WIRBELSÄULENFLÖTE
Prolog
Ein Prost allen,
die mir je gefielen oder gefallen
− verewigt im Seelenschrein Bild an Bild −,
heb ich als edelste von allen Schalen
hier diesen Schädel mit Versen gefüllt.
Immer öfter überleg ich: −
setzt man nicht am besten
den Schlußpunkt mit einer Kugel ins Herz?
Heut geb ich auf jeden Fall
diesen letzten
Abend eines Abschiedskonzerts.
Gedächtnis!
nun schar mir im Saal meines Hirnes
die randlose Reihe meiner Geküßten.
Gieß lachenden Blick unter heitere Stirnen.
Drapier die Erinnerung mit Brautnachtgelüsten.
Laß Leiber vollaufen mit Wohlgefühlen.
Nachklinge die Nacht im Wonnegeheule.
Denn heute will ich mal Flöte spielen
auf meienr eigenen Wirbelsäule
(…)
I
Vom Glück der gefundenen oder vom Unglück der verlorenen Liebe zu erzählen gehört zu den Urmotiven der Lyrik, denn nirgends ist der Mensch privater, intimer und auch verletzlicher als in jener unmittelbaren Beziehung zu einem anderen, und nirgends überschreitet er sich so rückhaltlos und total wie in der Liebe. Aber Liebesgedichte geben in ihrer Art und Weise des Auftritts, ihrer Selbstverständlichkeit oder Verschämtheit, ihrer klaren oder verstellten Sprache immer auch Auskunft über die Umstände ihrer Entstehung. Im Falle Majakowskis nun muß auf diese doppelte Bedeutung gewiß nicht hingewiesen werden, denn es gibt kaum ein lyrisches Werk, in denen die Wechselwirkungen von Individuum und Gesellschaft, von privater Empfindung und allgemeiner Angelegenheit, von persönlicher und historischer Geschichte dermaßen kenntlich und poetisch durchdrungen sind. Gewiß gibt es das konkrete Liebesgedicht, in dem ein anderer Mensch mit Versen umarmt und festgehalten wird, aber das ist eher singulär. Hier ist das Genre prinzipiell größer und weiter zu fassen und auszudehnen auch auf die Liebe zu einer Idee. Und wenn es etwa heißt:
Es lebe die Revolution,
die baldige, lichte!
Der einzig,
wahrhaftig
erhabene Krieg
von allen Kriegen
der Weltgeschichte
dann ist in diesen affektiv hochstürmenden Versen ein Potential an Leidenschaft enthalten, das bezogen auf einen anderen Menschen kaum größer sein könnte. Oft überschneiden sich die Motive der Liebe innerhalb eines Gedichtes, nehmen hier die Gestalt einer Frau an und dort die einer Sache. Das ästhetisch Problematische an Liebeslyrik ist ja der Versuch, einen einzelnen in der ganzen Tiefe eines Gefühls anzusprechen und es doch so zu tun, daß der Leser, jener Dritte und Fremde im Bunde, nicht zum Voyeur wird. Wie indiskret und hermetisch, von Kitsch und sprachlichem Plunder heimgesucht mag sich da vieles gebärden, was als Liebeslyrik firmiert. Daß sich bei Majakowski selbst in frühester Jugend, die fraglos ein Recht darauf hat, literarisch danebenzugreifen, wenn es um die Bannung starker Empfindungen geht, keine einzige peinliche Zeile finden läßt, beweist die Außerordentlichkeit dieser lyrischen Stimme und die schnelle Reife eines Bewußtseins für Zeit und Geschichte. Wenn er in dem Poem „Wolke in Hosen“, das wir allein seines Umfanges wegen hier nicht mit aufnehmen konnten, eine Frau namens Maria anruft, die gleichsam eine Imagination aller Frauen in einer darstellt, dann sehen wir, wie poetisch abstrakt der Autor von Anfang an das Reale behandelt. Aber wie im Dispositiv dazu gewährt auch niemand einen tieferen Einblick, wie Poesie von ideologischer Inanspruchnahme beschädigt werden kann. Denn auch das muß gesagt sein: die Hymnen der Zukunftsverheißung und einer ins Politische gewendeten Religiosität, wie er sie in den 20er Jahren unter dem Eindruck von Revolution und Gründung der Sowjetunion schrieb, bewegen eine Menge agitatorischen Ballast und sind allenfalls noch ihrer besonderen lyrischen Techniken halber, wie der freien Behandlung des Verses und der Verwendung von Assonanzen, oder ideologiegeschichtlich interessant. Und wenn es gar heißt: „Das Kleine miß stets / am gewaltigen Ziel.“, dann kann es einem heute eigentlich nur noch unheimlich werden. Auch das eine Schnittstelle wie die des Liebesgedichtes, das Innen- und Außenwelt in ihrer Gegensätzlichkeit miteinander verbindet: die Art und Weise der Reaktion auf ein historisch so großes Ereignis, wie die Oktoberrevolution von 1917 eines war. Eine ganze Generation von Dichtern und Künstlern ist von diesem Geschichtsverlauf auf mehr oder weniger tragische Weise mitgerissen worden; ob Sergej Jessenin im Suizid, über den Majakowski etwas belehrend schreibt:
Es gibt noch wenig Lust auf unserm Stern.
Man muß die Freude aus der Zukunft reißen.
In diesem Leben stirbt man leicht und gern.
Bedeutend schwerer ist: das Leben meistern.
um ihm dann nur fünf Jahre später auf ähnliche Art und Weise zu folgen, oder Marina Zwetajewa im Exil, ob Anna Achmatowa in Armut und Isolation oder Ossip Mandelstam in der Verbannung – gescheitert oder doch um die Kraft ihrer Jahre gebracht sind sie alle. Auch Majakowski, der zunächst ein Kind der Revolution war, ehe er eines ihrer zahllosen Opfer werden sollte.
II
Als drittes Kind und einziger Sohn eines Försters wird Wladimir Wladimirowitsch Majakowski am 19. Juli 1893 im georgischen Bagdady geboren. Nach dem frühen Tod des Vaters durch eine Blutvergiftung und einem Umzug der Familie nach Moskau kommt er mit 14 Jahren ans Gymnasium, wird dort aber, da die Mutter das Schulgeld nicht mehr aufbringen kann, nach nur zwei Jahren wieder entlassen. Er liest marxistische Literatur, sympathisiert mit der Russischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei, beteiligt sich an politischen Kundgebungen und wird wegen staatsfeindlicher Propaganda mehrmals verhaftet. Und er schreibt seine ersten Gedichte, die allerdings von den Aufsehern einer damals berüchtigten Haftanstalt konfisziert werden. 1912 erscheinen dann „Nacht“ und „Morgen“ in einem futuristischen Almanach. Gleichzeitig beschäftigt er sich mit Malerei und beginnt ein Studium an der Moskauer Kunstfachschule. Dort lernt er David Burljuk und Welimir Chlebnikow kennen, deren futuristischer Gruppe Gileja er sich anschließt.
Es folgen futuristische Manifeste und der Ausschluß aus der Kunstakademie zusammen mit David Burljuk sowie weitere Repressalien wegen revolutionärer Aufsässigkeit. Die Poeme „Wolke in Hosen“ und „Die Wirbelsäulenflöte“ entstehen, und der Lyriker zeigt sich hier, was Stilsicherheit und poetische Bildlichkeit betrifft, schon ganz auf der Höhe seiner Begabung. Auch thematisch ist bereits alles präsent: die Liebe, die Kritik an jeder Form von Bürgerlichkeit, die Religion – der ein Glaube an die Revolution folgen wird – und die Kunst. Das Neue und Ungewohnte an diesem lyrischen Sprechen ist sein Gestus der rhetorischen Unmittelbarkeit, der Sache und Satz fast als identisch behandelt und zum erzählerischen Langgedicht drängt. Hochmodern auch die Flüchtigkeit des reflektierenden Subjekts und die Verklammerung einander ausschließender Motive. In Abgrenzung zum Symbolismus eines Alexander Blok oder Imaginismus eines Sergej Jessenin entsteht so eine Lyrik, die sich für eine Darstellung des Alltäglichen ebenso eignet wie für den mündlichen Vortrag. Damit ist eine der Struktur nach offene lyrische Form geschaffen, die auch besonders geeignet für Agitation und politische Inhalte ist. In einer anderen, das Wort eher symbolisch konditionierenden Poetik wäre eine solche Instrumentalisierung der Lyrik kaum möglich gewesen. Hier wachsen ein poetisches Selbstverständnis, das zu einer Modernisierung des Metrums und einer eher unmetaphorischen, konkret bleibenden Bildlichkeit führt, und ideologischer Auftrag zusammen. Nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges meldet sich Majakowski an die Front, wird aber zurückgewiesen und arbeitet vorübergehend in einer Petrograder Fahrschule. 1915 macht er die Bekanntschaft mit Maxim Gorki, der zu seinem literarischen Ziehvater wird und einen sicher großen Einfluß auf seine politische Haltung ausübt. Im selben Jahr lernt er die mit dem Literaturwissenschaftler Ossip Brik verheiratete Lilja Brik kennen und verliebt sich in sie. Eine öffentlich beachtete Mènage á trois beginnt, zunächst noch in Petersburg, wo er sich im Palais Royal unweit der Briks ein Zimmer mietet, und ab 1920 in einer kleinen Wohnung in Moskau, die sie sich zu dritt teilen. Ossip Brik wird Majakowskis Verleger, der auch erstmalig das Poem „Wolke in Hosen“ herausbringt, und Lilja Brik seine Geliebte und lyrische Muse, eine Art Beatrice der russischen Literatur. Nun ist viel darüber geschrieben und spekuliert worden, welchen Einfluß diese Beziehung zu den Briks auf sein Werk hat, denn gewiß sind vor allem die frühen Poeme und Gedichte wie „Lilitschka!“ undenkbar ohne die reale Person Lilja Brik. Viel entscheidender jedoch sind die folgenden historischen Ereignisse, die alles vordergründig Persönliche zunehmend verdrängen. Und er begrüßt sie, die Revolution von 1917 und den Sieg der Bolschewiki mit dem ganzen Erlöserpathos, wie es wohl auch in der Zeit lag. Verse wie:
stark und rein
wie noch nie
faßt mein Geist
das große
Gefühl,
das da Klasse heißt!
meinen es vollkommen ernst und sind keine Huldigung wider besseres Wissen. Majakowski schreibt in einer gesellschaftlichen Keimzelle, die noch ganz in ihrer Utopie verkapselt ist und über keine Erfahrungen mit sich selbst verfügt. Nicht unwesentlich für diese ideologische Empfänglichkeit ist auch die futuristische Idee der perfekten Maschine, die den Gedanken des „neuen Menschen“ impliziert und in Verbindung mit den gesellschaftlichen Veränderungen als greifbar nah erscheinen läßt. Schon in dem Poem „Wolke in Hosen“ von 1915 heißt es:
Ich, Verherrlicher der Maschine,
der Techniken von Manchester und Boston,
bin vielleicht im evangelischen Alltags-Sinne
der dreizehnte Apostel.
Revolutionäre Idee und Verherrlichung der Technik, deren Grund in der Absage an einen Gott liegt und diesen zu ersetzen hat, gehen ineinander und lassen ein konstruiertes und idealisiertes Menschenbild entstehen: nietzscheanisch-transzendental auf der einen, heroisch-androgyn auf der anderen Seite der Geschichte. „Schafft eine neue Kunst, / geeignet, / die Republik aus dem Unrat zu heben!“, schreibt er 1921, dem Jahr der ersten großen Hungersnot in Folge katastrophaler wirtschaftlicher Zustände. Doch so sehr er sich auch müht, ein Arbeiter unter Arbeitern zu werden und eine Poetologie verteidigt, die das Schreiben von Gedichten gleichstellt mit der Produktion einer Ware: Er bleibt doch ein Mann des Wortes und damit ein Intellektueller, der sich zu Volksnähe und Einfachheit immer wieder ermahnen lassen muß. Sein Konzept der Proletarisierung von Poesie geht nicht auf: die Sprache verflacht, um verständlicher für die Masse zu werden, bleibt aber noch immer zu sehr Literatur und damit suspekt. Ein unlösbarer Widerspruch und das beginnende Ende der Illusion. Ab 1922 reist er, nach Lettland, Frankreich, Deutschland und in die USA, wo er, ein glühender Verfechter seiner kommunistischen Überzeugungen noch immer und kurzzeitig sogar sowjetischer Vorzeigedichter, Elli Jones kennenlernt. Mit ihr bekommt er eine Tochter, die er allerdings erst 1929 in Südfrankreich das erste Mal trifft. Seine letzte Liebe wird dann Tatjana Jakowlewa heißen, die in einem 1928 verfaßten „Brief an Tatjana Jakowlewa“ auch lyrisch verewigt ist. So sehr nun auch das Ausland ihn feiert, im eigenen Land gerät er zunehmend unter Druck, wird beargwöhnt und bespitzelt und schließlich von der Geheimpolizei systematisch in den Tod getrieben. Seine Komödien „Die Wanze“ und „Das Schwitzbad“, in denen er die Verhältnisse des jungen sozialistischen Staates satirisch aufs Korn nimmt, werden durch Manipulationen der GPU, die Störtrupps in die Vorstellungen schickt, zu Mißerfolgen. Gesundheitlich geht es ihm schlecht, die Freunde und Weggefährten wie Boris Pasternak haben sich lange schon von ihm abgewandt, kurz: von dem Sänger der Revolution ist kaum mehr geblieben als ein Schatten seiner selbst. Und wie er es in einem frühen Gedicht prophezeite, geschieht es: am 14. April 1930 schießt er sich mit einer Pistole ins Herz. In seinem Abschiedsbrief heißt es: „Wie man so sagt, der Fall ist erledigt; das Boot meiner Liebe am Alltag zerschlug.“
III
Jeder stirbt zweimal, einmal physisch und einmal symbolisch. Majakowskis symbolischer Tod lag in Stalins fünf Jahre später geäußertem Bekenntnis: „Majakowski war und bleibt der beste, talentierteste Dichter der Sowjetepoche. Es ist ein Verbrechen, seinem Werk gleichgültig gegenüberzustehen.“ Damit war er für die Sowjetliteratur kanonisiert und für den Sozialistischen Realismus vereinnahmt. Etwas Schlimmeres und sein Bild rezeptionsgeschichtlich Vergröbernderes konnte ihm kaum passieren. Denn Majakowski, der mindestens ebenso zersplittert war wie die Zeit, in der er wirkte, war von nun an etwas holzschnittartig der Barde der Arbeiterklasse und Sprachrohr der Revolution. Daß sich hinter dieser extrovertierten Schablone ein überaus verletzlicher Mann verbarg, wissen am ehesten die, von denen in den Liebesgedichten mal direkt, mal indirekt die Rede ist: die Frauen, die er oft genug unglücklich liebte. Sicher war er in einer Phase seines Lebens ein Irrläufer. Aber wollen wir auch nicht verkennen, daß die historischen Umbrüche von einer Unabweislichkeit waren, der sich keiner entziehen konnte. Entweder er wurde im Strudel der Ereignisse mitgerissen und ging darin unter, oder er übernahm eine Rolle (− und ging in dieser dann ebenfalls unter). Für ein lyrisches Temperament, wie Majakowski eines war, gab es da im Grunde keine Alternative. Nun ist Kunst immer auch eine kollektive Verabredung darüber, was Kunst ist oder werden kann, und damit ist sie an die Bedingungen ihrer Zeit gebunden. Im Falle Majakowskis waren die Bedingungen eher so, daß sie die Kunst, seine Kunst, schnell verbrauchen mußten. Mit einer Idee verschmolzen zu sein, die zur Ideologie geworden ist und eine politische Exekutive besitzt, ist natürlich in sich schon paradox – jedenfalls für einen Dichter, der nur aus der Freiheit seiner Sprache schöpfen kann. Am Ende war er es selbst, der aufs schärfste gerade deswegen mit sich ins Gericht ging, wenn er schrieb: „Auch mir / wächst die Agitpropkunst / zum Halse heraus“. (…) „Doch ich / bezwang mich, / trat / bebenden Hauchs / dem eigenen Lied / auf die Kehle.“ Kürzer und treffender könnte man kaum zusammenfassen, wie missionarischer Eifer mit Selbstverzicht gepaart zur existentiellen Tragödie werden. Was also bleibt, ist die Poesie hinter dem Bekenntnis, und da haben wir doch eine ganze Menge an Gedichten, denen der Verfasser nicht in pragmatischer Absicht „auf die Kehle“ getreten ist. Und es sind, dieser Band möge es bestätigen, vor allem die Liebesgedichte.
Kurt Drawert, Nachwort
ist das Wesentliche. Aus ihr entfalten sich die Verse, die Taten und alles Übrige. Die Liebe ist das Herz des Ganzen.“ So sind nicht nur die Gedichte, die Wladimir Majakowski an und über Frauen schrieb, sondern auch seine Revolutionsgedichte als Liebesgedichte zu lesen. Mit seinen leidenschaftlichen politischen Werken gilt er als poetischer Wegbereiter der Sowjetunion, jedoch bleibt auch diese ideelle Liebe, wie die meisten seiner weltlichen, nicht ohne Enttäuschungen. Seine wohl schönsten Poeme sind Lilja Brik gewidmet, der Frau seines Verlegers Ossip Brik. Seit der ersten Begegnung 1915 bis zu seinem Tod verbindet ihn eine dramatische Liebe zu ihr.
Nach einem bewegten Leben begeht Wladimir Majakowski 1930 im Alter von nur 37 Jahren Selbstmord. In seinem Abschiedsbrief schreibt er: „Lilja, liebe mich… Wie man so sagt, der Fall ist erledigt, das Boot meiner Liebe ist am Alltag zerschellt…“
Insel Verlag, Klappentext, 2008
Lieber Wladimir Wladimirowitsch Majakowski, erinnern Sie sich? Hatten Sie kurz vor 10 Uhr am Morgen des 14. Aprils 1930 zu viel Wein getrunken und zu wenig geschlafen? Oder waren Sie traurig, dass Tatjana Jakowlewa in Paris nicht Sie heiratet? Derzeit waren Sie in die 20-jährige verheiratete Schauspielerin Weronika Witoldowna Polonskaja verliebt, und Sie flehten sie an, sie dürfe Sie nicht verlassen. Sie drohten ihr, sich zu erschießen, wenn sie fortginge. Weronika musste zur Probe, außerdem wartete vielleicht ihr Ehemann Michail Janschin auf sie. Sie ging fort. Im Treppenhaus hörte sie einen Pistolenschuss. Danach begann Ihre Zukunft, aus der ich Ihnen diesen Brief schreibe. Wladimir Majakowski ist tot. Zuerst kam die Geheimpolizei (damals hieß sie GPU, Staatliche Politische Verwaltung) mit einem Gerichtsmediziner, der Ihnen gleich den Schädel einschlug und das Gehirn wurde sofort ins Institut Mosga (Hirn-Institut), das es in Moskau nach wie vor gibt, abtransportiert, bevor ihre Freunde Sie sehen durften. Bald jährt sich Ihr 78. Todestag. Der 14. April jeden Jahres ist für mich ein trauriger Tag und an diesem Tag bleibe ich lieber allein, niemand darf mich stören. An diesem Tag denke ich besonders intensiv an Sie, an Ihr poetisches Werk. Nein, ich bin keine Frau, Wladimir Wladimirowitsch, keine Verehrerin, keine „phosphoreszierende Frau“, die in Ihrem letzten Drama „Das Schwitzbad“ die Sowjetmenschen zum „Ersten Zeit-Express zur Raumstation im Jahr 2030“ begleitet. Ich bin ein Lautdichter und stamme aus der ehemaligen Sowjetunion, ich lebe seit 30 Jahren in Deutschland und halte ab und zu Vorträge über Ihre „futuristische Zeit“. Und wir schreiben heute noch nicht 2030, sondern erst 2008. Wir leben nicht in einem „kommunistischen Zeitalter“. Sind Sie enttäuscht? Unser Sowjetreich zerfiel Ende 1991. Das hätten Sie ja wohl nie gedacht, oder? Ich auch nicht. Es ist beruhigend, dass es passiert ist, sonst hätten wir einen dritten Weltkrieg bekommen und das 21. Jahrhundert wäre uns erspart geblieben. Sie sind für mich ein Rätsel, lieber Wladimir Wladimirowitsch. Ich liebe Sie als Dichter, aber ich verstehe Sie nicht als Mensch, als Persönlichkeit. Oder war mein Dichter Majakowski ein Januskopf? Ihre Worte sind in meinem Blut, da ist nichts zu machen. Sie sind ein Sprachrevolutionär, Sie haben die russische Syntax aus dem Gefängnis befreit. Andererseits waren Sie, als Adliger (ich denke an Ihre adelige Familie) mit Herz & Seele auf der Seite der so genannten bolschewistischen Revolution. Hat das Proletariat irgendwann Ihre Poesie geliebt? Ich habe da ganz schlimme Erfahrungen. Als achtzehnjähriger Arbeiter hatte ich Ihre Verse dem Proletariat vorgetragen, das mich zynisch, höhnisch auslachte. Was heißt das, „Proletariat“? Bei Friedrich Engels fand ich zufällig einmal diese Erklärung: „Proletariat ist diejenige Klasse der Gesellschaft, welche ihren Lebensunterhalt einzig und allein aus dem Verkauf ihrer Arbeit und nicht aus dem Profit irgendeines Kapitals zieht.“ Na ja, dann bin ich auch „Proletariat“. Nichts fand ich langweiliger als die Werke des Marxismus-Leninismus zu studieren. Aber es war Pflicht an der Universität, wir mussten sie pauken. Ich habe es trotzdem nicht gemacht. Ich erinnere mich nur an den ersten Satz aus dem Manifest der kommunistischen Partei: „Ein Gespenst geht um in Europa – das Gespenst des Kommunismus.“ Mit dem Gespenst hatte er Recht.
Der arme Karl Marx! Hätte er etwas von den Falsifikationen und Plagiaten erfahren, dann hätte er sich vielleicht ganz seiner Dichtung (er schrieb als junger Mann Gedichte) gewidmet.
Lieber Wladimir Wladimirowitsch, Sie haben mich vor 40 Jahren mit Ihrem „poetischen“ Kommunismus so beeindruckt, dass ich daran glauben wollte. Kurz danach musste ich als Rekrut in die Reihen der Sowjetarmee und ich wundere mich bis heute darüber, dass ich in den zwei Jahren überhaupt am Leben geblieben bin.
Zum letzten Mal waren Sie in Paris vom 12. März bis Ende März 1929. Und was haben Sie Ihrem Freund, dem Maler Juri Annenkow, der schon seit Jahren in der Emigration lebte, über Ihren seelischen Zustand erzählt? Sie waren betrunken, Sie haben wie ein Kind geweint, Sie baten ihn, Ihnen ein bisschen Geld zu geben. Sie sagten zu ihm, Sie seien kein Dichter mehr und kehrten deshalb in die Heimat zurück. Aber das ist nicht das Thema meines Briefes. Wissen Sie, ich bin in der Zukunft, aber verstehen kann ich nur die Vergangenheit. Bei uns, zu Anfang des 21. Jahrhunderts habe ich keine richtigen Zukunftsvisionen.
Wenn man kerngesund ist, kann man für ein paar Millionen Dollar einen Fahrschein ins Weltall kaufen. In der Schule, in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts, haben wir ein Lied mit dem Refrain „Auf dem Mars werden die Apfelbäume blühen“ gesungen. Aber niemand träumt heute davon, eine Datsche auf dem Mars zu erwerben. Vom Kommunismus redet auch kaum jemand. Die Imperialisten aller Welt haben sich vereinigt. Die USA, Russland und die EU, das ist die Union der europäischen Staaten. Die Chinesen sehen zwar rot aus, aber das ist nur die Fassade. Sie führen sich kapitalistischer als die Kapitalisten auf und behaupten, dass sie noch in der ersten Phase des Kommunismus stecken würden.
68 Jahre nach Ihrem Selbstmord, 1998 (Haben Sie sich selbst erschossen oder war es jemand von der GPU? Organisiert von Ihrem „besten Freund“, Kommissar der Staatssicherheitsdienstes Jakow Agranow?) erschien in Russland ein Buch von Walentin Skorjatin mit dem Titel Das Geheimnis des Todes von Wladimir Majakowski. Daher meine vorsichtige Frage: Nach Ihrem Tod begann die größte Tragödie des russischen Volkes. Wahrscheinlich begann diese Tragödie schon ein paar Jahre vor Ihrem Tod. Erinnern Sie sich an die ersten sowjetischen Konzentrationslager? Im Ort Solowki befand sich das erste „Muster-KZ“ des Jahres 1923. Sie haben davon bestimmt gewusst, lieber Wladimir Wladimirowitsch. Einige Jahre nach Ihrem Tod verwandelte sich unser Land in einen gigantischen GULag. „GULag“ heißt „die staatliche Lagerverwaltung“. Die meisten Ihrer Freunde und Dichterkollegen wurden auf bestialische Weise umgebracht. Von Sergej Tretjakow, Isaak Babel, Wsewolod Meyerhold, Igor Terentjew, Daniil Charms bis Ossip Mandelstam und Benedikt Liwschiz. Bis 1953 – in diesem Jahr starb Josef Wissarionowitsch Stalin, der „beste Freund aller Sportler und aller Werktätigen der Welt, der beste Sprachwissenschaftler der Welt“ – herrschte im Lande die unerhörte Tyrannei und Inquisition, Ketzerverfolgung. Wie im Mittelalter.
Niemand durfte mehr ausreisen (nicht nur Sie nach dem März 1929), und statt der Diktatur des Proletariats gab es nur die stalinistische Diktatur der Zensur und des Terrors. Alle, die am Leben bleiben wollten, mussten die unzähligen Paraden und andere pompöse Feste mitmachen. 11 Jahre nach Ihrem Tod hat das Nazideutschland die Sowjetunion angegriffen. Zwei Jahre vorher, 1939, haben Stalin und Hitler einen Nichtangriffspakt besiegelt, Polen besetzt und unter sich aufgeteilt. Der Name „Hitler“ sagt Ihnen kaum etwas, aber dafür der Name des Faschisten Mussolini. Über 20 Millionen Sowjetbürger kamen ums Leben. Europa wurde zu einem Schlachtfeld und zu einem Konzentrationslager. Hitler und Stalin waren zwei Schnurrbartmänner. Ich weiß, Sie, Wladimir Wladimirowitsch, haben über die Männer mit dem Schnurrbart immer gespottet. War es nicht „Genosse Stalin“, ein Hauptbürokrat, Sie gaben ihm den Spitznamen Pobedonossikow (Siegesnäslein) in „Das Schwitzbad“? Klar war diese Figur Stalin. Sie haben sich rechtzeitig umgebracht, mein Lieblingsdichter. Stalin verstarb erst 1953. Ich kann mich daran erinnern, weil meine Mutter, eine litauische Frau aus dem GULag, weinte. Wie alle Sowjetbürger. Vielleicht vor Freude. Nach dem Tod von Stalin schien das Land tief ein- und auszuatmen. Es kamen die anderen Parteisekretäre im Kreml an die Macht, zuerst war es Nikita Sergejewitsch Chruschtschow. Sie können sich an ihn nicht erinnern, Stalin holte diesen dicken Mann aus der Ukraine im Jahre 1938 in sein Politbüro. Aus dem ehemaligen ZK der „Lenin-Partei“ gab es zu Stalins Zeiten niemanden mehr. Semjon Mironowitsch Kirow, der 1. Parteisekretär in Leningrad wurde 4 Jahre nach Ihrem Ableben ebenfalls umgebracht. Aber was heißt „Lenin-Partei“? Ich weiß, Lenin war Ihre Ikone, lieber Wladimir Wladimirowitsch. Das einzige Bildchen in Ihrem Arbeitszimmer. Für Lenin war Puschkin wichtiger als Sie, aber es war Ihnen egal. Lenin war Ihr Idol. Und als Lenin starb, gab es auch seine Partei nicht mehr. Das las ich in Ihren Gedichten. Ich vermute, Sie hatten schon etwas gegen den Stalin als Parteisekretär, denn Ihre Jubiläumsausstellung „20 Jahre Arbeit“ im Jahre 1929 wurde nicht gestattet, weil die ganze Sowjetunion und die „ganze progressive Welt“ den 50. Geburtstag des „Lieblingsgenossen“ Stalin feierte. Außer Ihnen. Sie wollten sich feiern lassen, es ging nicht mehr. Ihre Freunde haben Sie im Stich gelassen. Oder umgekehrt?
Vielleicht war es nicht die Liebe, sondern die Politik, an der Sie scheiterten? Wie konnten Sie vergessen, dass die Poesie mit der Politik nichts zu tun haben darf. Und die Liebe? Wer war diese lästerliche Frau, diese Lilja Brik? Eine aus der GPU? Sie kommandierte Sie herum, wie sie wollte. Sie, den „großen proletarischen Dichter“, Sie waren nur ein Hündchen für sie. Davon zeugen Ihre Signaturen und Zeichnungen in den Briefen an sie. Der große Dichter hockt wie ein kleines Köterchen vor ihr. Wau! Aus Paris brachten Sie ihr ein Auto der Marke Renault mit, aus dem KDW, dem Kaufhaus des Westens in Berlin Klamotten, Süßigkeiten, Parfüms. Na und, Sie haben Lilja geliebt. Lilja hat mit anderen Männern geschlafen. Sie haben sie die letzten 7 Jahre platonisch geliebt. So was gibt es auch in der Liebe. Leider hat Sie Lilja Brik zu früh versklavt.
Lilja Brik starb im Jahre 1978. Sie hat sich umgebracht. Bis in die tiefsten Lebensjahre hatte sie immer wieder Liebhaber. So eine „Nastassja Filippowna“. Sah sie in Ihnen einen neuen Fürsten Myschkin? Jetzt ist es ruhig geworden in der ganzen Welt, was die Weltrevolutionen betrifft. Nach dem 2. Weltkrieg kam es dann zum Kalten Krieg zwischen dem „Warschauer Pakt“ (so hieß ein Bündnis der Sowjetunion mit den osteuropäischen Ländern, die von der Roten Armee zuerst befreit und anschließend besetzt wurden) und der NATO, einem eigenen Bündnis der USA mit den westeuropäischen Ländern. Europa wurde in Ost und West eingeteilt. Den Untergang des russischen Kommunismus haben wir dem Generalsekretär Michail Gorbatschow zu verdanken. Er war auch ein naiver Kommunist, aber ein selten herzlicher Mann. Wladimir Wladimirowitsch, Sie sind der beste russische Liebeslyriker des 20. Jahrhunderts geblieben. Ihre Gedichte gehören zur Pflichtlektüre in den russischen Schulen. Ob es immer gut ist, das weiß ich nicht. Ihre Texte werden vertont und daraus wird purer Kitsch erzeugt. Ihnen wäre übel geworden, hätten Sie sich so was angehört. Im neuen russischen Borniertheit-Kapitalismus ist alles möglich, nur keine neue Revolution. Die Zeit vergeht. Die Menschen interessieren sich für alles Mögliche, aber immer weniger für die Poesie. Hören Sie zu, war es in Ihren heldenhaften Zeiten irgendwie anders? Davon bin ich nicht mehr überzeugt. Ihr Lenin war wirklich ein „deutscher Spion“. Schon zu Ihren Lebenszeiten munkelte man davon.
Jetzt muss ich aufhören, Ihnen zu schreiben.
Ich kann Ihnen nichts mehr erzählen. Wissen Sie, warum? Weil Sie außer Ihrer Dichtung und Ihrer Lilja Brik nichts mehr im Leben geliebt haben. Auf der Bühne waren Sie ein Herr, ein Wortmeister und ein überheblicher und eitler Kerl. Im Leben waren Sie ein erbärmlicher Lover und Kackstiefel, Schürzenjäger, Weintrinker und Kartenspieler. In Ihrem „Testament“ schrieben Sie: „An Alle. […] bitte kein Gerede. Der Verstorbene hasste das.“ Es wird nach wie vor über Sie getratscht, über Ihre Frauen. Ich hoffe, mein Brief hat mit dem Gerede nichts zu tun. Wir Menschen des ersten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts leben rasant schnell. Jeder und jede Nachricht ist im Nu da, auf dem Schreibtisch in einer kleinen elektronisch rechnenden Maschine. Aber ich will darüber meinem anderen Lieblingsdichter schreiben. Können Sie sich nicht an den jungen Dichter aus Leningrad erinnern, an Daniil Iwanowitsch Juwatschow? Er wollte mit Ihnen eine literarische Angelegenheit besprechen. Sie hatten keine Zeit für ihn. Er wechselte mit Ihnen ein paar Worte auf der Bühne (oder war es in Ihrer Garderobe?), und dann ging er, Daniil Charms.
Übrigens starb Charms 12 Jahre nach Ihrem Tod in einer psychiatrischen Klinik der GPU. In Deutschland sind seine Werke zurzeit sehr beliebt.
Ich verbleibe, für die Ewigkeit. Ohne Pathos.
Valeri Scherstjanoi
Valeri Scherstjanoi, aus: Valeri Scherstjanoi & Hartmut Andryczuk: Briefe aus der Zukunft, Hybriden-Verlag, 2008
Das muß nicht sein, sagte er. Es ginge auch anders. Was? sagte ich. Er stand abseits vom Besucherstrom, quitt mit sich selbst. Der Futurismus der Stunde. Oder lieben Sie Vitrinen? Er fragte unverfroren nach meinem Geschick. Es gibt schon das eine und andere aufzuarbeiten, sagte ich mit Blick auf die Gesamtausstellung. Nichts gegen Privatdrucke, in russischen Broschüren bewege ich mich besonders gern. Trotzdem. Er war ganz zufrieden. Krutschonych 1914, Malewitsch 1916, der brüllende Parnaß, und wie sie alle heißen, unbeschädigt unter Glas. Sie lieben? Ach so, sagte ich, historisch ja.
Wir standen am Kanal. Das Wasser hatte zwei Farben und eine Strömung, die keine Schlüsse zuließ. Unzielstrebig, ergänzte ich. Ich liebe, was ich nicht weiß. Er vergrub seine Hände in den Jackentaschen. Das Übliche, sagte er. Frau bekennt keine Farbe. Sie blicken verstört.
Ich? Er suchte nach meinem Spiegelbild. Die futuristischen Lückenbüßer bringen Sie in eine retrograde Abhängigkeit, mieten Sie einen Palast.
Palast, sagte ich. Urteilen Sie selbst.
Er strich mir über die ausgebeulten Jeans. Ein Strohhut, und Sie wären die schönste Wolke in Hosen.
Bitte, sagte ich. Bitte treiben Sie mich nicht in die Enge Ihrer Vorstellungen. Gäbe es einen Anti-Kanal, dann.
Er protestierte gegen die Schwundform. Er nannte die Farben des Kanals: grau, grün. Da können Sie nichts dagegen haben. Auch die Menge steht Ihnen frei.
Während ich seine Hand aus der Jackentasche zog, gingen mir etliche Palastreformen durch den Kopf. Nichts anderes verband ich mit Palästen.
Na und? fragte er.
Wie wärs mit einem Kaffee, sagte ich.
Die Bar hatte fünf Spiegel und ein leuchtendes Sortiment von Flaschen. Wir lehnten an der Theke. Die futuristische Bewegungshysterie, sagte er, der Geschwindigkeitswahn.
Sehen Sie diese Cinzano-Reklame an.
Schrift sagte ich. Zum Stillstand gebracht.
Er musterte mich mit einem schrägen Blick, der einem Vogel, einem Insekt, einer Hure gelten konnte.
Blaurot sagte ich. Unverfänglich.
Er schlürfte den Milchschaum vom Kaffee. Genau das, die Stille zwischen den Lettern.
Mit einem Mal ahnte ich, wohin es ihn trieb. Meister, sagte ich zaghaft, der Zwischenräume.
Bleiben wir bei Cinzano. Sie bestellen ihn mit Eis, ich ohne.
Er legte seine Hand auf meine Schulter. Im übrigen haben Sie recht.
Vielleicht besser einen Grappa, sagte ich.
Sie?
Anzüglich sei er nie, gegen futuristische Anfechtungen gefeit im Unterschied zu. Ich weiß schon, sagte ich. Ich kenne Ihre Sorte.
Am liebsten hätte ich ihn zum Teufel geschickt. Falls Sie mir die Zukunft verbieten, paktiere ich mit ihr!
Er bekam einen Häftlingsblick und zitierte Majakowskij, anno 30.
Was solls, sagte ich.
Die Zukunft hat ihn das Leben gekostet.
Sie meinen die Liebe.
Ich zerrte ihn aus der Bar. Wir liefen durch Gassen und über Brücken, ich gönnte ihm keinen Stillstand. Zum Ghetto, rief er, oder ich beschließe diese sentimentale Reise in einem Kanal. So bekennt man Farbe, spottete ich. Ich war ihm weit voraus. Als stünde mein Leben auf dem Spiel, eilte ich in die angegebene Richtung, ins Abseits der Besucherströme.
Auf einem Platz hielten wir keuchend inne. Baumlos, sagte er, unfuturistisch einsam. Nichts störte mich an der Szenerie als sein dandyhafter Sakko. Wir setzten uns auf eine Bank. Ich trommelte eine Melodie aufs Holz, er war in Gedanken weiß Gott wo. Ich trommelte weiter. Stimmt, sagte er. Schleife Schreie zu Zeilen bis in den Morgen wie ein halbirrer Juwelier. Was stimmt? fiel ich ihm ins Wort. Der Rhythmus, sagte er. Auch dieses Platzes, der ursprünglich kein Platz gewesen ist. Sondern? Synagoge plus Vorplatz, wenn Ihnen das genügt. Er hatte historische Auskünfte parat, doch darum ging es nicht. Ich suchte ihn jenseits des Zitats. Da wo er mich haben wollte.
Mit einer Runde kommen wir nicht weit.
Wie weit wollen Sie denn kommen?
Es gab drei schüttere Neuanpflanzungen auf dem Platz, den man ruhig baumlos nennen konnte: Bis zu jener Gerte und zurück.
Weil das Elend der Gegend so anrührend ist?
Ich ging zwei Schritte hinter ihm, das Karomuster seines Sakkos fing zu flimmern an, ich hob den Kopf und sah über mir einen Arm, der ein schwarzes Staubtuch ausschüttelte. Wie ein Neuanfang, skandierte ich, mit arabischen Ordnungszahlen. Wir liefen nicht um die Wette. Erstens, dachte ich, läßt die Öde dieses Platzes nur Hoffnung zu. Zweitens versteh ich mich aufs Warten. Drittens braucht jedermann einen Menschen mit klarem Kopf. Wir gingen nun auf gleicher Höhe. Überlegen Sie mal, sagte er, wer 1930 sein Gesicht verloren hat, Majakowskij oder das Heer der schreibenden Bürokraten. My goodness, sagte ich. Teures Miezilein, klingt das nicht hübsch?
Ich ergriff seinen Arm, vertrauensvoller konnte man nicht sein. Die Bürokraten, sagte ich. Etwas verbindet sie mit der Menge.
Auf dem Ghettoplatz schilderte er, wie Majakowskij mit großen Schritten (Schnitten) aus der Unliebe floh, während das „allmenschliche Dickicht zu handeln begann“. Das Hündchen in ihm sei Liljas Kreatur gewesen. Ein melancholischer Kläff. Auch das Hündchen habe sich davongemacht.
Heißen Sie Wladimir?
Wie kommen Sie drauf?
Aus Sympathie.
Das Wort fiel zufällig, mitten auf dem Platz. Über den Sand huschte der winzige Schatten eines Vogels, das Risiko des Todes, überlegte ich, fand er in jeder Frau. Es gab für ihn nicht „Verlust plus noch etwas“, sondern aus. Ex, sagte ich laut.
Natürlich drehten wir noch weitere Runden, ohne Majakowskij. Aus einem Haus kam ein Kind gerannt mit einer weißen Satinschleife im Haar, auf einem Bein hüpfte es vor uns her, eine einzige Lockerungsübung.
Klar, sagte er, Sie sehen das völlig richtig.
Mit dem Kind hätte ich gern Freundschaft geschlossen. Durch meinen Kopf schoß der Gedanke: diese kleine Anita sitzt vor einem gesprungenen Spiegel und beweint den Verlust ihres Vögelchens. Verstört blickt sie auf das zerrissene Kleid, der Spiegel hat es kaputtgemacht, auch das noch. Ein vornehmeres Haus mit ghettomäßiger Stiege.
Er heiße nicht Wladimir. Ob ich denn Anna hieße.
Wie kommen Sie drauf?
Aus Verzweiflung.
Fast hätte ich gesagt, sprechen wir vom Wetter. Seine Hand war in meiner Hand, nicht darum ging es. Er heischte. Der Zirkelschluß ist der, daß das fremde Malheur fürs eigene stehen soll. Also Anna hilf. Anna war begierig, nicht Anna zu sein.
Abgemacht? sagte ich.
Präsentieren Sie mal.
Ich ist jedesmal eine andre, Sie werden mannigfach beglückt, und das Ganze endet nicht programmatisch im Sumpf, zum ersten.
Zum zweiten? fragte er kleinlaut.
Setzt jeder die Grenzen selbst, sportlich, dieses Kind kommt auf fünfzig Sprünge im Sonntagskleid.
Ob das Hauptsachen seien. Ich verneinte. Momentbilder, wie sie uns anstehen. Das Momentane fortzu.
Ich bin für einen Kaffee, sagte er.
Eine letzte Runde noch.
Wir landeten in einer Stehbar. Ich war nicht bei der Sache, das heißt meine Gedanken bewegten sich zwischen Satin und Sakko, während er Majakowskijs Sehnsucht beschrieb: Mein teures, geliebtes und liebes Lilikind, kein einziger Brief von Dir, Du bist jetzt kein Kätzchen mehr, sondern ein krummer Kauz. Etc. Am 21. steche ich in See. Ganz dein mexikanischer Kläff.
Rührend, sagte ich. Und was hat das mit mir zu tun?
Pssst, machte er. In den Weltraum stechen!
Irre.
Ich sah durchs Fensterkaro auf ein gelbes Ghettohaus. In Wirklichkeit hörte ich auf meinen Herzschlag.
Wann bin ich dran?
Bald, teures teures Fuchskindchen.
Als wär ich in einem russischen Buch gefangen. Als könnte man Liebe mit Katzenkosenamen und ähnlichem herbeizitieren.
Der Kanal war schwarz. Die Siebenuhrdämmerung fiel als Nacht in die Gassen. Wladimir ließ nicht von mir ab. Warum sollte er.
Sie begreifen natürlich, daß man als gebildeter Mann nicht ohne Sie leben kann. Majakowskij?
Originalton, sagte er.
So haben Sie mich um den Futurismus gebracht, den Zweck meiner Reise.
Bedaure, sagte er, aber mir ist Ernst.
Ich weiß nicht, wie lange wir durch die Stadt liefen. Es war himmlisch, mit einem Hagel ordinärer Anfechtungen. Ich bin ein Krokodil. Wenn die Liebe fett wird, wird sie zur Gleichgewichtsstörung. Beängstigend, wenn zwei Liebende entscheiden müßten, ob sich die Apokalyptischen Reiter auf den Weg machen sollen oder nicht. Keine Enteignung. Die Liebe erstickt nicht in persönlichen Ambitionen, sie ist das Medium des Erstickens selbst. Ich bestimme über mein nacktes Leben. Antiliebe – der Standpunkt des Opfers (?). Als Liebesdissident bin ich ein selbstzerstörerischer Halbnarr, der andere ins Unglück stürzt. Ein paar Katzensprünge werden noch nötig sein. Keinen Bilderroman liefern, nein. Selbstverwaltung. Es gibt einen Smog der Sympathie, der jeden Klarblick (weitestgehende Skepsis) trübt. Weder draußen noch drinnen, weder hier noch dort: Niemandsland. Fehlende Solidarität macht mich zum fahrenden Ritter. Wo beginnt mein Notstand, wenn nicht hier. Ich könnte mir auch ein Weltbündnis vorstellen der beharrlichen Narren. Die Liebe zerstrahlt den gesunden Menschenverstand. Gib auf. Das Tier im Menschen nutzt jede Gelegenheit. Leb mit einem Wellensittich. Zumindest so tun, als wäre der Status quo die friedlichste aller Möglichkeiten. Würde lieber das Subjekt des eigenen Schicksals sein. Eine entschlossene Junggesellin (dreist?), was hat das mit Giftnudel zu tun. Die Liebe muß auf ihren Platz verwiesen werden. Zwei Menschen – lächerlich.
Wir saßen am Kanal und ließen die Füße ins Wasser hängen.
Ich – Kommunist und Bär, murmelte Wladimir, heute bereits durch Fehlleistungen und Übereifer desavouiert.
Macht nichts.
… Suchte die schmächtige, feingliedrige, rothaarige, großäugige Frau, um Pläne zu schmieden und zu polemisieren.
Bitte, sagte ich. Bei mir gibts Bouletten und intensive Interieurs.
Außer uns vor Leidenschaft beschlossen wir, niemals auseinanderzugehen.
Ilma Rakusa, Schreibheft, Heft 28, November 1986
HINTERLASSENE NOTIZ
Majakowski gewidmet
AM HIMMEL ZITTERT MARSEILLAISENROT
DER VERENDENDEN SONNE SCHEIN. Ja, sage ich,
Ja, da siehst du, was du angerichtet hast
Mit deinen Treppen und Gesängen: Dann das:
Brichst einfach auf von der Tafel und aus den wirren
Tänzen der Zeit (SELBST PETRUS VERSPÜRT NACH DEM
FEURIGEN TRANK LUST ZUM TANZ IN DEN ALTEN BEINEN.
Und du?).
Wo kämen wir denn hin, wenn sich jeder
Wegen einer Liebe und anderer Streite… Ich schrei
Dir ins blutende Ohr: Wir sind noch nicht fertig
Miteinander. Das geht nicht so: Knall und F
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaal
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaal
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa.
Uwe Lummitsch
Christine Gölz: Wladimir Majakowski
Fritz Mierau: Majakowski lesen
Sinn und Form, Heft 3, Mai/Juni 1978
Wladimir Majakowski – Dokumentarfilm Teil 1/2.
Wladimir Majakowski – Dokumentarfilm Teil 2/2.
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