, mit Messer und Gabel zu essen, und falten Sie nie die Serviette auseinander? Warum sollt ich mich ausdrücklich um Stil kümmern, wenn sowieso alles um mich herum schon so stilvoll ist! Das wäre mir einfach zu langweilig. Wie sagte Warren Beatty zu den deutschen Kinobesitzern beim Start von Bonny und Clyde: „Bei der Schlußszene mit dem Maschinengewehr müßt ihr den Ton ganz aufdrehen!“
Häufig höre ich von Leuten, denen ich meine Sache zeige, daß dies nun eigentlich keine Gedichte mehr seien, und sie glauben, damit das entscheidende urteil ausgesprochen zu haben. Sie sagen, das hier sie ja alles einfach, man könne es ja verstehen, und das wiederum macht ihnen meine Gedichte unverständlich. Diesen Vorgang finde ich witzig. Was soll man da machen? Das Klischee, die ganze abstrakte Vorstellung vom „eigentlichen“ Gedicht noch einmal aufdecken? Es gibt kein anderes material als das, was allen zugänglich ist und womit jeder alltäglich umgeht, was man aufnimmt, wenn man aus dem Fenster guckt, auf der Straße steht, an einem Schaufenster vorbeigeht, Knöpfe, Knöpfe, was man gebraucht, woran man denkt und sich erinnert, alles ganz gewöhnlich, Filmbilder, Reklamebilder, Sätze aus irgendeiner Lektüre oder aus zurückliegenden Gesprächen, Meinungen, Gefasel, Gefasel, Ketchup, eine Schlagermelodie, die bestimmte eindrücke neu in einem entstehen läßt, z.B. wie jemand seinen Stock schwingt und dann zuschlägt, Zeilen, Bilder, Vorgänge, die dicke Suppe, die wem auf das Hemd tropft. Man schnieft sie durch die Nase hoch und spuckt sie dann wieder aus. Das alte Rezept und die neue Konzeption, bevor das Licht ausgeht, der Vorspann im Kino, hier bin ich.
Ich gebe gerne zu, daß ich mich von der deutschsprachigen Lyrik nicht habe anregen lassen. Sie hat meinen blick nur getrübt. Dankbar bin ich dagegen den Gedichten Frank O’Haras, die mir gezeigt haben, daß schlechthin alles, was man sieht und womit man sich beschäftigt, wenn man es nur genau genug sieht und direkt genug wiedergibt, ein Gedicht werden kann, auch wenn es um ein Mittagessen handelt. Zudem war O’Hara ein leidenschaftlicher Kinogänger, was mir in jedem Fall sympathisch ist. Ich widme deshalb den vorliegenden Gedichtband dem Andenken Frank O’Haras und dann all denen, die sich immer wieder von neuem gern auf den billigen Plätzen vor einer Leinwand zurücksinken lassen. Sie alle sind die Piloten, die der Titel meint.

R.D.B. Vorwort zu dem Band Piloten, Frühjahr 1968

Editorische Notiz

Der Titel für diese Zusammenstellung aller von Rolf Dieter Brinkmann in den Jahren 1962 bis 1970 veröffentlichten Gedichtbände wurde von dem 1969 mit elf Gedichten erschienenen Gedichtband Standphotos übernommen. Die Einzelausgaben sind vollständig, in chronologischer Reihenfolge, enthalten. Titel und Gedichtfolge entsprechen den Erstausgaben.
Standphotos ist der erste einer auf drei Bände angelegten Ausgabe sämtlicher Gedichte Rolf Dieter Brinkmanns…

Maleen Brinkmann

 

Dieser erste Band einer Gesamtausgabe

von Brinkmanns Lyrik vereint alle Gedichtbände (bis auf den kurz nach seinem Tod erschienen Band Westwärts 1 & 2), die Brinkmann selbst seit 1962 zur Publikation brachte, zumeist in Kleinverlagen oder auf Handpressen in kleiner Auflage veröffentlicht.

Rowohlt Verlag, Begleitzettel, 1980

 

Als finge er immer von neuem an

− Standphotos – Rolf Dieter Brinkmanns Gedichte 1962 bis 1970. −

Literatur gefällt mir am besten, wenn sie nicht nur Literatur ist. Aus den unreinen Formen, aus den regelwidrigen Vermischungen erst leuchtet das irisierende und fahle Licht neuer Erfahrung. Urs Jaeggi hat auf dem letzten Schriftstellerkongreß in München die Vermutung geäußert, wir begingen einen schweren Fehler, wenn wir nur auf das ästhetisch Geglückte setzten. Was den Normen genügt, ist meist schon normiert. Das sogenannte „Schlechtgeschriebene“ ist oft aufregender als das Gutgeschriebene. Uns interessiert ja nicht das „gute Buch“, sondern das, was drinsteht, ob es sich „Literatur“ nennen darf oder nicht.

Rolf Dieter Brinkmann, der 1975 in London von einem Auto überfahren wurde, gehörte zu jenen Autoren, die ein tiefes Mißtrauen gegen „Literatur“ hegen. Die nach seinem Tod publizierten Bücher, der Tagebuchroman Rom, Blicke (1979) und die 1980 erschienene Gesamtausgabe der Gedichte 1962 bis 1970, riefen denn auch verschiedentlich die Reinlichkeitsapostel auf den Plan. Den Tagebüchern warf man ideologisches Abweichlertum vor, den Gedichten, sie seien ein verstaubtes Relikt der Pop-Kultur, sprachlose Zeugnisse einer Selbstzerstörüng. Manche Rezensenten, scheint mir, übten späte Rache an einem, der sich sowohl dem Literaturbetrieb als auch ästhetischen Parolen immer verweigerte.
Im Vorwort zu seinem Gedichtband Die Piloten (1968) spottete Brinkmann über die „berufsmäßigen Ästheten und Dichterprofis“ und schrieb: „Gibt es etwas, was gespenstischer wäre als dieser deutsche Kulturbetrieb mit dem fortwährenden Ruf nach Stil etc. … Man muß vergessen, daß es so etwas wie Kunst gibt!“ Man kann es beim Lesen dieser Gedichte tatsächlich vergessen. Sie haben keinen Kunstanspruch, sie schielen nicht nach höheren Weihen, sie pochen nicht auf Bedeutung. Eines seiner frühesten Gedichte lautet:

Zwischen
den Zeilen
steht nichts
geschrieben.
Jedes Wort
st schwarz
auf weiß
nachprüfbar.

Was in den Zeilen steht, ist oft von provozierender Banalität, wie etwa das Gedicht „Photographie“:

Mitten
auf der Straße
die Frau
in dem
blauen
Mantel.

Weiter läßt sich der Vorgang des Schreibens kaum reduzieren. Was bleibt, ist weniger als die pure Wahrnehmung, die ja immer Zusammenhänge herstellt und das zugleich Wahrgenommene zu einem Bild ordnet. In der Sekundenschnelle des Augenblicks erschlägt das Blau des Mantels alles andere. Der Schnappschuß stoppt den Wahrnehmungsvorgang ruckartig, die Zeit bleibt stehen: ein monochromes Bild. Es ist, als hielte man einen Videorecorder an: aus dem Zusammenhang des Films gerissen werden die Gegenstände und Figuren plötzlich fremd. Brinkmanns Standphotos allerdings sind heller, unbarmherziger ausgeleuchtet. Alltägliche Situationen erstarren zu rätselhaften und zugleich bedeutungslosen Bildern. Brinkmanns Gedichte sind Zeitzerhacker.
Natürlich läßt sich einwenden: Das kann ich auch, das ist keine Kunst. Kunst ist es nicht, aber Training, eine sprachliche Verlangsamungsübung (die uns allen guttäte). Nun ist es einleuchtend, daß man mit dem Vorsatz, keine Gedichte zu schreiben, nicht lange Gedichte schreiben kann. Die Erfahrung, die er lakonisch aufschreibt, entspricht unserer Alltagserfahrung, wo uns plötzlich Melancholie anfällt, und draußen regnet es, und das eine bedeutet nichts für das andere, ist aber beides da, ungefragt. Das unverbundene Nebeneinander des Gleichzeitigen ist Brinkmanns Thema. Poesie bemüht sich oft, Zusammenhänge zu stiften, wo keine sind. Brinkmann widersteht dem Poetisierungszwang. Die Vielfalt des Verschiedenen ist da, und die Anstrengung des Autors gilt dem Versuch, das unruhige, nervös-empfindliche Ich in dieser Vielfalt zu behaupten.

Die Forderungen hören nicht auf
innere Verletzungen sind da
Zustande, die unübersehbar geworden sind
im Lauf der Zeit
offen nach allen Seiten
und schutzlos preisgegeben
doch jetzt will Schnee fallen
weiß, und ohnegleichen weiß …

Warum rührt mich das so an? Vielleicht, weil Brinkmann nichts vormacht. Literatur liefert Sinn, selbst da noch, wo sie die Sinnlosigkeit ausmalt. Diese Gedichte jedoch sind weder sinnhaft noch sinnlos. Man muß sie nicht lesen, sie wollen nichts von ihrem Leser. Sie sind klar und einfach, es gibt keine glanzvollen Formulierungen. Sie sind ratlos wie ihr Autor, ohne aus der Ratlosigkeit poetischen Gewinn zu schöpfen; metaphernlose Einsamkeit beherrscht sie. Und der Kampf gegen die Leitbilder, die Filmfetzen, die Medienkulissen, die in unseren Köpfen sind.
Das Gedicht „Cinemascope“ beginnt so:

Der Himmel
heute
klarer als sonst
ein Himmel

ganz blau: wir verschwinden
beinahe darin (aber das
ist zu schön ausgedrückt!)

− es sind Bilder, die
wir sehen, nicht das, was
es wirklich ist…

Der blaue Himmel, das ist die Reklame für Lord Extra, der grüne Wald wirbt für BASF, rot ist die Farbe von Ketchup, und die schönen Frauen aus Hollywood, Marylin Monroe, Mae West, Liz Taylor, bevölkern die Leinwand und unsere Phantasien.
In Rom, Blicke schrieb Brinkmann von der „angloamerikanischen psychischen Versteppung“ und von der „Schematisierung der Instinkte durch Bilder und Musik“. Das war viele Jahre später, als er sich von den Mythen seiner Generation, von Hollywood, Coca-Cola und den Rolling Stones verabschiedet hatte. In diesen Gedichten sind die Mythen noch präsent, Amerika ist noch das Land der Verheißung, einer gebrochenen, bezweifelten allerdings. Lyriker wie Frank O’Hara und William Carlos Williams sind das Vorbild. Der Vorwurf jedoch, Brinkmann habe sie bloß imitiert, geht fehl. Er betreibt wie sie eine gezielte Trivialisierung von Literatur, keineswegs jedoch idolisiert er die Pop- und Subkultur. Er unterläuft sie mit mißtrauischem Blick. Tarzan ist tot, und Superman bezieht Rente. Die alten Filme sind gerissen.
„An ein Weiterkommen / ist aber mit Poesie nicht zu denken.“ Es bleibt nur eins: das Aufschreiben des Augenblicks, der kurzen Erinnerung, des vorbeischwebenden Gefühls. Brinkmann tut dies mit der allergrößten Empfindlichkeit. Er registriert das Widerwärtige, den Schmutz, das Banale: die Kippen im Aschenbecher, die Niveadose im Bad, das Tempotaschentuch auf dem Boden, und er hofft auf eine neue Klarheit der Gefühle. Das Wort „einfach“ kommt oft bei ihm vor; Türen, die sich öffnen lassen, Fenster, durch die man hinaussehen kann, und oben der Himmel — das sind wiederkehrende Bilder. In ihnen drückt sich, ganz zurückgenommen und vorsichtig, ein großes Pathos aus. Denn Brinkmann war ja im Grunde ein Pathetiker, ein sentimentalischer Autor, zugleich aber ein Mann des Mißtrauens gegen Verbrüderungsangebote. So blieb er allein mit sich. In dem Gedicht „Wolken“ heißt es:

Du siehst hoch; du siehst „Wolken“.
Es sind dieselben, die in dem Wort Wolken sind,

auf diesem Blatt Papier, in meinem Zimmer,
in mir drin,
blau.

Ulrich Greiner, Die Zeit, 30.1.9181

Abziehbilder aus der Vorstadt

− Rolf Dieter Brinkmanns Gedichte aus den Jahren 1962 bis 1970. −

Nun soll er also, posthum, wie meist in diesen Fällen, zum Klassiker ausgerufen werden. Standphotos, so eine editorische Notiz, ist der erste einer auf drei Bände angelegten Ausgabe sämtlicher Gedichte Rolf Dieter Brinkmanns. „Die Toten bewundern die Toten“, lautete einst Brinkmanns böser Kommentar über den deutschen Kulturbetrieb. Er ist ihm dadurch nicht entgangen – zu seinem Schaden, seinem Glück?
Wir haben es hier nur mit den Gedichten zu tun, die zwischen 1962 und 1970 in neun Einzelbänden erschienen sind, ein gutes Dutzend von ihnen begegnet mehrfach, manchmal mit leichten Veränderungen, weil der Kontext der Einzelausgaben erhalten bleiben sollte: in den meisten Fällen wohl eine übertriebene Sorgfalt. „Formale Probleme haben mich bisher nie so stark interessiert, wie das noch immer die Konvention ist.“ Das sollte man nicht als Koketterie auffassen, sondern als genaue Selbstaussage, die ernst genommen werden will und außerdem nicht folgenlos war, man denke an junge Lyriker wie Ralf Thenior oder Jürgen Theobaldy.
Aber der alte gattungspoetologische Streit – ob solche Texte noch Gedichte sind oder nicht – mag ruhen, er ist nur von zweitrangiger Bedeutung. Es sind kleine literarische Kunststücke (für die meisten paßt am ehesten die Bezeichnung Fragmente), die unabhängig von ihrer Präsentation in Kurzzeilen oder Versform, mit Anklängen an Reim und Metrum, einen eigenen Anspruch formulieren, ihren Wirkungszweck, eine besondere Konventionalität und Poetik enthalten.
„Ich denke, daß das Gedicht die geeignetste Form ist, spontan erfaßte Vorgänge und Bewegungen, eine nur in einem Augenblick sich deutlich zeigende Empfindlichkeit konkret als snap-shot festzuhalten … Man braucht nur skrupellos sein, das als Gedicht aufzuschreiben.“ Eine Bemerkung, wie auch die eingangs zitierte, aus dem Jahre 1967, aber es kann kein Zweifel bestehen, daß beide auch für Brinkmanns literarische Produktion vorher und bis zu seinem Tode 1975 gelten. So provozierend sich das alles anhört, so zornig es auch gemeint war (eine Art bundesdeutscher Sturm und Drang), so wenig originell war es schon seinerzeit. Brinkmann hat eine ganze Tradition amerikanischer Lyrik in unsere Literatur importiert und das auch nie verhehlt, wie seine Huldigungen an Frank O’Hara zeigen. Das Ergebnis der ersten Phase, sehr unterschiedlich in Perspektive und Qualität, ist gleichwohl fast nur noch von historischem Interesse.
„Ihr nennt es Sprache“ hieß 1962 der erste Gedichtband, Brinkmann war gerade 22 Jahre alt. Pubertäre Kraftmeiereien („am Euter gesogen / den Samen verspritzt“) kombiniert mit expressionistischen Reminiszenzen („Aufgestiegen / aus kaltem Hundsgedärm versteinerte / Lungen…“): diese Gedichte verraten insgesamt nur eine gesteigerte Empfindlichkeit, Gefühlswirrwarr und den Willen, sich rücksichtslos auszusprechen.
Allein Titel und Hauptthema sind für Brinkmanns Selbstverständnis signifikant geblieben: von den 18 Gedichten müssen mehr als ein Drittel poetologische Texte genannt werden, Selbstreflexionen des Schriftstellers, Notizen über seine Tätigkeit, seine Ziele, sein Genre. Eine Fixierung, die sich auch später nicht löst, zwischen Faszination und Verzweiflung wechselnd. Sie ist gewiß ein Kennzeichen moderner Literatur überhaupt, auch moderner Lyrik. Die Frage „Wie macht man Verse?“ (Majakowski), die Entstehung eines Gedichts (Enzensberger, Höllerer), die Beobachtung des Schreibvorgangs findet nicht außerhalb, sondern im Gedicht selber statt.
Im Werk Brinkmanns nehmen diese Themen nun allerdings einen ungewöhnlich großen Raum ein, ihre Wiederholung und die Konzentration auf wenige Motive wirken fast schon manisch. Da ist das Problem der Sprache als öffentliches Medium: verbrauchte Wörter, Lügen, Klischees, Sprache nicht als Form der Mitteilung, sondern als Möglichkeit, sie zu verhindern, nicht als Medium des Verstehens, sondern des Mißverständnisses und der Sinnlosigkeit („die angewandte Grammatik enthält / nichts über Wetteraussichten / und sie mißt dem / Vogelflug nicht die geheime Formel bei“). Demgegenüber die Literatur- und Dichtersprache, die formvollendete Rede, in künstliche Figuren und Rhythmen gefaßt („der Mond / den Eichendorff besang / ging längst hinüber ins Unbekannt“), aber keine Erfahrung entspricht ihr mehr, keine Gesprächsform, kein Leben.
Und jenseits der Sprache: das Bild, Brinkmanns Leidenschaft und Hoffnung, sein Fluchtpunkt, ohne den er nicht zu existieren, nicht zu schreiben vermochte. Seit dem Aufkommen der neuen Medien, der Emanzipation des Bildes im neunzehnten Jahrhundert, wiegen sich Schriftsteller in dem Glauben, Sprache ließe sich in ihrer Aussagekraft derart bildlich gestalten, daß sie dann auch bildliche Erfahrungen wiedergibt, unverstellt, umweglos, so wie wir sehen, wie Phantasie und Einbildungskraft uns bedienen.
Das Vertrauen freilich auf die größere Authentizität des Bildes ist längst dahin, und auch Brinkmann teilt es nicht naiv und ungebrochen: „− es sind Bilder, die / wir sehen, nicht das, was / es wirklich ist –“; oder: „Heute sind Maleen und Ralph-Rainer mir zusammen durch den Kopf gegangen.“ Solche Gedanken und Empfindungen haben aber schon Patina angesetzt, die Verzückung ihres Autors angesichts der künstlichen Bilderwelt von Film, Fernsehen, Illustrierten, seine Experimente mit Collagen aus Comics, Werbefotos, typographischen Figuren und Gedichten sind so popartistisch verstaubt wie die Objekte von Andy Warhol und anderen.
Entdeckung der Alltagswelt, daraus ist meist nur deren Wiederholung, die Bestätigung ihrer Trostlosigkeit, ihrer Verheerungen geworden. Noch der schnoddrige Ton, die brutale Sprachgebärde imitieren nur die Sprache aller dieser Dinge: der Coca-Cola-Flaschen, der Kinoreklame, der Büstenhalter und Zigarettenkippen. Abziehbilder aus Vorstadt und Pinte – aber gar nicht ungemütlich.
Das ist vielleicht die merkwürdigste Erfahrung (sie belustigt auch häufig), daß dieses ganze Protestgebaren, dieser Aufwand an Gewöhnlichkeit, das forcierte épatez le bourgeois aus dem Abstand der Jahre jegliche Schärfe verloren hat und unfreiwillig komisch wirkt, daß dieses Lob der Pop- und Zelluloidkultur, die komödiantische Maske, die Bedeutsamkeit bei der Behandlung von Alltagskram und Kulturabfall (der Kaffeerest, die Zeitung auf dem Fußboden, die Frau im Unterrock, Limonade im Grünen), daß dies alles den Bildern aus einem alten Fotoalbum gleicht, und man versteht eigentlich nicht mehr, warum der Knipser diesen Moment und jenen Ausschnitt, aber nicht irgendwas anderes gewählt hat. Nur hier und da öffnet sich einmal eine überraschende Aussicht, eine neue Perspektive auf die Welt, und sei es eben die zweite, die künstliche Welt unserer Kulturindustrie wie in dem „Cinemascope“ überschriebenen Text von 1969.
Die Ursache dafür darf man natürlich nicht in den Inhalten dieser Texte und Fragmente suchen. Seit die Gegenstände die Verbindlichkeit der ästhetischen Form verloren haben, sind heilige und profane, hohe und niedere Sujets in gleicher Weise kunstwürdig, kunstgemäß. Unser Interesse und ihre möglicherweise lebensentscheidende, verändernde Bedeutung verdanken sie ihrer Behandlungsart, also nicht allein der Form, aber der durch sie vermittelten, in ihr gesteigerten Perspektive, Brinkmanns Gedichte (und das trifft nicht allein für die hier gesammelten zu) demonstrieren die Aporie einer Poetik der Formlosigkeit; nicht das Versagen eines Schriftstellers, sondern dessen Fixierung in eine Sackgasse, nicht die Überholtheit einer Gattung, sondern deren ausweglose Destruktion.
Die Kopie des banalen Worts, die Wiederholung des Klischees, die Feier des Jargons verdoppeln nur die beschädigte Sprache, mobilisieren die Ödnis, bringen sie nicht zum Blühen. Brinkmann hat das gewußt, es gibt eine Motivkette, die sich durch seine Gedichtbände zieht und sie nun wider die eigene verzweifelte Absicht mit der Tradition verknüpft, die er vehement ablehnt und die darum um so mächtiger wiederkehrt: als das schlechte Gewissen der eigenen Produkte. Schnee, Mond, das grüne Feld, das schwarze Kleid. Es sind nur noch Zitate, aber sie drücken dieselbe Sehnsucht aus wie der ekstatische Ton, mit dem sich Rolf Dieter Brinkmann in das künstliche Bilderlabyrinth verrannt hat: die Sehnsucht, auszubrechen, durchzubrechen durch Persil- und Kinowände – und die schon fast märchenhafte Überzeugung, durch die vollkommene Identifikation mit der Gegenwelt zuletzt doch noch die volle Wirklichkeit und das frische Leben zu gewinnen.

Gert Ueding, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 8.11.1980

Weitere Beiträge zum Buch:

Peter Laemmle: Hass als polemischer Schmerz
Die Weltwoche, 12.11.1980

Michael Zeller: Kleider der Geliebten
Kölner Stadt-Anzeiger, 2.12.1980

Karl Krolow: Rolf Dieter Brinkmanns erstes lyrisches Jahrzehnt
General-Anzeiger, 5.12.1980

Hans-Jürgen Heise: Einer nennt es Sprache
Rheinischer Merkur, 5.12.1980

Jürgen P. Wallmann: Kunststoff-Mythen
Rheinische Post, 14 1.1981

Ulrich Greiner: Als finge er immer von neuem an
Die Zeit, 30.1.1981

Anton Krättli: Ganz leer, um zu begreifen
Neue Zürcher Zeitung, 11./12.4.1981

 

Poesie ohne Wörter

− Die Sprachkrise des Rolf Dieter Brinkmann. −

Nichts
„Man hörte nichts mehr. Sämtliche Geräusche waren verstummt.“ Stille – so fängt er an, so beginnt der einzige Roman des Lyrikers Rolf Dieter Brinkmannn: mit einer Atempause im Lärm des „alltäglichen Angst- und Todesterritoriums“ Westdeutschland. Eine Ruhe, in der auch die nicht näher bezeichnete Materie zum Stillstand kommt und schließlich in sich selbst verschwindet; selbst die Leere löst sich in Nichts auf. Die Beschreibung dieses Vorgangs entzieht dem Leser die raumzeitlichen Orientierungspunkte und läßt ihn auf der Oberfläche der Wahrnehmungen dahintreiben:

Selbst die ganz kleinen unscheinbaren Bewegungen am Rand waren zur Ruhe gekommen, dieses Flimmern, ein dünnes Zittern, nichts, das Bild stand fest, zur Ruhe gekommen. Die feinen weißen Partikelchen, die eine Zeitlang noch gleichmäßig langsam niedergefallen waren, deckten alles zu, und da gab es jetzt nur noch diese helle, körperlose Leere, gleichmäßig glatt, eben, als habe man die Augen geschlossen. Die Leere nahm zu, der Raum ein Loch, das so in sich selbst zurückging, bis nichts mehr übrigblieb.

„Achtung, Aufnahme, Foto innen!“: Nur selten entfalten sich in den komplexen Bildzusammenhängen, die Brinkmann in seinen Texten ausbreitet, solche Darstellungen völliger Ruhe. Denn die Besessenheit und Akribie, mit der Brinkmann seine Wahrnehmungen und Bewußtseins-Erlebnisse in europäischen und amerikanischen Städten niederschrieb und zu gattungsübergreifenden Texten collagierte, trieb fast ausschließlich Bilder der physischen und psychischen Verwüstung hervor. Die Wahrnehmungsnotate, Erinnerungen, fragmentarischen Reflexionen und Zitate, die dieser Autor zunächst unter dem Einfluß des „nouveau roman“ und später der rauschhaften Prosa W.S. Burroughs’ zu gigantischen Textfragmenten organisierte, präsentieren ein gespenstisches Szenario der Zerstörung, in dem jedes zufällige Fundstück, jedes wahrgenommene Detail mit Bedeutung aufgeladen wird. Aus der simultanen Montage einzelner Erlebnis-Augenblicke entwickelt Brinkmann die traumatischen Motive einer „Phantomwelt aus Gewalt, Tod und Geld“:

Ich bin festgesetzt in der Gegenwart, die zu immer schmierigeren Bildern des Zerfalls, des Todes und der Gewalt zusammenschrumpft, ein comic in monotoner Häßlichkeit aneinandergereiht… Die Wahrnehmung durch die Sinne wird durch das Wahrgenommene verstopft, Eindrücke von verwahrlosten Straßen, Häusern, die Fassaden angegriffen, rußig verstaubt, abbröckelnder Putz überall und offene Fenster am Spätnachmittag mit herausgehaltenen Köpfen alter Frauen verteilt über die Steinflächen, unter ihnen sind die heruntergekommenen, zusammengeflickten kleinen Läden, Kabuffs, voll gestellt mit wackeligen Regalen verstaubter Lebensmittel und Haushaltswaren, Seife, Butter, Haarnadeln, Kondome und Bananen neben Brocken rohen Fleisches, schwitzende Würste, Käse, Fliegen, Büstenhalter, Strumpfhosen, Rasierklingen, Straßenprospekte flackrig verwischte endlose Hausreihen wie schmierige Comics, risse & Fetzen…

Das private und öffentliche Leben erscheint verkümmert, erstarrt unter gesellschaftlichen Verhältnissen, in denen die politischen Institutionen und die Massenmedien einen „permanenten Verstümmelungskrieg“ gegen die unterdrückten Wünsche und Glücksansprüche der Menschen führen. In der monströsen Fragmentcollage Rom, Blicke: in diesem Konglomerat aus schier endlosen Briefen, spontanen Aufzeichnungen, Postkartenansichten und Stadtplänen, Ausschnitten aus Landkarten, Textseiten und Zitaten aus Büchern und Heften, hat Brinkmann sein Leiden am „Gespensteralltag“ und seine Wut zu einem zutiefst inhumanen Haß gegen das „sudelige Menschengemeinwesen“ gesteigert. Inmitten dieser schonungslosen Aufzeichnungen, die ihm zuweilen den Faschismus-Vorwurf eingetragen haben, finden sich bereits Spuren einer tiefen Sehnsucht nach „wortlosen Körperempfindungen“, die den utopischen Gegenentwurf zum trostlosen Verrottungszusammenhang der modernen „ZiViehlisation“ und ihrer Sprachsysteme markieren.

Es macht mich heftig und wütend, vielleicht auch verbittert, wenn ich sehe, wie überall, selbst bei uns, die Möglichkeit zu Zärtlichkeit, Entspannung, körperliches Dasein, und damit verstehe ich die tagträumerische Helligkeit von einem durch den anderen, mit alltäglichen, elendem Wirrwarr zugeschüttet wird.

Die Sprache, der letzte Dreck
„Nachts, im Traum, dreht sich der Traum, in irisierenden Farben, langsam, still“: Die Fluchtpunkte, die Brinkmann aufsucht, um der dröhnenden „Gedankenmaschine“ und dem „Mumientanz der Begriffe“ zu entgehen, führen ihn in wortlose Zustände jenseits des Zwangssystems Sprache, verloren „in einigen ganz privaten Eindrücken, Regungen, die unterhalb der Wortschwelle liegen“. Die herrschenden Sprachregelungen in den Massenmedien und besonders im Kulturbetrieb begreift er als Katalysatoren der „mentalen Verseuchung menschlicher Lebensäußerungen. Den unaufhaltsamen Vormarsch der „Gespensterbegriffe“ und der „Bewußtseinsparasiten“ macht er verantwortlich für die Vernichtung der Sinne und die Zerstörung des Ausdrucks. Den „angestellten Sprechautomaten der Massenmedien“ hält er die „Anarchie der poetischen Einsichten“ entgegen, die sich allen politischen Begriffssystemen zu entziehen versucht. „Bleibt mir mit eurer Realität vom Leib“: Im Bewußtsein des Zerfalls von Natur und Geschichte polemisiert Brinkmann gegen den „miesen Atem der gegenwärtigen Gesellschaft“ und den „Terror des Allgemeingefühls“. Sein Haß fixiert sich abstrakt auf „die Gesellschaft“, die als übermächtiger Dämon jede Lebensregung zu ersticken droht. Die undifferenzierte Gleichsetzung von Gesellschaft und Staat und die Weigerung, zwischen den herrschenden „Monstern“, der „Herdenmentalität“ und den „herumwildernden ideologischen Gruppen“ zu unterscheiden, brachten ihn auch in Distanz zu den Traditionen der Studentenbewegung. Er vermutete auch in der Sprache linker Gruppen die „Tricks neuer Begriffsprägungen“ und „dreckige Wortspiele“, die körperliches Dasein ersticken. Daher konzentriert sich auch seine Beschreibung eines linken Theoretikers, der sich dem engen Repertoire des marxistischen Codes anvertraut hat, auf die Physiognomie und die Bewegungen des Sprechenden und nimmt dadurch dem dialektischen Hokuspokus jegliche Wirkung. Aus dieser Perspektive wird schließlich augenfällig, wie restlos die Protagonisten von Revolutionstheorie und Ideologiekritik sinnliche Erfahrungen verschüttet haben:

Ich achte auf die Haltung, die jemand einnimmt, während er dialektisch denkt. Der unaufhörliche Redefluß fällt auf. Starr reihen sich die Argumente aneinander. Die Beobachtungen sind im voraus erledigt. Der starren Automatik der Argumentation entspricht die körperliche Starre des Sprechers. In einer wüsten schlammigen Flut steigen Wörter an die Oberfläche des Gesichts & zerplatzen wie Blasen auf dem fauligen Traumgelände des Körpers… Das Geschmacksempfinden, Farbempfinden, Tastempfinden, Temperaturempfinden, jedes Wahrnehmungsorgan und damit alle Aufmerksamkeit für den Ort, die Zeit, die Umstände, die Umgebung haben sich verwischt, scheinen durch das Gedankensystem ausgelöscht. Wörter wie Gesellschaft, Repression, Anpassung, System beherrschen einen lebenden Organismus.

Einzig in der sprach-losen Unmittelbarkeit sinnlicher Erfahrungen bzw. „zärtlicher wortloser Körperempfindungen“ erlebt Brinkmann die Möglichkeit zu intensivem Leben fern vom „Gespensteralltag“. Gegen den „Schmand der Wörter, Begriffe und Zitate“ imaginiert er „Entzückungen, wortlose, anwesend zu sein“ – und verteidigt dies schließlich selbst mit Zitaten, nämlich mit sozialisationstheoretischen Überlegungen von Wilhelm Reich:

Das Lebendige funktioniert autonom, jenseits des Bereichs von Sprache, Intellekt und Willkür. Das Lebendige drückt sich in Bewegungen aus, und wir sprechen daher von Ausdrucksbewegungen.

Brinkmanns Collagen konstituieren sich als Mimesis dieser „Ausdrucksbewegungen“, als wilde und verzweifelte Versuche, dem toten Begriffsmaterial zu entkommen.

Ging die Tür auf in die Stille
Im Band Westwärts 1 & 2 und im „Unkontrollierten Nachwort zu meinen Gedichten“ variiert Brinkmann immer wieder sein Konzept einer Poesie ohne Wörter. Dabei geht es nicht um „jene entsetzliche Stimme“, von der Büchners Lenz gejagt wird, „die um den ganzen Horizont schreit, und die man gewöhnlich Stille heißt“. Schon viel eher ist an die Entlastung der Subjektivität zu denken, die etwa bei Gottfried Kellers Grünem Heinrich durch die „tiefe Stille“ garantiert wird, oder an das „Wärmegefühl, nicht reden zu müssen“, das eine Figur Peter Handkes ergreift.
In einer stummen und zärtlichen Körpersprache und im „nicht-identischen“ Eigenleben der Naturdinge situiert Brinkmann das Wesen der Poesie. Sein rigoroser Anti-Intellektualismus fordert eine Poesie, die „in sich die Verneinung der Sprache enthält“, zielt damit aber nicht auf hermetische Reduktion oder Wort-Aussparung im Gedicht, die wiederum das Diktum Adornos im Blick hat: „Die wahre Sprache der Kunst ist sprachlos.“ Gegen die Präformierung der Wirklichkeit durch etablierte Sprachmuster setzt Brinkmann eine Gedichtsprache, die sich durch einfache Darstellungsmittel auszeichnet und die frei sein will von Abstraktion und semantischer Mehrdeutigkeit. Das verbale Sprachzeichen löst sich in die nonverbale Sprache der Natur auf:

Poesie löst sich auf in Wortlosigkeit… Das Karussel der Bilder und Vorstellungen, die Gedankenschlägereien im Kopf sind leer … Nun wieder Tageslicht: sanft zieht es durch den Luftraum, über die Dächer. Ist dieser eine Tag nicht poetisch, genug? Dieses eine weiße, helle Fenster?…

Nur die Unmittelbarkeit wortloser Körperempfindungen und Gedichte, die „einfach wie Songs“ und „irdischer Rock’n Roll sind, jetzt hier“, bieten einen Fluchtweg, um sich den manipulativen Vorprägungen der Sprache zu entziehen. Dann öffnet sich wieder jene Tür in die rauschhafte Stille, in der das unaufhörliche Reden einer Gesellschaft im Kommunikations-Wahn durchbrochen wird:

Zärtlicher Körper, sag kein Wort. Was für ein Zweck, welche Absicht verfolgt das Reden, welche Ziele, Fragen an einem Samstagnachmittag mit ausgestorbenen Straßen, erloschenen Häusern, Treppenhäusern, Stille ist nicht schweigen, die meisten schweigen. Stell dir vor, in diesem Moment gäbs keine Wörter mehr, überall nirgendwo, was für eine fantastische Stille, in der die grotesken Dinge stehen.

Roland Barthes hat diese Sprengung des mechanisch dahinströmenden Codes einen Akt der Befreiung beschrieben, der in meditative Zustände jenseits von Sprache führt. Die Form des japanischen Haiku und die innere Versenkung im Zen liefern ihm hierzu das Modell:

Der ganze Zen – und der Haiku ist nur dessen literarischer Zweig – erscheint als ein gewaltiges Verfahren, das dazu bestimmt ist, die Sprache anzuhalten, jene Art innerer Radiophonie zu brechen, die unablässig in unserem Inneren sendet, und dies noch bis in den Schlaf hinein (…), um das unbezwingliche Geplapper der Seele zu leeren, auszutrocknen und in Sprachlosigkeit zu versetzen. Und vielleicht ist das, was im Zen Satori genannt wird… nur ein panischer Schwebezustand der Sprache, die Leerstelle, die in uns die Herrschaft des Codes auslöscht, der Bruch in unserem inneren Monolog, der für unsere Person konstitutiv ist.

Durch die tote Kulisse verwüsteter Landschaften und zerfallener Städte bewegt sich Brinkmann mit einer ungebändigten Sehnsucht nach dem ekstatischen Körpergefühl, das eine sinnliche Erfahrung ohne Sprache ermöglicht.
„Die Poesie ist immer das, was nicht gesagt, nicht formuliert worden ist“: Der stets erneuerte Rekurs auf die stumme Sprache der Dinge verbindet Brinkmanns Utopie einer Poesie ohne Wörter mit der existentiellen Erfahrung der Sprachkrise. der Hugo von Hofmannsthal im berühmten „Brief des Lord Chandos“ literarische Gestalt verliehen hat. Das Bewußtsein radikaler Sprachskepsis treibt diesen imaginären „Lord Chandos“ in einen sprachlichen Lähmungszustand, so daß ihm „die abstrakten Worte im Munde wie modrige Pilze“ zerfallen. Während aber Brinkmanns Abwendung von den tradierten sprachlichen Darstellungsformen in seinem Haß auf die „Sprechautomaten“ der Massenmedien begründet liegt, quält sich die Figur Hofmannsthals in einsamer Konfrontation mit den Tiefenstrukturen der Sprache. Brinkmann flüchtet vor den „Ausrottungskommandos in Wörtern & Bildern“ in die Glückserfahrung der Stille; „Lord Chandos“ führt einen aussichtslosen Kampf gegen die merkwürdigen Figuren und Schriftzeichen, die sich zu Buchstabenketten und Wörtern zusammenschließen und ihn schließlich zu überwältigen drohen:

Es zerfiel mir alles in Teile, die Teile wieder in Teile, und nichts mehr ließ sich mit einem Begriff umspannen. Die einzelnen Worte schwammen um mich: sie gerannen zu Augen, die mich anstarrten und in die ich wieder hineinstarren muß: Wirbel sind sie, in die hinabzusehen mich schwindelt, die sich unaufhaltsam drehen und durch die hindurch man ins Leere kommt.

Trotz der tiefgreifenden Unterschiede zwischen diesen beiden krisenhaften Erfahrungen mit Sprache treffen sich die Sprachnot des „Lord Chandos“ und Brinkmanns verzweifeltes Anrennen gegen die „Barrieren der Wörter“ im Begehren nach einer sprachlosen Poesie der Dinge. Die zahlreichen und beliebigen Gegenstände, die die Glücksempfindungen der sprachlosen Poeten auslösen, werden bei Brinkmann allerdings durch den hektischen Code der öffentlichen Sprach- und Zeichensysteme überflutet. Nur die Spuren und Risse, die die Geschichte an den stummen Dingen hinterlassen hat, machen die Differenz zwischen den Utopien einer Poesie ohne Wörter sichtbar:

Eine Gießkanne, eine auf dem Felde verlassene Egge, ein Hund in der Sonne, ein ärmlicher Kirchhof, ein Krüppel, ein kleines Bauernhaus, alles dies kann das Gefäß meiner Offenbarung werden. Jeder dieser Gegenstände und die tausend anderen ähnlichen, über die sonst ein Auge mit selbstverständlicher Gleichgültigkeit hinweggleitet, kann für mich plötzlich in irgendeinem Moment, den herbeizuführen in keiner Weise in meiner Gewalt steht, ein erhabenes und rührendes Gepräge annehmen, das auszudrücken mir alle Worte zu arm scheinen.

In die Einsamkeit, die der landbesitzende Adlige „Lord Chandos“ noch aufsuchen kann, bricht die flackernde Unruhe der Städte ein, in denen Brinkmann lebt:

Ja, aber die Sprache heute wird von den Massenmedien bestimmt, von Verwaltungen, Ämtern, den sogenannten Kulturinstituten wie Schulen und dem Geschäft. Und sonst? Die schwebenden Flächen, die Formulare zum Ausfüllen, … Immer das Amtliche, Technische, die Formulierung, Nummern, aber ich bin so, daß mich ein Feld mit Blaukohl rührt, die langen Reihen, eine Stille, und die intensive Vorstellung eines alltäglichen, friedlichen Lebens, die es hervorruft.

Eine Zeit ohne Wörter
Die Utopie der Poesie ohne Wörter und die Suche nach rauschhafter Natur- und Körpererfahrung werden auch im „Fragment zu einigen populären Songs“ programmatisch zusammengeführt. Der Text setzt ein mit bruchstückhaften Zitaten und flüchtigen Eindrücken, nimmt diese aber nur zum Anlaß, um in langen reflexiven Passagen die sinnliche Unmittelbarkeit einzufordern gegen die erstarrten Begriffe und die „gesellschaftlichen Formeln“, die „das dreckigste Bild“ des Lebens produzieren:

& wenn wir sprechen, wo fangen die Mauern an? Die Mauern sind Wörter,
kein Zweifel, die Mauern sind
aaaaaaaaaaaWörter, die                  (ist dieser
aaaaaMauer ist das                                 Park morgens um
aaaaaaaaVerständnis.                                           halb neun still
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaagenug? Die Bäume
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaatropfen.)

& jetzt sprechen wir nicht.

Brinkmanns Suche nach der Ekstase des Augenblicks, in dem nicht mehr gesprochen werden muß, kann sich nur im poetischen Sprechen artikulieren. Sinnliche Unmittelbarkeit verweigert sich aber (anders als in der Musik) dem sprachlichen Ausdruck, wofür schon ein Distichon Schillers den Beweis erbrachte: „Spricht die Seele so spricht, ach! schon die Seele nicht mehr.“
Ähnlich wie der Kölner Autor Jürgen Becker realisiert der Lyriker Brinkmann sein Konzept der Poesie ohne Wörter im totalen Rückzug auf den Urmodus der sinnlichen Anschauung: die visuelle Wahrnehmung. Die völlig unterschiedlichen literarischen Traditionslinien, denen die beiden Kölner Autoren gefolgt sind, laufen hier zusammen: Literatur wird in Fotografie transformiert.
Nach der frühen avantgardistischen Produktionsphase mit Wolf Vostell war Jürgen Becker in den 60er Jahren mit den experimentellen Prosastudien Felder (1964), Ränder (1967) und Umgebungen (1970) hervorgetreten, die in sprachskeptischer Manier konventionelle Erzählkategorien außer Kraft setzten. Die assoziative Verkettung sinnlicher Wahrnehmungsdaten in den Prosatexten mündete schließlich ein in die Ausgliederung des visuellen Impulses, was sich in dem Fotoband Eine Zeit ohne Wörter (1971) niederschlug. 281 Schwarz-Weiß-Fotografien, die zu 38 verschiedenen Kapiteln oder Bildsequenzen zusammengefügt sind und durch einzelne Überschriften kommentiert werden, fließen zusammen zu einer visuellen Phänomenologie des Alltagslebens. Auch Brinkmann hat in seinem Beitrag zu dem Buch Trivialmythen sein Alltagsleben nicht in einem poetischen Text fixiert, sondern in sinnliche Evidenz zu übertragen versucht. „Wie ich lebe und warum“: 36 Fotos beleuchten die trostlose Szenerie seines alltäglichen Lebens. Einige Fotos erfassen alltägliches Inventar: Waschbecken, Speisekammer, Badewanne, Toilette, Fernsehgerät, Küche, Wohnzimmer, Schlafzimmer – und ein Schreibtisch, daneben ein überfüllter Papierkorb. In allen Ecken und Nischen sind Bücher gestapelt, das Bücherregal verrät Unordnung. Zwischen diese alltäglichen Bilder einer privaten Schriftstellerexistenz schieben sich aber ständig beunruhigende Signale einer bedeutungslosen und sinnleeren Welt, die keine Antwort auf das „warum“ gibt. Wenn Menschen auf den Fotos zum Motiv werden, dann erscheinen sie als anonyme Anhängsel einer Lebenswelt, die sich als zusammenhangloses Nebeneinander von Straßen, Autos, Häusern und Wohnungen dem Betrachter präsentiert. Brinkmann blendet die Menschen seiner unmittelbaren Umgebung weitgehend aus: entweder sie kommen nur schattenhaft und undeutlich ins Bild, oder ihre Gesichter werden „herausgeschnitten“ aus dem Interieur der Wohnung. In zwei Fällen taucht jeweils am linken Rand des Fotos eine Frau auf. Vielleicht ist es Brinkmanns Frau Maleen, aber auch sie vermag die Ikonographie des Zufälligen und Beliebigen nicht aufzulösen. In der Perspektive Brinkmanns erscheint sie, wie das menschliche Leben überhaupt, an den Rand gedrängt: Leben als Marginalie. Nur auf einem Foto wird ein Mensch in das Zentrum gerückt, wahrscheinlich der hirngeschädigte Sohn Brinkmanns. Außerhalb der Wohnung trifft der fotografische Blick auf Monotonie und Verödung: Eine triste Stadtlandschaft, kahle Häuserfronten, ein leeres Treppenhaus, Abfälle vor einer Backsteinmauer, Mülltonnen. „Die Geschichte ist zusammengebrochen“: Brinkmann fotografiert die banalen Schauplätze seines alltäglichen Lebens, die stumm ihre Bedeutungslosigkeit zeigen. Es gibt hinter diesen Bildern keinen verborgenen Sinn, der darüber Aufschluß geben könnte, „warum er lebt“. Die einzige Gewißheit, die Brinkmann inmitten des Zusammenhanglosen und Zufälligen zu besitzen scheint, signalisieren das erste und das letzte Foto seiner Serie: eine offene Tür, eine geschlossene Tür – es gibt einen Anfang dieses Lebens, es gibt ein Ende dieses Lebens…

Körpersprache
Die Poesie der Oberfläche und des „snap-shots“, die Rolf Dieter Brinkmann und Jürgen Becker zur Fotografie radikalisiert haben, folgt einer zentralen literarischen Tendenz, die Michael Rutschky beschrieben hat:

In den siebziger Jahren hat sich ein Schreiben entwickelt, das die unbestreitbare Wirklichkeit des Körperlichen beansprucht, ein Anspruch, den man am einfachsten zu greifen bekommt, wenn man dies Schreiben mit dem Fotografieren zusammenbringt… Das heißt zum Beispiel, daß sich Autoren zu ihren Materialien wie Fotografen zu verhalten suchen…

Die unruhige Suche nach sinnlicher Wahrnehmung, die sich in Gedichten und Prosaarbeiten der 70er Jahre niederschlägt, bezeugt den „Erfahrungshunger“ in einer verwüsteten Gesellschaft, in der „jede Einzelheit sagt, daß sie nicht das Wahre sein kann, daß sie nur Entfremdung und Schematismus bedeutet“. Um nicht ein wehrloses Objekt der „Schrecken des normalen Lebens“ zu werden, rettet sich Brinkmann schreibend in die Negation des „Gespensteralltags“: „daß er sich formulierend wehrt, ist das einzige, was ihn als Subjekt erscheinen läßt.“
In seinem Nachruf auf Brinkmann hat Nicolas Born, auch ohne ausdrücklichen Hinweis auf das utopische Konzept einer Poesie ohne Wörter, die Verbindung von Körper und Sprache bestätigt:

In Notizbüchern, Zettelkästen und Heftern hatte er (Brinkmann) den Rohstoff für noch einige unerhörte Bücher, von denen jedes, so verstand er sich, eine Attacke auf die Gesellschaft werden sollte, eine schmerzhafte Körpererfahrung, so verstand er die Sprache, für seine Leser. Es ist so, als stünde hinter jedem Vers eine seiner ganz realen Körpergesten

„Love and be silent“: Die Figur der Cordelia in Shakespeares King Lear kann die Liebe zu ihrem Vater nur durch ihr Schweigen bekräftigen. Auch in zwei Passagen in Westwärts 1 & 2 lebt diese Sehnsucht fort: nach einer Körpersprache, wortlos, still.

nicht die Liebe verstehen, die Zunge über einen
aaaaaKörper,                    die Bauchfläche,
der salzige Geschmack der Haut, der Schweiß, und
nicht die Negationen der Sprache verstehen, während ich dich zärtlich
berühre, sanft, ohne Scheu, & was gesagt ist, vergessen…
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa
du erklärst die Liebe durch die Liebe, eine bestimmte
Körperform, eine Stellung
aaaaa& „Zeichen“ (/Mund/Hand), „nein, keine Wörter“
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa

Michael Braun, Sprache im technischen Zeitalter, Heft 90, 15.6.1984

 

Reiner Niehoff: Wütender Flaneur. Der akustische Nachlass des Dichters Rolf Dieter Brinkmann

Ihr nennt es Sprache: Rolf Dieter Brinkmann – Zum Todestag von Rolf Dieter Brinkmann lasen am 22.4.2010 Hans Christoph Buch, Matthias Göritz, Günter Herburger, Stephan Turowski in der Literaturwerkstatt Berlin. Die Moderation hatte Jan Röhnert.

 

 

Fakten und Vermutungen zum Autor + KLG und weiteres 1 + 23
Porträtgalerie: Brigitte Friedrich Autorenfotos

Nachrufe auf Rolf Dieter Brinkmann:

Dieter Wellershof: Alleinsein ist wie ein Gas, das ausströmt
Kölner Stadt-Anzeiger, 26./27.4.1975

Hans-Bertram Bock: Der Tod in Londons City
Nürnberger Nachrichten, 26./27.4.1975

Marcel Reich-Ranicki: Aber ein Poet war er doch
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 28.4.1975

Wolf Wondratschek: Er war too much für euch, Leute
Die Zeit, 13.6.1975

Günter Herburger: Des Dichters Brinkmann Tod
Die Zeit, 13.6.1975

Zum 25. Todestag des Autors:

Alex Rühle: Die Welt als Rohmaterial
Süddeutsche Zeitung, 15.4.2000

Werner Olles: Unstillbare Sehnsucht
Junge Freiheit, 21.4.2000

Zum 30. Todestag des Autors:

Peter Henning: „Ich bin ein Dichter!“
Basler Zeitung, 23.4.2005

Ulrich Rüdenauer: In ein anderes Blau
literaturkritik.de, Nr. 5, Mai 2005

Ulrich Rüdenauer: Der große Außenseiter
Deutschlandfunk, 13.4.2005

Theo Breuer: Mein Rolf Dieter Brinkmann ist eine Fiktion
titelmagazin.com, 22.4.2005

Zum 75. Geburtstag des Autors:

Markus Fauser: Er war kein Urvater des Pop
literaturkritik.de, 1.4.2015

Theo Breuer: Flickenteppich · Blicke auf Brinkmann
poetenladen.de, 14.4.2015

Jens Uthoff: Der Wortvandale
die tageszeitung, 16.4.2015

Stefan Lüddemann: James Dean der deutschen Literatur?
Neue Osnabrücker Zeitung, 15.4.2015

Zum 80. Geburtstag des Autors:

Gerhard Henschel: Träume von Grünkohl
junge Welt, 16.4.2020

Sascha Seiler: Die Tiere sind unruhig!
literaturkritik.de, 16.4.2020

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