Gedenkblatt für I. A.

Gedenkblatt für I. A.

 

Wo von Ilse Aichinger die Rede ist und wenn über sie noch geschrieben wird, steht ihre frühe Biographie im Vordergrund, von der ihr Leben und ihre Schreibarbeit bis zuletzt geprägt geblieben sind: Aufgewachsen mit jüdischem Familienhintergrund in Linz und Wien, Grundschule, Klosterschule; nach dem Anschluss Österreichs ständige Gefährdung und Behinderung durch die Geheime Staatspolizei, Studienverbot; während des Kriegs Dienstverpflichtung, Überwachung, gesellschaftliche Isolation; Verlust mehrerer Familienmitglieder durch Deportation und Ermordung.
Nach Kriegsende arbeitete Ilse Aichinger diese kaum zu bewältigenden Geschehnisse im Roman «Die grössere Hoffnung» (1948) auf und entschied sich definitiv für die sogenannte «schöne» Literatur als prekären Beruf, um mit «schlechten», also schlichten Wörtern immer wieder das angeblich Unsagbare wie auch das vorsätzlich Ungesagte zu vergegenwärtigen.
Mit vielen Erzählungen, Hörstücken und Gedichten hat sie dieses Projekt in der Folge vorangebracht, mehrfach unterbrochen durch langjährige Latenzzeiten, doch stets gestützt durch das Wohlwollen der Kritik und mancher Preisgerichte – eine Autorin, die ihre frühe Erfahrung von Krieg und Staatsterror Zeit ihres Lebens wachhielt (oder davon qualvoll wachgehalten wurde), so dass man sie und ihr Werk fast ausschliesslich mit dieser Thematik assoziierte, dabei aber ihren diskreten Humor, ihre absurde Imagination, ihren bald liebevollen, bald aggressiven Lakonismus ebenso verkannte wie ihr vielseitiges Interesse an jenem faszinierenden Gott, der sich gemeinhin in unscheinbarsten Dingen und flüchtigsten Momenten offenbart.

Keinesfalls sollte man vergessen, dass Ilse Aichinger die Kriegsjahre im Rückblick als die «glücklichste Zeit» ihres Lebens bezeichnet hat – gerade weil Gefahr und Entbehrung die staunende Wahrnehmung des Geringen, Blöden, Billigen nicht nur fördern, sondern geradezu erzwingen. In diesem Zusammenhang erschliesst sich vielleicht auch ihre schockierende Beteuerung, die grösste menschliche Katastrophe bestehe darin, «ohne Katastrophe zu leben». Für sie (wie letztlich auch für ihre Leserschaft) sind jene horrenden Jahre nicht Gegenstand, sondern Hintergrund literarischer Darstellung, die düstere Kulisse, vor der sie ihre Gedanken- und Sprachwelt in wechselnder Inszenierung vorführt. Als Schreibende wie als Lesende war sie nach eigenem Bekunden an Inhalt und Handlung belletristischer Texte völlig desinteressiert, selbst bei Gustave Flaubert oder Joseph Conrad, die zu ihren bevorzugten Schriftstellern gehörten, blieb sie gleichgültig gegenüber dem Erzählten (dem Stoff) und achtete um so mehr auf das Erzählen (den Stil).

Ilse Aichingers Art zu Erzählen ist, genau genommen, das Aufzählen, ist das Festhalten punktueller Wahrnehmungen, die für andere Autoren … für die meisten andern Autoren nicht der Rede wert sind: «Genau sein. Kleine Dinge beobachten, Details. Punkte. Das Schreiben müsste punktueller sein.» Punktuell statt linear und progressiv, wie’s in der Belletristik allgemein üblich ist. «Es gibt Punkte, die da sind, viel mehr als die Gegenwart», betonte sie in einem ihrer späten Interviews; und man könnte hinzufügen – sie bedeuten und gelten auch viel mehr als die Geschichte. Obwohl bei Aichinger der tragisch verschattete Fond ihrer eigenen wie der epochalen Geschichte fast durchweg präsent bleibt, sind es doch immer wieder einzelne «Punkte» (Gegenstände, Wörter, sinnliche Wahrnehmungen, aktuelle Herausforderungen), die sich davon abheben und bei all ihrer Nichtigkeit sich dagegen behaupten – so wie (in der «Lobrede auf England», 2002) das Knirschen der Kreide auf der Schultafel sich gegen die Langeweile des Rechenunterrichts und die Rechthaberei der Algebra behauptet.
Aichingers «Punktualität» war Ausdruck ihres Willens zu strengster Kürze, ja, ihre Idealvorstellung literarischen Schreibens bestand darin, alles in einem Satz, wenn möglich in einem Wort auszusprechen und es solcherart, hochkonzentriert und definitiv, zu verwirklichen. Die Faksimiles, die man von ihren Manuskripten kennt, zeigen, dass sie Wörter und Sätze zumeist als eine Abfolge von unverbundenen Einzelbuchstaben aufschreibt, so als wäre für sie eben der Buchstabe das eigentlich tragende «punktuelle» Element ihrer Texte und das Buchstabieren ihre bevorzugte Schreibbewegung. Dass sie mit dieser minimalistischen Poetik die Sprache beziehungsweise den Sprachgebrauch überforderte, war ihr durchaus klar; dennoch versuchte sie konsequent, in kleinsten Schritten – Buchstabe für Buchstabe – ihrem Fernziel näherzukommen, um schliesslich zu erkennen, dass dieses Fernziel jederzeit (wenn auch nicht ohne Anstrengung) zu erreichen wäre, nämlich durch «Nicht-Schreiben», durch Hingabe an das Schweigen und die Akzeptanz des Todes. Damit hat Ilse Aichinger das letzte Jahrzehnt ihres Lebens verbracht.

Schon immer war sie davon überzeugt gewesen, dass die hauptsächliche Funktion des Schreibens darin bestehe, sterben zu lernen: Schreiben wollen heisse für sie nur einfach – verschwinden wollen, bekannte sie 1996 in einem Gespräch mit dem Wochenblatt «Die Zeit». Da man ungefragt geboren werde, müsse man (wolle sie) im Gegenzug zu dieser ungeheuerlichen Zumutung schreibend auf den eigenen Tod hinarbeiten.
Das mag bei Ilse Aichingers sonst so zurückhaltendem Worteinsatz pathetisch klingen, doch tatsächlich hat sie ihre Schreibarbeit – vorab in den späten Lebensjahren – souverän in diesem Verständnis praktiziert. Ein Buch, ein Werk zu schaffen, darum ging es ihr nicht mehr; sie beschränkte sich statt dessen auf kleine Gelegenheits- und Auftragstexte, die sie mehrheitlich in der österreichischen Presse erscheinen liess – in der literarischen Diaspora sozusagen, unauffällig, fast achtlos verstreut, thematisch disparat. Doch auch hier scheint die frühe Biographie der Autorin wie eine flackernde, unentwegt mahnende Laufschrift immer wieder durch: Wien in der Kriegs- und Besatzungszeit, Minsk, Auschwitz, Mauthausen/Gusen als Orte massenmörderischer Gewaltanwendung, die Grossmutter, die Mutter, die Schwester als wichtigste Bezugspersonen, zugleich als Opfer antisemitischer Verfolgung.

Da sich über Unsägliches niemals adäquat berichten lässt, ruft Ilse Aichinger nicht primär Fakten, sondern Wörter auf, die als solche – statt die äussere, längst vergangene Wirklichkeit unzureichend zu repräsentieren – eine ganz eigene, eigengesetzliche Wirklichkeit behaupten. »Die Worte sind das Einzige, wodurch ich mir eine Realität verschaffe», hat sie einst trotzig zu Protokoll gegeben: «Sie sind für mich das Genaueste. Am ehesten komme ich zur Welt durch das Wort, wenn es wirklich ein Wort ist, wenn es kein Gerede ist.« In diesem Verständnis sind ihre späten Texte nicht nur Zeugnisse ihres Rückkommens auf das Notwendigste und Einfachste literarischer Rede bis hin zum «Nicht-Schreiben», vielmehr geraten sie ihr, darüber hinaus, zu expliziter Polemik gegen jede Form von Belletristik, die sich flotter Geschwätzigkeit verschreibt und damit die nachhaltige einsilbige Sprechweise «schlechter» (d.h. schwieriger) Autoren marginalisiert.
«Das gibt es heute nicht mehr, heute sprechen immer alle gleichzeitig. Es ist zu Ende», hat Ilse Aichinger in dem genannten «Zeit»-Gespräch zerknirscht zu Protokoll gegeben: «Es ist eine schwache Zeit. Aber man kann nicht einfach drauflosschreiben und künstlich Zusammenhänge herstellen», denn «im Augenblick kann man nur genau begreifen, dass keine Zusammenhänge da sind …» – In einem Essay von 1997 über «Das Verhalten auf sinkenden Schiffen» verschärfte sie diese Kritik: «Diejenigen, die das Feld beherrschen, weil sie nichts zu sagen haben, verlangen, es müsse wieder erzählt werden. Geschichten dieser Art sind heute aber verlogen. Sie bestärken Bequemlichkeit und Primitivität …» Und ohnehin könne man, wie sie 2004 in der Wiener «Presse» (Spectrum) bekräftigte, nur das erfahren, «was man schon weiss». Wozu denn also noch berichten, bezeugen, erzählen, erklären?

«Wenn einer eine Reise tut, so kann er nichts erzählen», notierte Ilse Aichinger in einem Pressebeitrag von 2001: «Das fiel mir schon ziemlich früh auf.» Der solcherart verkehrte populäre Spruch wurde für sie zur poetologischen Devise: Nur wenn einer keine Reise tut, kann er darüber berichten. Demzufolge verfasste sie in den Jahren 2001 bis 2005 in einem Wiener Kaffeehaus eine Skizzenfolge über «Unglaubwürdige Reisen» (als Buch 2005), die sie vor Ort in ihren Erinnerungs- und Phantasieräumen absolvierte – kleinformatige literarische Medaillons, in die sie alles einbrachte, was ihr ad hoc durch den Kopf ging oder vor Augen trat, Texte voller Ungereimtheiten, abrupter Verzweigungen, überraschender Assoziationen und autoritativer Zitate. Die Rede ist von aktuellen Befindlichkeiten und Wahrnehmungen, von Spaziergängen, Kinobesuchen und Lektüren, von Verwandten, Freunden, Kollegen, alles unangestrengt vorgetragen, aber doch mit entschiedener Parteinahme. Da all dies Diverse und sehr Private in seiner kargen Darbietung bei Ilse Aichinger stets auch ein diskretes poetisches Flair hat, darf man die «unglaubwürdigen» Reiseskizzen zumindest phasenweise durchaus als Prosagedichte lesen; hier – beispielshalber – ein entsprechender Auszug:

«‹Fort› heisst fort. Kein Weg zurück. Ob ins Kino, zum Skifahren oder zum nächsten Badesee, ob nach Venedig oder ins Salzkammergut – man ist ‹fortgegangen›.

‹Ich verabschiede mich›, hörte ich unlängst im Stadtpark. Das könnte heissen: ‹Ich gebe mir den Abschied, einen ohne Wiederkehr.›

Ob ich im Mondsee ertrinke – was in Zeitabständen immer wieder ganzen Familien passiert –, ein Schneebrett lostrete oder rund um Verdun liegenbleibe: ‹Fort› braucht keine Namen, es muss sich nicht schmücken, nicht feierlich aus der Taufe gehoben werden, keine Freuden- oder Schmerzenstränen auslösen: Es steht für sich.»

Was kann und soll Literatur denn überhaupt? Sie müsste «notwendig» sein können, meinte – und forderte – Ilse Aichinger zu wiederholten Malen: Künstlerische Literatur sollte nicht mitreden wollen, sondern Gegenrede sein gegen alles Geläufige, Gefällige, Gefeierte; sie sollte weder unterhaltsam noch informativ sein; sie müsste sich ihrer selbst bewusst sein in ihrer Schwäche und Unerheblichkeit, aber auch im Triumph ihrer Wirkungslosigkeit; sie sollte persönliche Ansprache ohne Hoffnung auf Antwort sein – sie werde geschrieben, damit sie da sei.

Ilse Aichinger, Eiskristalle, Frankfurt a. M. 1997. – I. A., Unglaubwürdige Reisen, Frankfurt a. M. 2005. – I. A., Aufruf zum Misstrauen, Frankfurt a. M. 2021. – Alles beim S. Fischer Verlag.

 

© Felix Philipp Ingold
aus unveröffentlichten Manuskripten

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