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Literatur im Lichthof - Zoom
 
 

 


  

C. W. Bauer, getaktet in herzstärkender fremde
Innsbruck-Wien: Haymon, 2012 

© Haymon, 2011C. W. Bauer hat seinen jüngsten, bei Haymon in einer bibliophilen Ausgabe erschienenen Gedichtzyklus José Oliver gewidmet, dem Dichterkollegen aus dem Schwarzwald. Die 14 Gedichte sind eine freundliche Reverenz vor Olivers multiplen Sprachwelten, vor der Gleichzeitigkeit seiner deutsch-alemannisch-andalusischen Sprach-„Heimaten“; zugleich sind sie eine Hommage auf Olivers Heimatstadt Hausach, auf ihre Polyphonie, auf die (Rede-)Vielfalt der gesamten Region.

„Getaktet in herzstärkender fremde“  ist ein poetisches Reisebuch, der reflektierende Bericht eines „Wellenempfängers“; es handelt vom polyglotten Stimmengeflecht in den Straßen Hausachs, von der sprachlichen Vieldimensionalität einer Landschaft, vom humanen und poetischen Mehrwert einer Region, der sich aus der Synchronizität von Mundart, Standardsprache und fremden Sprachen, von aktuellen und historischen Dimensionen ergibt.

Das lyrische Ich nimmt die Landschaft als Textur wahr. Es folgt dem Fluss Kinzig sowie den in der Luft liegenden Klangspuren. Das Fahren im Zug, das Gehen durch die Straßen der Stadt werden zu Auslösern poetischer Reflexionen, das Reisen selbst wird zum kommunikativen, dynamischen Prozess, der als Sprechakt auf die „einfallenden“ Stimmen reagiert und seinerseits zur Gegenrede auffordert.

So präsentiert sich denn der Zyklus als ein Geflecht aus Einfällen, Zitaten, intertextuellen und historischen Bezügen;  Ortsnamen (hornberg triberg st. georgen) fallen ein; die Namen lokaler Größen möchten dechiffriert werden (nichts weiß ich von gerwig); schweres sonntagsgeläut in der Luft holt die ferne Kindheit herbei (zur wandlung ist der schwarzwald / gebetslang mein kindheitstirol); die alemannisch-multikulturelle Fastnacht löst Staunen aus und lässt an andersklingende Parolen zu Hause denken. Alemannisch Deutsch Latein – die Verse werden polyglott und gutverständlich. Der Schwarzwald weckt im lyrischen Ich Assoziationen zu Diana und Actaeon; diese wiederum wecken (auf der Rezipientenseite) Erinnerungen an Ovid, aber auch an Thomas Klings „Actaeon“-Zyklus und seine „Erprobung herzstärkender Mittel“. Bauers Gedichtzyklus respondiert auf viele poetische Stimmen, die kunstvolle Dichte, der intertextuellen Bezüge gehört zum Charakteristikum Bauerscher Texte. Von José Oliver springen die Gedanken zu Martial, dem römischen Dichter mit den spanischen Wurzeln: So wie dessen Geburtsstadt in späteren Zeiten eine maurische Festung wurde, könnten doch auch unter der Burg Husen, dem Wahrzeichen der Stadt Hausach, maurische Fundamente liegen. Die Logik der Einfälle ähnelt der Logik der Schwarzwälder Fastnacht, führt sich närrisch auf, integrierend, nach inneren Rhythmen getaktet.

Die Verse spiegeln die bereiste Landschaft wider; sie zeichnen sie als Klangfeld teils konvergierender, teils konkurrierender Stimmen; sie würdigen vor allem den epistemologischen Wert einer polyphonen, hochkomplex gewordenen Welt. Sie zeichnen ein herzerwärmendes Bild der Stadt Hausach im Schwarzwald, ihrer weltoffenen Provinzialität, ihrer Qualität als provincia universalis, die ihren mehrstimmigen Bewohnern ein Zuhause geworden ist (über fünfzig nationalitäten seien hier / zuhause höre ich sagen / aneinander gewachsen in jahrzehnten);  im Spiegelbild seiner Stadt entsteht das Porträt des Hausacher Dichters Josè Oliver, eines heimatverbundenen Weltenbummlers, der zum (geheimen) Wahrzeichen dieser Stadt geworden ist.

Bauers jüngstes Gedichtbuch setzt die Reihe seiner zyklischen Kompositionen fort; er bestätigt die in der deutschsprachigen Lyrikproduktion seit den 90er Jahren zu beobachtende Tendenz zu zyklischen Konstellationen, die die poetische Sprache selbst, die Möglichkeiten poetischen Sprechens reflektieren. Auch Bauers lyrisches Ich fragt nach der „Heimat“ des poetischen Worts und findet sie in der Mehrzahl (heimat / will nicht länger verseuchtes wort sein / und ist nur in der mehrzahl denkbar), in einer „herzstärkenden“, weil polyphonen Fremde. Die Lektüre ist anspruchsvoll und leicht zugleich: anspruchsvoll ist sie, wenn man den vielen Anspielungen und Wissensspuren folgen möchte und in die eigenen Wissenslücken tappt; leicht ist sie, weil die Gedichte immer die Leichtigkeit eines freundlichen Lobs beibehalten. Sie sind Bauers poetisches Trinklied auf eine Stadt und auf einen Dichterfreund, auf den compan͂ero de viaje josé oliver.

Eleonore De Felip 

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Roberta Dapunt, Nauz. Gedichte und Bilder
Bozen Wien: Folio Verlag 2012

© Folio, 2012Roberta Dapunts erste ladinische Lyrikveröffentlichung mit deutscher Übersetzung (auf Italienisch sind bereits mehrere Lyrikbände erschienen) richtet das Augenmerk auf den Vorgang des Schlachtens, und zwar in seiner ursprünglichen Form, also auf einem Bauernhof. Nachdenklichkeit, doch auch das Bewusstsein vom Nutzen, der aus der Tötung des Tieres, in unserem Fall eines Schweines, entsteht, durchziehen den kleinen Band. In den Blick genommen wird „die hiesige Wahrheit, die der Nase für wenige Minuten im Jahr den Geruch eines entlassenen Herzens gewährt. Üppig gedeckt ist unsere Tafel, wiederkäuen werden wir das unbestattete Tier.“ (S. 6)

Während die abgebildeten schwarz-weiß-Fotografien die reine Schlachtung und anschließende Fleisch-Verarbeitung dokumentieren, betten die Texte den Vorgang in eine Umgebung, örtlich wie kulturell. Die 30 Bilder illustrieren nicht, sie geben den 18 zum Teil sehr kurzen lyrischen Texten erst die Kontur. Sie proklamieren deutlich, was sprachlich zwar nicht evident gemacht wird, worauf die Texte offenbar aber doch auch abzielen: die Notwendigkeit des klaren Blicks auf das Geschehen – ein Blick, der trotz der Alltäglichkeit des Schlachtens vom Menschen immer wieder aufs Neue geleistet werden muss. Töten und dabei wegschauen, so scheint die Autorin sagen zu wollen, ist nicht fair. Die Aufmerksamkeit, die hier dem Vorgang geschenkt wird, könnte als eine Art Dank-Geschenk an das durch und für den Menschen zu Fall gebrachte Tier gedeutet werden. Obwohl die bildlichen Darstellungen den einen oder anderen Betrachter grausam erscheinen mögen, ist es aus meiner Sicht gerade dieser klar eingenommene Standpunkt, der das Buch zu einer überzeugenden Auseinandersetzung mit einem wesentlichen Teil des traditionellen bäuerlichen Lebens, der Tierschlachtung, macht. Die dabei verwendeten Stilmittel könnten schlichter nicht sein, auf Dramatik wird verzichtet.

Fotografie aus dem Band Nauz, S. 60, © Folio, 2012   Die Umgebung, skizziert durch die Texte, ist konkret festzumachen: Das Dorf Abtei, ein Bauernhof, der Stall, der Hof vor dem Stall als Schlachtort, die Küche, das Haus. Dann die umgebende Natur, vor allem das Wetter: die winterliche Jahreszeit, in der auf den Höfen geschlachtet wird, der Schnee, die Kälte. Das Bild des Blutes auf dem Schnee ein wieder kehrendes archaisches Bild, Blut auf Schnee, frischer Schnee auf Blut. Die Zugaben: Schüssel, Trog, Haken, Spreu, aber auch die durch das Haus wehenden Essensgerüche, der Duft von Fett, von Kräutern. Die Wahrnehmung dieser Umgebung ist angenehm frei von Romantisierung, es wird gesagt und gezeigt, wie es ist. Ähnlich die Menschen, alle nur angedeutet: ein gewisser Lois, vielleicht der Bauer, eine Nachbarin, die beobachtende Frau, die Arbeit der Menschen, die alltäglichen Verrichtungen, die Mühen und nicht zuletzt auch die Ausbeutung. Eine wichtige Rolle spielt auch die Ausübung der Religion, die Feste und kirchlichen Rituale sind Bezugspunkte. Den menschlichen Sinnen, allem voran der Geruchsinn, kommt Bedeutung zu, man spürt auch als Leser die Kälte draußen, man nimmt den Dampf der Küchen und  die durchs Haus wehenden Düfte wahr. All das wird nicht gerade auf nüchterne Weise, doch jedenfalls wie beiläufig aufgegriffen.

Trotz ihrer Schlichtheit ist die Sprache nicht unpoetisch, die Autorin findet zahlreiche eindrückliche Bilder und sie schafft Atmosphäre. Hier kommt die Zweisprachigkeit des Bändchens ins Spiel. Die ladinischen Originaltexte Dapunts wurden von Alma Vallazza ins Deutsche übertragen. Die Übersetzungen scheinen im Großen und Ganzen gelungen zu sein, doch ist es sehr wahrscheinlich, dass die Texte im Original (bei jenen Leserinnen und Lesern, die des Ladinischen mächtig sind) eine wesentlich stärkere Wirkung zu erzeugen vermögen. Allein der Klang des Ladinischen passt wohl besser zur Ursprünglichkeit der hier geschilderten Welt als das hochsprachlich Deutsche.

Das einzige Foto, das nicht direkt die Schlachtung betrifft, ist die Darstellung von Jesus am Kreuz (S. 21), und das ist wohl gewiss kein Zufall. Die Beobachtungen und Reflexionen des lyrischen Ichs stehen in Zusammenhang mit einem religiösen Denken und Empfinden, die Zwiesprache mit Gott ist der durchgehende Bezugsrahmen, das Gebet die vorgegebene Form des Sprechens mit dem Göttlichen. In diesem Sinn könnten einige der Gedichte ganz direkt als Gebete bezeichnet werden, auch dann, wenn es heißt „kein Gebet“: „Und du, Beharrlicher, suchst für mich nach einer Sprache zum Beten, / wo ich doch frei bin von jeder Vertraulichkeit. / Für mich bleibst du eine Nebelbank hoch oben / in einem Himmel, der mehr ist als sein strahlendes Blau.“  (S. 56)

Vom „Kreislauf der Natur“ ist im Klappentext die Rede: Das Schlachten und Verwerten eines Schweines wird nicht in Frage gestellt, doch der Zugang ist gekennzeichnet durch eine besondere Achtung für das Tier. Trotzdem wird der Vorgang nicht als ein „völlig natürlicher“ legitimiert. Bei Roberta Dapunt wird die Gewaltsamkeit des jährlichen Tötungsrituals, gewissermaßen die Herrschaft des Menschen über das Tier, keineswegs verschleiert, sie wird sogar betont – gerade eben durch die bildliche Dokumentation vom Moment des Tötens bis hin zum Daliegen eines Haufens von dampfenden (also noch warmen) Fleisches. Doch über all dem scheint Jesus zu wachen, Jesus im Himmel, Jesus am Kreuz. Kann sein, dass es die Religiosität des lyrischen Ichs/der Autorin ist, die Mensch und Tier letztlich nicht als Gegner begreifen, die die Täter und das Opfer zusammen rücken lässt.

Erika Wimmer 

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Markus Köhle, Hanno Brennt
Wien: Milena, 2012

Pop + Politik = Popolitik. Oder: We don’t need no water

© Milena, 2012

Wer wie Hanno und dessen bester Freund Karl sowie Köhle selbst gern den Wissensüberschuss der Netzwelt zurate zieht, erfährt schnell, dass Kunst für Markus Köhle das Leben ist. Köhle, so die intellektuelle Community, sei scharfzüngig, brutal genau und nehme kein Blatt vor den Mund; man lobt seinen Charme, Humor und Einfallsreichtum und hat manchmal sogar Lachtränen in den Augen, auch wenn der Spannungsbogen in seinem neuen Roman irgendwie mangelhaft aufgezogen sei. Wobei über besagten Bogen Uneinigkeit herrscht – so heißt es denn andernorts, die überraschende Wendung am Schluss des Buches komme wie ein Donnerschlag.

Hier ließe sich fragen, ob damit der Bogen nicht etwas überspannt sei. Blitzartig kommt das Ende vielleicht, aber auch nur dann, wenn man den Donner in Form von Klappentext, Titel und Umschlagdesign völlig ignoriert und gezielt an den vorausweisenden Passagen sowie dem vorangestellten Inhaltsverzeichnis vorbeiliest. Um Ihnen diese umständliche Arbeit zu ersparen, ein paar Worte zur Handlung: Hanno, der harmloseste Privatmensch, den man sich vorstellen kann, wird zum Opfer der staatlichen Überwachung und Untersuchungshäftling nach Paragraph 278a StGB, den der brutal genaue Autor zur Gänze im Text abdruckt, um auch jene, die nicht nur an Klappentexten und Inhaltsverzeichnissen, sondern auch an journalistischen Erzeugnissen keine Freude finden und so noch nie von irgendwelchen Tierschützerprozessen gehört haben, die Scheuklappen herunterzureißen und sie schonungslos mit der Realität zu konfrontieren.

Wenn man nun von der Köhle’schen Gleichsetzung von Kunst und Leben weiß, wäre es unanständig, zu leugnen, dass man instinktiv versucht ist, die Verwandtschaft des titelgebenden Hanno mit dem Autor (Wohnort, ungefähres Alter, prekäre Lebenserwerbssituation) ernster zu nehmen als die literaturwissenschaftlichen Vorbehalte es zulassen. Das wäre aber allein schon deshalb unangebracht, weil ja die Differenzen nicht weniger interessant sind: Hannos Schwachstelle bei Trivial Pursuit sind die pinken Fragen, während dem Autor in puncto Unterhaltung ja Spezialistentum bescheinigt wird. Solche Charakterisierungsstrategien gehören zweifellos zu den Stärken des Romans. Dass Hanno weiche Hände hat – also nicht zu den Aktiven gehört, die sich die Hände schmutzig oder schwielig machen würden – stellt wenig später Annabell (genannt Nabel) Schnurr fest. Hannos Weg führt also von der Nabelschau und den weichen Händen über die Nabelschnurr hinaus in die Welt. Oder vielmehr umgekehrt, denn das Politische scheint die Figuren des Romans in erster Linie dann zu interessieren, wenn es sie entweder höchstpersönlich hinter Gitter bringt, oder wenn es sich in ein Kunstprojekt und damit in symbolisches und ökonomisches Kapital überführen lässt.

Ansonsten geht es den Figuren primär um Sex und Bier, gefüllte Kühlschränke und die Frage der Aneignung all dessen. Und immer wieder um Sprache, wobei selbstredend Kombinationen möglich sind. Während sich allerdings die anderthalb Seiten über die Härte-, Prallheits- und Pulsieranforderungen an Penisse, respektive Schwänze, gefolgt von anderthalb Seiten über die Möse, respektive Scheide oder Vagina, durchaus genderrelevant geben und in ihrer quantitativen Äquivalenz immerhin der Forderung nach Gleichberechtigung Rechnung tragen, sind das so bezeichnete „Kotsprech“ und die „Tierfäkalpornografie“ selbst in lyrischer Form überflüssig. Hier zeigen sich deutlich die Schwachstellen des Poetry-Slang in Form von einseitiger Ausrichtung auf die pinke Trivial-Pursuit-Kategorie und wecken den Wunsch, der Autor möge manchmal vielleicht doch ein Blatt vor den Mund nehmen.

Dabei lassen sich unter all den Assonanzen, Reimen und Kalauern, die Köhles losgelassene Formulierungskraft produziert, doch auch regelmäßig – auch wohltätig kann sie sein – Komposita und Metaphern entdecken, die, gepaart mit wikipedophilem Fachwortschatz, die Sprache als Kuriosum und die tragikomische Absurdität menschlicher Kommunikation zur Schau stellen. Dem unbeschwerten Nebeneinander Köhle’schen Stils und Köhle’scher Stillosigkeit ist es zu verdanken, dass wir dem Grazilen Afrikanischen Leuchtaugenfisch und Hannos Sehnsucht quasi in ihrem natürlichen sprachlichen Umfeld Seite an Seite bei der Nahrungssuche zusehen dürfen. Das funktioniert jedenfalls besser als die gut gemeinte Katerstimmung im achthebigen Trochäus und lässt manchmal selbst bei reservierten Kritikastern so etwas wie das Gefühl aufkommen, das Hanno gegenüber dem dauergeilen und künstlerisch wie politisch so aktiven Ziel seines Begehrens, Nabel, signalisiert:

Mitplanschwilligkeit.

Gerhard Scholz

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Christian Kössler, Unheimliches Tirol. 17 Geister- und Teufelssagen aus Nord-, Ost- und Südtirol
Zirl: Edition BAES, 2011 

© Edition BAES, 2012Der Autor Christian Kössler hat in seinem Vorwort vollkommen Recht: Die Regale in Buchhandlungen und Bibliotheken sind randvoll mit diversen Sagensammlungen. Sind aber diese Überlieferungen immer noch populär, erreichen sie einen großen Leserkreis? Wahr ist wohl vielmehr, dass es relativ einfach, ist regionale Sagentexte herauszugeben. Die Ausnahme sind wissenschaftliche Editionen, die einen ausführlichen Anmerkungsapparat aufweisen und auch den sozialgeschichtlichen Kontext kommentieren. Christian Kössler verarbeitet seine Sagen in literarischer Manier und orientiert sich primär nicht an den Editionen der sogenannten Modernen Sagen, deren Boom mit R.W. Brednichs Sammlung „Die Spinne in der Yucca-Palme“ in den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts einsetzte. Eine spannende Herausforderung für den Autor, den man sicherlich als Kenner der alpinen Sagenlandschaft ansehen kann. Dies beweisen nicht zuletzt die Quellenangaben früherer Aufzeichnungen am Ende der jeweiligen Erzählung. Stilistisch orientiert sich Kössler zum Teil an den romantisch-pathetischen Bearbeitungen früher Sagensammlungen. Das ist manchmal etwas zu viel des Guten, wenn es heißt „Dichter Nebel lag über dem Seefelder Plateau“ (Die Totenrache) oder „...nasskalter Schleier breitete sich vom Arlberg her langsam über das Oberland aus, riesige Wolken senkten sich auf die graugrünen Anhöhen nördlich des Inns“ (Der Pakt). Doch zugegebenermaßen sind gerade diese mystisch-angehauchten Stimmungsbilder bezeichnend für derartige Überlieferungen. Kössler bedient sich ansonsten einer flotten Darstellungsweise, zeitgemäß ohne allzu flapsig zu werden oder den Alltagsjargon zu überzeichnen. Eben eine Form der Sagenerzählung bzw. Interpretation, die gerade jugendliche Leser ansprechen sollte. Seine Auswahl an Text“vorlagen“ entspricht dabei der Vielfalt der Sagenlandschaft.  Und er versteht es, den unheimlichen Ton einer Sage auch dann zu treffen, wenn Handys klingeln oder „Dutzende Staukilometer...“ (Der Pestreiter) den Ausgangspunkt der Erzählung bilden. Dramatische Momente machen so manche der Erzählungen von Kössler aus – spannungsgeladen bis zum Schluss. Bestes Beispiel hierfür „Das Kartenspiel“: Ein zunächst Rettung bietendes Sms erweist sich als eine nur kurzfristige Befreiung aus den Klauen des Teufels – kein Happy End, wie man es von Märchen kennt. Gerade solche unerwartete Momente machen den Charme dieser Sammlung aus; und man sieht, dass derartige Geschichten immer noch berühren können. Das Unheimliche, merkwürdige Begebenheiten, rational nicht Fassbares, sie werden nie an Attraktivität verlieren – und damit sind auch phantastischen Überzeichnungen kaum Grenzen gesetzt. Bei einigen der Bearbeitungen von Kössler hat man das Gefühl – mein Gott – das habe ich auch schon gehört. Vielleicht auch ein Hinweis, dass allen Unkenrufen zum Trotz das Erzählen noch durchaus lebendig ist. „Lebendig“ und kurzweilig sind die Erzählungen des Autors allemal – zudem zeichnet er sich auch durch ein Wissen an geographischen Gegebenheiten und historischen Hintergrundgeschichte(n) aus. Und gerade diese Kombination macht in diesen Texten des Pudels Kern aus – nicht in Anlehnung an Goethes Faust, sondern entsprechend der langläufigen Meinung, dass in jeder Sage auch ein wahrer Kern steckt.

Petra Streng

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Ulrich Ladurner, Südtiroler Zeitreisen. Erzählungen
Innsbruck-Wien: Haymon tb 101, 2012 

© Haymon tb 101, 2012Ein Buch über Südtirol, das von allen älteren Büchern über dieses Land recht selbstbewusst sich abheben möchte. Wenn Ulrich Ladurner über seine Heimat schreibt, dann hat er nämlich, anders als alle Autorinnen und Autoren vor ihm, gleichzeitig die ganze Welt im Blick; und schon im Vorwort gibt er darüber Auskunft, was ihm in Südtirol wie nirgends sonst endlich klar geworden ist: „die Welt ist groß, sehr groß.“
Acht Geschichten aus der Geschichte Südtirols, acht so genannte Zeitreisen unterstreichen diese Einsicht, dass sich zwischen Toblach und Kaltern „alles Wesentliche abspielt“, dass in diesem Kerngebiet die ganze Welt sich spiegelt.  Ladurners Reisen führen also von Toblach (1905) über Graun (1949), Kiens (1965), Meran (1985), Bozen (2010), Brenner (2015) und Martell (2020) bis nach Kaltern (2025)  – und sie führen (in ihrem Selbstverständnis) vor, welche Faktoren das „Modell“ Südtirol geprägt, recht eigentlich dieses einmalige Erfolgsmodell der europäischen Minderheitenpolitik ermöglicht haben.
Neues erfährt indessen bestenfalls, wer über Südtirol nichts weiß; und verlassen darf man sich dann lediglich auf eins: dass es in den Rückblenden wie in den Zukunftsvisionen nur so wimmelt von Klischees.
Zum Beispiel Kiens, 1965. Zeit der Anschläge auf Carabinieri-Posten. Der Maresciallo spielt eine zentrale Rolle; einer, der nicht gerne über Politik redet. „Davon verstand er wenig und sie interessierte ihn auch nicht. Er war ein Carabiniere. Er erhielt Befehle und führte sie aus, wo immer, wann immer und unter welchen Bedingungen auch immer. Er musste darauf achten, dass die Gesetze eingehalten wurden. Das war keine leichte Aufgabe, nicht im Alto Adige, nicht in Chienes.“
Zum Beispiel Kaltern, 2025. In dieser Gemeinde spielt noch immer der Wein die Hauptrolle; nach wie vor geben sich „der Klerus und sein Klüngel alles andere als enthaltsam“. Aber sonst hat sich doch einiges geändert: Vom nahe gelegenen Flughafen in Bozen kommt man direkt nach Berlin und nach Paris, mit einem einzigen Zwischenstopp sogar schon nach New York. Parallel zum Flugverkehr ist auch die Zahl der Bio-Bauern angestiegen; und nicht nur der Klimawandel macht sich längst bemerkbar, sondern auch ein Wandel in den sozialen Milieus. Eine neue Angst geht um. „Heute war es nicht mehr der Walsche, der den Menschen Sorge machte. Der war längst zum Freund geworden. Vielmehr noch: Man hatte sich verbündet, gegen einen neuen, gemeinsamen Feind – die Moslems, die Araber, die Kopftuchträger. Oder wie auch immer man diese Leute nennen mochte, die aus aller Herren Länder kamen [...].“
Es ist kein vielschichtiges, es ist ein schnell und achtlos hingeworfenes Bild des Lebens in Südtirol, das Ladurner hier vermittelt. Der ZEIT-Journalist hat wenig Zeit und verliert keine Zeit mehr damit, seine Formulierungen zu prüfen, sie z. B. auch aufeinander abzustimmen („in“ und „im“ Alto Adige, beides findet demnach nebeneinander Platz) oder das Tempus/Modus-System des Deutschen zu respektieren (insbesondere das Plusquamperfekt immer richtig einzusetzen). Ebenso wenig  bekümmert ihn, verschiedene Positionen, unterschiedliche Perspektiven auf die Geschichte nebeneinander festzuhalten oder gar einfach einmal stehen zu lassen. Sein auktorialer Erzähler, ein Relikt aus der Unterhaltungsliteratur des 19. Jahrhunderts,  hat immer Recht: er weiß genau, was in den Figuren vorgeht, was sie denken, was sie träumen, woher sie ihre Sorgen und auch ihre Kraft beziehen, immer steht er hoch über allen, souverän vor allem über den so genannten einfachen Menschen, die kaum einmal verstehen, was in ihrem Umfeld, was in der Region und in der Welt sich zuträgt. Ihm dagegen bleibt nichts verborgen. „Italien träumte einen unschuldigen Traum vom Wohlstand und befand sich plötzlich mittendrin im Aufruhr.“
Eine trübe Sicht auf die große Welt in Südtirol. Schlicht wie die Figurenzeichnung, methodisch naiv (um es vornehm auszudrücken) und schlicht wirkt denn auch die Konstruktion des sozialen Bezugsrahmens, in dem das kulturelle Gedächtnis sich entfalten sollte.
Keine einzige Quellenangabe. Kein Literaturverzeichnis. – Jeder weitere Kommentar erübrigt sich.

Johann Holzner

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Kurt Lanthaler, Goldfishs reisen um die halbe Welt. Gedichte
Innsbruck-Wien: Haymon, 2012

Mit dem Goldfish durch schillerndes Wortgewässer

© Haymon, 2012Seinen aktuellen Lyrikband verdankt Kurt Lanthaler einem befreundeten Künstler. Tomaso Boniolo, so erfährt man im Nachwort des Bandes, reiste mit einem Goldfisch im Gepäck mit der Transsibirischen Eisenbahn an den Baikalsee. An die Glaskugel, in der sich der Goldfisch befand, brachte der Künstler einen Bleistift an und hängte sie ins Gepäcksnetz. Darunter legte er Papier und durch das Wackeln des Zuges entstanden Bleistiftskizzen. Kurt Lanthaler ging der reisende und zeichnende Goldfisch nicht mehr aus dem Kopf und während eines langen Winters formte sich dieses Bild zu Reimen und der Goldfish als literarische Figur ward geboren. Im nun vorliegenden Band sind 55 Reisen des Goldfishs auf seinem Weg „um die halbe Welt“ versammelt. Der Vorsatz zum Band lautet „Uebungen in tonaler Atemkontrolle“, womit nicht nur auf die zumeist gleich bleibende Form der Gedichte, was Reimschema und Versmaß betrifft angespielt wird, sondern auch auf die komplexe Unterwasseratmung von Buckelwalen, der seine Nahrung durch Blasen aufnimmt. Lanthalers Goldfish scheint sich dem Gemüt des Buckelwals nahe zu fühlen, heißt es doch in einer Art Kehrreim in einigen Gedichten: „Goldfish schwamm durch den ural / Goldfish war sich buckelwal.“ Der Volksmund sagt über den Goldfish, er habe eine Gedächtnisspanne von genau drei Sekunden. Kaum hat er seine kugelförmige Behausung einmal umrundet, hat er auch schon wieder vergessen, dass seine Welt nicht mehr ist als ein Goldfischglas. Neuen Erkenntnissen zufolge tut man dem Goldfisch mit dieser These allerdings unrecht. Mindestens drei Monate, so fand man heraus, kann ein Goldfischgedächtnis reichen. Lanthalers Goldfish zeigt zumindest 19 Reisen lang keine Anzeichen eines geistigen Verfalls, ab der „zawaventesigsten“ Reise zeigt er aber Verhaltensauffälligkeiten. Da schleicht sich das italienische „venti“ in das deutsche „zwanzig“ hinein und der Goldfish reist auf Italienisch (mit Verweis auf die deutsche Übersetzung im Anhang des Buches). Ab der „einunzawanzigsten“ Reise lernt man die Berliner Schnauze des Goldfishs kennen, die Lanthaler, der schon seit einigen Jahren die meiste Zeit des Jahres in Berlin lebt, mittlerweile gut bekannt sein dürfte. Dem geschäftstüchtigen Goldfish mit Ideen zur Selbstvermarktung begegnet man in der „neureichsten“ Reise (S. 45):

Goldfishs neureichste Reise um die halbe Welt

Golfdish sachte : hoernSe mal
Das waer doch eine sache

wenn ich, was unueblich is
mich blatt vergolden machte

Son leiser auftrag, hauch
duenn gepinselt auf mein bauch
Es waer ein ueberzuch, partu
mit dem waer ich auf du und du
und ich waer gold und blatt
und platt noch lang nich

Sowas, sacht goldfish
Das: waer ein gedicht

Im Großen und Ganzen ist der Goldfish ein feiner, kluger Zeitgenosse, der weiß, dass nicht alles Gold ist, was glänzt. Auf seinen Reisen reimt er sich allerlei Philosophisches über das Unterwegssein, die Liebe und das Leben zusammen. Bisweilen wird er sogar gesellschaftskritisch und nachdenklich, was im nächsten Moment aber auch schon wieder ironisch gebrochen wird.
Einige Gedichte in diesem Band wurden wohl schnell aus dem Ärmel des Dichters geschüttelt, zusammengereimt zum Zeitvertreib, lyrische Fingerübungen an Schlechtwettertagen. Ihr fröhliches Parlando unterhält in erster Linie; wurden die Gedichte doch auch, wie Lanthaler im Nachwort schreibt, zum Teil als Verschenkgedichte konzipiert.
Reizvoll an der Goldfish-Lyrik ist das sprachliche Spiel: Solange Form und Reimschema stimmen, ist alles erlaubt: Die Wörter verschieben sich phonetisch, ziehen sich zusammen, Wortneuschöpfungen werden kreiert. Es eröffnet sich einem eine riesige Spielwiese, ein farbenfrohes Wortgewässer, aus dem man schöpfen kann. Somit eignen sich diese Gedichte, wie im Nachwort nachzulesen ist, für Experimente verschiedenster Art: Die Goldfish-Lyrik wurde bereits von verschiedenen KünstlerInnen in „halbanderes transformiert“ (S.61). Die Texte wurden vertont, in Klangdateien verwandelt, in Partikel zerlegt auf kleine Karten geschrieben und zu einem Neutext zusammengelegt. Man darf also gespannt sein, an welchem Ort der Goldfish als nächstes auftaucht.

Gabriele Wild

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Otto Licha, Kripp
Innsbruck: Limbus, 2012

© Limbus, 2012„Auf dem Stein unterhalb des Kreuzes sitze ich, um zu denken, um mich zu erinnern, Geheimnisse aus alter Zeit hervorzukramen, die mir scheinbar ohne Grund entfallen sind.“ Die Erinnerungen Otto Lichas, die die Grenze zwischen Realität und Fiktion durchlässig erscheinen lassen, sind von einem doppelten Rahmen zusammengehalten: der Besteigung seines Hausbergs, von dem aus sich ein wunderbarer Blick auf Innsbruck eröffnet, und dem gemeinsamen Abendmahl mit vier Freunden. Was sie in ihrer Jugend zusammengebracht hatte, war die MK, die „Marianische Kongregation“, ein Jugendzentrum. Der doppelte Rahmen wird gespiegelt von einer doppelten Anrede des Ich-Erzählers an ein „Du“: Dadurch erhält der Roman den intimen Charakter eines Tagebuchs oder Briefes.

In den 1960er und 70er Jahren war der Katholizismus auch in Österreich zu einer Kraft geworden, die ein revolutionäres Potenzial in sich nicht länger leugnen wollte. Engagement, Kritik, Selbstständigkeit waren durchaus vereinbar mit einer Kirchenführung, die im II. Vatikanischen Konzil die Öffnung zur Welt propagiert hatte. Um sich dies zu vergegenwärtigen, braucht der Autor/Protagonist den distanzierten Blick von oben. Die Vogelperspektive ist zugleich eine Metapher für die weite Strecke zurück in Lichas Vergangenheit.

„Wer einen Traum antritt, weiß nie, wie er endet, was dabei herausspringt. Er nimmt den Traum in beide Hände und lässt sich von ihm ziehen. Nicht, dass er keinen Plan hätte, die Richtung bestimmend, aber der Plan ist nicht das Ziel, denn dieses torkelt vor ihm her und zieht, einmal hierhin, einmal da.“ Pater Kripp war Jesuit, einer, der sich für die Anliegen der Jugend engagierte. 1959 übernimmt er das Innsbrucker Jugendzentrum und baut es im Lauf der Jahre zum größten in Europa aus. Sein unorthodoxer Ansatz bringt ihn jedoch in Konflikt mit den Kirchenoberen, bis er 1973 abgesetzt wird und nach seinem Ausschluss aus dem Orden 1984 sein Betätigungsfeld nach Nicaragua verlegt. „Engagement“ ist sowohl für Kripp wie für den Protagonisten des Romans ein zentraler Begriff. Der Jesuit wird für viele Jugendliche zu einem Erzieher der besonderen Art. Er „wurde anders durch uns, die Erzogenen, die Gezogenen, die Gemaßregelten, die in die Schranken Gewiesenen. Er ließ von den Normen ab, schob sie beiseite und warf sie in den historischen Abgrund. Der Kripp ließ sich durch uns, die dummen Spät- und Neugeborenen, umerziehen, weil er erkannte, dass man Erfahrungslose ausreden lassen muss, damit ein neuer Gedanke, eine neue Dimension Besitz ergreift von der Weltgeschichte.“ Wesentlich für den Erzähler ist es, seine eigene Geschichte als untrennbar verknüpft mit jener der MK zu erzählen, eine Jugend im katholisch geprägten Tirol. Kripp war für den Erzähler ein Ermöglicher, jemand, der gewähren ließ und Vertrauen hatte in jugendliche Ideen, und die MK war der Ort dafür. „Der Kripp! Er unterstützte alles vom Basketball bis zum Film, vom Literaturkreis bis zum Theater. (…) Solange sich etwas der Allgemeinheit unterordnete und ihm schien, es würde derselben gut tun, förderte er die Beschäftigung damit, ohne sich um die genauen Inhalte zu kümmern.“

Vorherrschende Grundstimmung ist Melancholie. Im Ton des Abschiednehmens gießt ein Autor seine Lebenserinnerungen in ein Gedächtnisbuch mit dem Ernst der Verantwortung für die nächste Generation, mit einer durchaus frohen Botschaft, die in erzählerische Episoden transformiert ist. Immer wieder werden die berührenden Erinnerungen unterbrochen von mantraartigen, leitmotivischen Wiederholungen, die beruhigen, gleichzeitig intensivieren und dabei litaneihaft wie ein Rosenkranz klingen. Bei all dem geht es gar nicht so sehr um Kripp selbst, sondern um die Erlebnisse des Erzählers, und wie Kripp mit seiner Maxime: Phantasie und Engagement sein Leben beeinflusste.

Exemplifiziert an der Biografie des Ich-Erzählers, wird der immense Einfluss des Katholizismus auf sämtliche Lebensbereiche deutlich, aber auch der Versuch, sich aus dieser Umklammerung zu lösen. „Links, rechts, Mitte: alles gab es in der MK. Es wurde keine Richtlinie des Guten ausgegeben, nur nachdenken sollte man.“ Allerdings war dieser Geschichte ebenso wie „dem Kripp“ das Scheitern eingeschrieben: „Was ein echter Tiroler ist, lässt sich jedoch nur schwer aus der Vergangenheit, also aus der Geschichte ableiten; nur aus dem Berg und aus der Sehnsucht, den Horizont endlich konvex zu begreifen wie einer, der sein Leben lang über das Meer blickt. Mein Berg aber ist inzwischen auch schon zur Gewohnheit geworden. “ Zum Schluss hält der Erzähler in einem Brief an seinen Sohn ein Plädoyer für Engagement und die heutige Jugend, die gegenwärtige technische Möglichkeiten wie social networks effizient nutzen soll, um den Weltfrieden zu fördern, soziale Ungerechtigkeit anzuprangern und die Mächtigen in die Schranken zu weisen. „Kripp“ ist eine Hommage an den großen Unsichtbaren des Romans, der aus dem Hintergrund die Fäden zog, indem er sie nicht zog.

Florian Braitenthaller

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Selma Mahlknecht, Vom großen Ganzen
Innsbruck: Edition Laurin, 2012 

Das große Ganze in Mutters Marmelade
Selma Mahlknecht s Erzählband „Vom großen Ganzen“ nähert sich den existenziellen Fragen auf märchenhafte, zuweilen allzu rührselige Weise
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© Edition Laurin, 2012Über einen Erzählband ein Urteil zu fällen, ist meist nicht ganz einfach, weil man nur schwerlich allen einzelnen Erzählungen des Bandes gerecht werden kann. Selma Mahlknechts Erzählband Vom großen Ganzen ist da keine Ausnahme. Die sieben Geschichten, von denen drei sehr lang und die restlichen vier unverhältnismäßig kurz ausfallen, sind von unterschiedlicher Qualität, nicht alle überzeugen inhaltlich, vor allem die Auflösung der durchaus originellen Situationen, die Mahlknecht erfindet, wirken gelegentlich banal und unpassend.
Vom großen Ganzen, in der edition laurin erschienen, versammelt Geschichten, die um so große Fragen wie jene der menschlichen Existenz, um den Sinn des Lebens und den Tod kreisen – eben um „das große Ganze“. Ihre Hauptfiguren sind entweder junge Menschen, die sich noch nicht in ein Leben gefunden haben und deren Gedanken um eine Zukunft kreisen, die manchmal nicht zuletzt aufgrund äußerer Umstände höchst ungewiss erscheint, oder alte, die am Ende ihres Weges auf ihr Leben zurückblicken – ein wenig unglücklich, teilweise auch resigniert sich gedanklich mit dem Tod beschäftigen. So richtig im Leben stehen Mahlknechts Figuren dagegen nie, ihre Position ist eher die am Rand, von Beobachtern.
Eröffnet wird der Band von jener Erzählung, die titelgebend wirkt und mit Abstand die längste des gesamten Bandes darstellt, sie umfasst rund ein Drittel der insgesamt 150 Seiten. Ein pubertierendes Mädchen, das sich durchs Leben schnorrt anstatt zur Schule zu gehen oder zu arbeiten, erzählt von ihrem Leben im Dorf, von einer Bekanntschaft mit einem Obdachlosen, einem Ausflug in die Disko samt anschließendem Autounfall, der jedoch glimpflich ausgeht. Über allem schwebt die Frage, die sich das junge Mädchen im Innersten immer wieder stellt, nämlich was „das große Ganze“ ist. Die Antwort, die sie am Ende auf diese höchstkomplexe Frage nach dem Sinn des Lebens findet, ist mehr als simpel: „Und vielleicht, vielleicht ist das das große Ganze: Dass alles noch einmal gut gegangen ist und diese Einfachheit und dieser Frieden und Mutters Marmelade …“ – Man könnte nun sagen, diese banale Antwort sei noch dem Alter der erzählenden Figur geschuldet. Doch scheint das flach-rührselige Ende der ersten Geschichte bezeichnend für den gesamten Erzählband. Der Ton von Mahlknechts Erzählungen ist stets ein versöhnlicher, die großen Fragen, die aufgeworfen werden, lösen sich auf in (allzu) gefällige, naiv-simple und zuweilen geradezu kitschige Antworten; höchst traurige, dramatische Ereignisse lassen die Figuren nie völlig verzweifelt zurück, immer findet sich am Ende ein Hoffnungsschimmer, an dem sich Mahlknechts Figuren – und die Leser – aufrichten können.
Es hat etwas Erfrischendes, wenn nicht alles immer düster enden muss und unversöhnlich nebeneinandersteht. Allzu gewollte, herbeigezauberte Happy Ends bergen allerdings schnell die Gefahr, zu flach zu werden und ins Banale abzugleiten. Das passiert etwa in der letzten Geschichte, „Manfred in der Kiste“, in der sich ein Mann in einem Sarg wiederfindet und verständlicherweise in Panik gerät (die psychologisch in keiner Zeile überzeugend geschildert wird), am Ende jedoch erlöst wird und tatsächlich „aufersteht“: „Was für ein Himmel. Riesig, freundlich. Wie schwerelos es sich darin fliegen lässt. Und nun füllt er sich allmählich mit Licht, oder ist das die Liebe?“ – Man möchte solche Sätze gern ironisch lesen, doch finden sich für eine solche Lesart insgesamt zu wenige Indizien. Eher umweht Mahlknechts Geschichten die Aura des Märchenhaften, Magischen, nicht alles muss mit rechten Dingen zugehen und am Ende kann sich schon einmal ein Wunder wie eine plötzliche Auferstehung aus einer Holzkiste ereignen.
Stärker sind daher jene von Mahlknechts Erzählungen, in denen sie der Versuchung eines allzu glatten, schönen Endes widersteht und wenigstens eine kleine Dissonanz bestehen bleibt – und auch jene, in denen sie die kindliche Perspektive wählt, zu der das Märchenhaft-Magische, die naiv-staunende Sichtweise, die die Autorin propagiert, sehr viel besser passt. Die Geschichte, in der sich das zweifellos vorhandene Erzähltalent der Autorin am deutlichsten zeigt, ist daher auch „Marseille“, die von einem unheilbar kranken Jungen berichtet, der – obwohl er weiß, dass er bald sterben wird – trotzdem lesen und schreiben lernen möchte und sich nichts sehnlicher wünscht als einen Fußball. Einfühlsam und poetisch zeichnet Mahlknecht hier das Bild eines starken, reifen Kindes, das zwar ständig mit dem Tod konfrontiert wird und sich doch seine Kindlichkeit bewahrt und immer noch staunen kann über die kleinen Dinge dieser Welt, den Mond oder einen Fußball.
Den hauptsächlichen Reiz von Mahlknechts Erzählungen macht sicher diese Aura des Märchenhaft-Fantastischen aus, eine Naivität, die man, wenn man möchte, als mutig deuten kann. Aber die allzu leichten, platten Schlüsse, mit denen Mahlknecht ihre Erzählungen über die schwerwiegenden Fragen der menschlichen Existenz, über „das große Ganze“, versieht, verstören den erwachsenen Leser dann doch. – Es sei denn, er glaubt selber womöglich an Auferstehungen aus Holzkisten und daran, dass „das große Ganze“ in Mutters Marmelade enthalten ist.

Friederike Gösweiner

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Sepp Mall, Auferstehung der Tiere. 13 Gedichte. Mit einem Holzschnitt von Abu Shek 
Meran: Offizin S., 2012 (Lyrikreihe)


beigelegter Holzschnitt von Abu ShekDer sechste Jahrgang der bibliophilen Reihe Lyrik aus der Offizin S.  von Siegfried Höllrigl ist dem Thema "Tiere" gewidmet; eine der drei Ausgaben enthält Sepp Malls jüngsten Gedichtzyklus „Auferstehung der Tiere“ und einen Holzschnitt von Abi Shek.

Höllrigls handgesetzter und handgedruckter Band besticht durch die außerordentliche Sorgfalt der Ausführung und die Eleganz des Gesamteindrucks: jedes Detail – von der Stimmigkeit von Wort und Bild bis hin zur Wahl der Lettern und des Papiers – zeugt von einer großen Liebe zum Buch als Gesamtkunstwerk. Der schmale Band – in feines, weißes Papier gewickelt, in eine Schutzhülle geschoben – muss behutsam ausgepackt werden, um gelesen zu werden, genauso wie Abi Sheks Holzschnitt, der  im Schutzblatt, in das er gelegt ist, erst entdeckt werden muss, um betrachtet zu werden. Wer diese Ausgabe in Händen hält, verspürt den Impuls, langsam zu werden, achtsam jedes Detail zu erkunden, die Freude zu genießen, etwas Erlesenes zu berühren. Den einzelnen Gedichten ist viel Raum gegeben: auf den großen, weißen Seiten stehen die schwarzen Lettern da wie Bilder in einem weiten Rahmen. Dies gibt den Texten etwas Atmendes, eine große Ruhe. Die Eleganz dieser Ausgabe hat mit Weite und mit Ruhe zu tun.

Auch Abi Sheks Holzschnitt ist ruhig und klar: er zeigt einen Vogel mit einem Zweig im Schnabel, eine Friedenstaube mit überlangen Menschenbeinen oder einen Menschen mit Vogelkopf und langem schwarzen Frack, ein Rabenwesen, frei schwebend vor weißem Hintergrund. Das Vogelwesen fliegt nicht, der Flügel liegt am Körper an, es ist ein schwebender und stehender Vogelmensch zugleich, es ist sein Schatten, sein Traum, vielleicht seine Seele. Abi Sheks Vogelmensch lädt ein zu verweilen.

Dies tun auch Malls 13 Gedichte. So wie Abi Sheks Vogelwesen die Tier- und Menschenseite vereint, so ist auch Malls „Tierzyklus“ in hohem Maße ein „Menschenzyklus“. Die Gedichte handeln von Erinnerungen, von Emotionen, vom Sterben, vom Töten und von der Hoffnung auf das, was man „Auferstehung“ nennt. Wo Tiere auftauchen, geben sie dem Augenblick existentielles Gewicht: das den Zyklus eröffnende Gedicht „Auferstehung der Tiere“ evoziert ein frühes Trauma: das Schlachten der Tiere, das Lachen der Väter, die Verstörung: wir legtn unsere Wangen an flauschiges Fell (Hasenherz spürst du das Pulsen) und trockneten die Tränen : auf Kissen / blütenweiß; „Aufzählung III“ zeichnet im Bild des Großvaters einen Menschen von großer Kraft und Ruhe: Lodenjoppe Hut Und mit zwei Pferden / am Halfter … Aber kein Rossebändiger sieht dich an (mit verwildertem Blick) : ein Begleiter nur / der den Weg kennt; „Auferstehung“ spricht vom Töten, von der Vergänglichkeit und vom Anschreiben gegen beides:
  

1.
Aber was wissen wir schon
von ihrer Angst / vom Entsetzen
das sie befällt
 : an den Rampen

2.
Weiter obn wird die Schrift
gelöscht / ein sanftes Wischen nur
das bisschen Kreidestaub
das auf die Schuhe fällt

3.
Schreib nicht vom Tod
das / verkauft sich nicht
sag einfach : meine Stücke
handeln vom Lebn
  

Malls jüngster Zyklus kreist um das Sterben der Menschen und der Tiere, ums Umkommen „wie ein Tier“ [„Vor Lampedusa (les animaux ne s’ enterre pas)], um Abschiede („Schläft ein Lied“) und um die Hoffnung auf einen Neubeginn („Aufzählung I“). Die Gedichte sprechen die mitfühlende Seite im Menschen an, während sie gleichzeitig die unbarmherzige Realität der Welt hereinholen, der diese mitfühlende Seite ständig ausgesetzt ist. Sie spiegeln harte Wahrheiten wider und erinnern zugleich an das menschliche Bedürfnis nach Hoffnung und emotioneller Verbundenheit. Malls Sprache will nicht verschlüsselt sein, sondern wesentlich, sie bevorzugt karge, zurückgenommene Wörter. Der weite Raum der Stille ist ein wesentlicher Bestandteil dieser Gedichte, er umgibt jedes Bild, er ist der Grund, aus dem die Gedichte aufzutauchen scheinen und wohin sie wieder zurückkehren.

Eleonore De Felip

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Sepp Mall, Berliner Zimmer
Innsbruck-Wien: Haymon, 2012

© Haymon, 2012 Nach dem Tod seines Vaters trifft Johannes die Erkenntnis, wie fremd sie einander ein Leben lang waren. Sein Vater hatte eine Mauer des Schweigens um große Bereiche seines Innenlebens gezogen und niemanden hineinschauen lassen. Nun, da der Tod das Frageverbot aufgehoben hat, folgt Johannes seiner Intuition, dass über den Tod hinaus die Beziehung zu seinem Vater gehalten und geheilt werden könne. Er macht sich auf die Suche nach dem Schlüssel zur inneren Wahrheit des Vaters und findet ihn in Berlin, wo sein Vater in den letzten Kriegsmonaten für die Wehrmacht gekämpft hatte. Hier, im brennenden Berlin, war es zu einer Liebesbegegnung zwischen dem sehr jungen Südtiroler Soldaten und einem Mädchen, Klara Hubmann, gekommen. All die vielen Jahre nach dem Krieg hatte Klara, im ostdeutsch gewordenen Teil Berlins, nie aufgehört, auf Erwin Stockner zu warten. Doch dieser war nie mehr wiedergekommen.

Johannes findet in Berlin Klara. Auf einer narrativen Ebene, die surreale und reale Elemente kombiniert, holt der Sohn für den Vater das Versäumte nach. Er führt ihn zu Klara zurück, er  gibt ihr den Langerwarteten wieder, er erlöst alle vom Schweigen, er gibt seinem Vater einen zweiten, besseren Tod, diesmal mit Klara bei sich. Und er erlebt selbst mit der mitfühlenden Frau seines Bruders eine Liebesnacht in einem Berliner Zimmer.

Sepp Malls neuer Roman handelt zum einen von der Möglichkeit, Versäumtes nachzuholen, davon, wie das Gewicht eines Versäumnisses eine ganze Familie belastet, wie einer der Söhne den Schatten des Vaters wahrnimmt und ihn mit seinen eigenen Mitteln (die in hohem Maße poetische sind) ins Leben integriert. Er handelt zum anderen von der unaussprechlichen Scham eines Menschen, der in seinem Leben nicht die Kraft hatte, den Tatsachen ihr wahres Gewicht zuzugestehen, vom Unvermögen eines Vaters, die eigene innere Wahrheit zu erkennen. Er handelt schließlich aber auch von der Macht des inneren Gesprächs. Klaras lebenslanger Dialog mit Erwin überwindet dessen reale Abwesenheit, politische Mauern und selbst den Tod. Dieser Dialog ist der stärkste im ganzen Roman, seine absolute Kraft ist ergreifend. Aber auch das innere, klärende Gespräch des Protagonisten mit seinem Vater gestaltet der Autor auf beeindruckende Weise. Und nicht zuletzt wird es der zarte, sich in minimalen Andeutungen anbahnende Dialog zwischen Johannes und Angelina sein, der eine gute Wende ahnen lässt.

Auf die Frage, was denn wahr sei und was fiktiv, gibt der Roman eine differenzierte Antwort: wahr sind unsere Beschreibungen von der Welt, unsere inneren Landkarten, nicht das, was gemeinhin als objektiv gilt. Johannes ist bereit, seine innere Landkarte zu weiten, neue Dimensionen zuzulassen, die bis zum Tod des Vaters nicht möglich schienen. Was als Liebesdienst für seinen Vater beginnt, entpuppt sich als Heilungsprozess in eigener Sache. Wo vorher im System Starre war, beginnt sich etwas zu bewegen. Was Johannes denkt, hat unmittelbare Auswirkungen auf die Realität seiner Umgebung. Mall zeichnet eine innere Landschaft, in der ein Wiedertreffen möglich ist; ihre emotionelle Intensität - dies suggeriert uns der Roman - entspricht der inneren Wahrheit, die der Vater nicht zugelassen hat. Was als Fiktion beginnt, entwickelt sich als die eigentliche Realität, die den Wahrheiten von Vater und Klara, von Johannes und Angelina gerecht wird. Johannes wagt es, der verborgenen Landkarte des Vaters zu folgen, ihr ihre Berechtigung zurückzugeben, ihren unbegangenen Wegen zu folgen, sie begehbar zu machen, die verbotene Landkarte in die erlaubte zu integrieren. Vater wird ein zweites Mal begraben, diesmal auf einer emotionell stimmigen Ebene. Mit ruhigen, unspektakulären Erzählgesten entwirft Mall ein Szenario, dessen spektakuläre Ambiguität die Beteiligten zunehmend akzeptieren. Sicher und behutsam führt der Autor die Figuren auf die zweite Ebene der Realität. Der Roman löst die Darstellungsproblematik der multiplen Entwürfe von Wirklichkeit mit den Mitteln des realistischen Erzählens. Er zeigt, dass nicht nur der eine Text- und Wirklichkeitspol, sondern auch der andere (nur) eine Variable ist. Gleichberechtigt zur „objektiven“ Wahrheit erzählt der Text die dem Geschehen inhärente Wahrheit.

Eine besondere Stärke der Erzählung liegt darin, dass Geschlechterklischees vermieden werden: Zwar sind es vor allem die weiblichen Figuren (Klara Hubmann, Alma, Angelina, Irina), die in guter Verbindung zu ihrer liebevollen, großzügigen, empathischen Seite stehen, doch gibt es auch Johannes‘ Mutter, die ihre Emotionen abgespalten hat, zu ihrer Umgebung keinen emotionellen Zugang mehr findet und unaufhaltsam auf die Demenz zutreibt. Im Gegenzug zu den veräußerlichten Lebensentwürfen des Vaters und des Bruders Gregor zeichnet den männlichen Protagonisten Johannes hingegen ein hohes Maß an Sensibilität und emotioneller Integrationskraft aus (In den zwei sehr unterschiedlichen Brüdern greift Mall ein Motiv seiner frühen Erzählung „Brüder“ wieder auf).

Das poetische Sprachregister des Erzählers Sepp Mall ist ein anderes als das des Lyrikers. Seine gelassene, manchmal karge, immer präzise Sprache bietet der Geschichte einer langsamen Heilung den nötigen, weiten Erzählraum. (In der Darstellung der zweiten Berliner Liebesnacht allerdings, in der sich Johannes und Angelina finden, vermisst man ein wenig die poetische Verhaltenheit des Lyrikers; die Dinge eins zu eins zu sagen, ist gerade in literarischen Liebesbelangen manchmal zu viel.)  Mit sicherer Hand verknüpft der Autor Bilder leitmotivisch zu einem tragenden Netz. Eines davon ist das verrücktspielende Wetter: zu Beginn ein sintflutartiger Regen, in der Mitte ein unerhört heißer Berliner Sommer, am Ende Schnee im August. Die ans Surreale grenzenden Wetterlagen spiegeln die Mehrdeutigkeit der erzählten Wirklichkeit. Ihre Schilderungen gehören zu den suggestivsten Passagen des Romans, sie markieren die Übergänge zwischen Wachzustand und Traum, sie definieren die von uns wahrgenommene Realität als etwas in hohem Maße Durchlässiges, durch das komplexere Wahrheiten durchsickern, sie kennzeichnen den Text als offenes Kunstwerk. Zu den Schönheiten der Mallschen Poetik gehört ihr einladender Gestus: auch dort, wo sich der Text sehr öffnet (und wo er sich partiell verschließt), verweigert er sich nicht dem Leser, sondern bietet Brücken hin zu einem umfassenderen Verständnis von Wirklichkeit.

Der Schnee, ein auch in der Lyrik Sepp Malls wiederkehrendes Motiv, begleitet Johannes auf seinem Weg zu sich selbst, er signalisiert seine Verbindung zu den Tiefenarealen seiner Existenz. Im März, als die letzten Schneeflecken auf der Passhöhe zerrinnen, ereilt Johannes die Nachricht von Vaters Tod; „Schnee“ sagt der vom Fieber geschüttelte Vater auf seinem zweiten, Berliner Sterbebett; am Ende des Romans - es ist Ende August – schneit es. Inmitten der plötzlichen Kälte, doch geborgen an einem gemeinsamen Tisch, finden sich Johannes und Angelina in einem behutsamen Gespräch voller Aussparungen, ihre Hand auf der seinen, während draußen im Schnee Gregor in den Fangnetzen seines Daseins hängen bleibt.

Doch das eigentliche Herz des Romans bleibt das Berliner Zimmer. Es wird zum Kristallisationspunkt für alle wesentlichen Themen. Es ist der Knotenpunkt, durch den alle Stränge laufen. Es ist der Ausgangspunkt und das Ziel der Erzählung. Es ist der Wendepunkt im Leben des Vaters: nach ihm zerfällt seine innere Ganzheit in einen gelebten und in einen verdrängten Teil. Die Begegnung im Berliner Zimmer berührt Klara mit elementarer Kraft und treibt sie in eine lebenslange unerfüllte Liebe. Die im Berliner Zimmer erfahrene und verratene Liebe wird für Erwin Stockner zum Schatten, der seine ganze Familie belasten wird. In einem Berliner Zimmer wird Johannes auf die Liebe der Klara Hubmann endlich antworten und die vom Vater verursachte Wunde heilen. In einem Berliner Krankenhauszimmer wird dem Vater die liebevolle Sterbebegleitung zuteil, die er in Südtirol nicht bekam. Von einem Berliner Zimmer aus telefoniert Johannes mit seiner Tochter Alma; es ist ein langes Gespräch, während dessen seine Gedanken oft abschweifen, in dessen Tiefenstruktur sich jedoch die innige Beziehung zwischen Vater und Tochter offenbart (Diese Passage ist von hoher Poetizität; mit leichter Hand verknüpft der Autor Almas Erzählung von Orpheus und Eurydike mit der von Klara und Erwin; er öffnet die Oberflächenstruktur des Dialogs zwischen Vater und Tochter für die multiplen Tiefenschichten des Gemeinten; er kontaminiert den antiken Mythos mit der Berliner Gegenwart; er vertauscht die antiken Rollen; er mutiert Klara mit berührender Raffinesse zu einem jung-alten Mädchen in Himation und Hütchen und lässt eine Wiederbegegnung zwischen der Lebenden und dem Toten, mehrfach fiktional gebrochen auf den Monitoren eines S-Bahnhofs, tatsächlich glücken). In einem Berliner Zimmer schließlich wird Johannes die Chance geboten, den Teufelskreis aus vererbter Schuld und Wiederholung zu durchbrechen: Obwohl sein Zusammenkommen mit Angelina fast wortlos bleibt, ereignet es sich wie etwas Selbstverständliches und emotionell Notwendiges. Es wird an Johannes liegen, die Zeichen zu sehen. Es sind Szenen von großer emotioneller Intensität, die berühren und beeindrucken. Ihnen das existentielle Gewicht zu geben, das ihnen zukommt, ohne die deutende Vorsicht je aufzugeben, ist Sepp Malls besondere Sprachleistung.

Eleonore De Felip

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Waltraud Mittich, Du bist immer auch das Gerede über dich. Prosaband
Bozen: Edition Raetia, 2012 

© Edition Raetia, 2012Tatsächlich, du bist immer auch das Gerede über dich. Sie denkt das. (94). Mit sie ist im Prosaband von Waltraud Mittich die Erzählerin gemeint, die sich im Postkriptum als "Moja, eigentlich Marie" (117), enthüllt. Das dich bezieht sich auf Hans Egarter (*1909 in Niederdorf, ┼1966 in Brixen), eine Figur des antinazistischen Widerstandes in Südtirol, vielfach unbekannt, bewusst ausgeklammert und vergessen. Da die Schuld und Mitschuld lieber verdrängt wird und weil Egarter dazu herausforderte, sich damit zu konfrontieren. Er legte ein Archiv an, in dem er alle Namen auflistete, "es ging ihm um eine Art kathartische Gerechtigkeit, Schuld und Sühne" (86),  also um das Auffinden, Sichtbarmachen und Festhalten der Schuldigen.

In 22 kurzen Kapiteln erfolgt eine Annäherung an die historische Person Egarter; gekonnt werden unterschiedliche Erzählperspektiven eingesetzt: Die Erzählerin beschreibt die Figur, tradiert historisch Festgehaltenes, sucht nach Tagebüchern und Geschriebenem, stellt Vermutungen an, führt einen fiktiven Dialog mit ihr, lässt sie selbst sprechen und schildert auch die Außenperspektive auf sie, eben das Gerede über sie. Mit 'Gerede' wird aber auch der Bezug zu einem – dem Band vorangestellten – Zitat von Martin Heidegger hergestellt, in dem 'das Gerede' als ein positives Phänomen erkannt wird.

Egarter wird als eine Figur geschildert, die fortwährend auf der Suche nach Antworten auf die Fragen des Lebens, auf der Suche nach dem eigentlichen Sinn und nach sich selbst ist. Glücklich zu sein, dazu sind die Menschen nicht gemacht, sagt sie. Etwas, wofür es sich lohnt zu leben, danach sucht sie. Im Widerstand gegen den Nationalsozialismus in Südtirol hat Egarter vermutlich diesen Sinn gesucht. Wiederholt taucht dieses vermutlich im Text auf, denn wie die Erzählerin den LeserInnen offenbart, haben wir ein Puzzle vor uns liegen und suchen nach Teilen. Nicht alle Teile sind vorhanden, einige sind verloren gegangen, nach einigen suchen wir lange und am Ende haben wir ein unfertiges Puzzle vor uns. Fehlinformationen und „stümperhafte Recherchen“ (45) gehören dazu, wie die Erzählerin klarstellt. Viele Facetten Egarters werden im Prosaband von Mittich nachgezeichnet: eine gebildete Mutter, die den Nachzügler Hans sehr liebte, ihren ersten Sohn, ein intelligentes und verunsichertes Kind, der frühe Verlust der Mutter, eine Kindheit ohne Vater, die katholische Sozialisation am Vinzentinum in Brixen und die vermutlich frühe Erfahrung des sexuellen Missbrauchs, die abnehmenden schulischen Leistungen und schließlich das 'Hinausgeworfenwerden' aus der Schule. Viele Demütigungen also, in der Kindheit und Jugend. Dann zunächst die Faszination für die nationalsozialistische Ideologie, für die Jugendbewegung der Wandervögel sowie für die Bücher von Hans Blüher - dies alles im Kontext von ungeklärten Fragen zur eigenen Sexualität. Daher wohl auch Egarters Gefallen an Rollenspielen, am erlaubten Hervorbringen anderer Seiten in sich, am Theaterspiel und auch am Kreieren von Rollen im Schreiben von Theaterstücken - ganz anders als im wirklichen Leben, wo Egarter seine geringe Achtung für Frauen und seine Vorliebe für Männer zu verbergen gelernt hatte. Seine Begeisterung für das schöne Wort, er soll 'ein Wörterfreak' (39) gewesen sein, wird im Text mehrmals betont, deshalb sein Gedichteschreiben. Die Brennende Liab ist der Titel eines seiner Gedichte, in dem er die rote Geranie als ein Zeichen der Treue, als ein Symbol für Heimatliebe und für einen starken Glauben beschreibt. Heimat war ein großes und schönes Wort für Egarter, und er stellte die Heimat in den Kontext von Glauben und Politik. Daher auch sein Gefallen an prunkvollen, 'verkleideten' Veranstaltungen, am "Spiel mit dem Wunderbaren", den Wallfahrten beispielsweise. Als die Erzählerin Egarter aus seiner Fotografie hervortreten und selbst sprechen lässt, sagt er: "Mein Einsatz fürs Dableiben war also auch einer fürs Wallfahren, aber doppelbödig hab ich diesbezüglich gelebt und agiert, und auch sonst." (58)

Geschildert wird Egarters überzeugter Einsatz als Optionsgegner, indem er sich auch journalistisch betätigte, lange bevor ihn die Dolomiten 1955 aus der Bozner Redaktion ausschloss; dargestellt wird seine Arbeit im Andreas-Hofer-Bund, der bald zum offiziellen Partner der Allierten wurde, da er als österreichische Widerstandsgruppe gegen Hitler angesehen wurde. Auch seine Mitarbeit an der Gründung der SVP wird erzählt, der Partei, die ihn letztendlich misstraute und fallen liess. Eine Biographie der Ausschlüsse.

Den Auftrag der Figur, ‚Sag ihnen allen, sag's deinen Zeitgenossen, sie sollen alles nachlesen.‘“ (69), nimmt die Erzählerin ernst. Immer wieder wird auf Foucault Bezug genommen, beispielsweise dann, wenn die Rede davon ist, „die Mechanismen des Vergessens und Verdrängens aufzudecken“ (117 ff.) oder auch in der Textstelle: "Wie ein raüdiger Hund wurde Hans Egarter weggesperrt." (96) Dieses Wegsperren, um zu verdrängen. Der Prosa vorangestellt ist das Zitat von Pierre Vidal-Naquet: "Die Geschichte ist etwas zu Ernstes, um sie den Historikern zu überlassen." Vidal-Naquet hat 1971 gemeinsam mit Foucault und Jean-Marie Domenach die Groupe d'Information sur le Prisons gegründet. Es ging ihnen um das Weggesperrte.

Gegen Ende der Prosa wird aufgezeigt, wie die Südtiroler Gesellschaft aus dieser Zeit sich Egarter gegenüber verhielt: Egarter wurde im Alltag ausgegrenzt und bespottet, seine vermutete Homosexualität wurde zum Anlass von Beschimpfungen. Das 'braune Gesindel' kehrte wieder zurück, die 'Nazis saßen bald alle wieder in allen Amtsstuben' (96) und es ist die Rede von der Umkehrung der Werte.

Mittich legt mit diesem Band eine sprachlich und inhaltlich vielschichtige Prosa vor. Das nicht vergessende Erinnern ist der Erzählerin Moja wichtig, denn wie sie zurecht behauptet, gibt es auch ein Erinnern, das (bewusst) vergisst.

Barbara Siller nach oben
  


 

Hans Platzgumer, Trans-Maghreb. Novelle vom Bauträger Anton Corwald
Innsbruck: Limbus, 2012

© Limbus, 2012 In der Novelle „Trans-Maghreb“ lässt Hans Platzgumer das Erdbeben in Japan und den „Arabischen Frühling“ Revue passieren, mithin die ersten Monate des ereignisreichen Jahres 2011. Selten ist Gegenwartsliteratur so nah am aktuellen Weltgeschehen. Selten reflektiert sie die Medien, die uns dieses Weltgeschehen via Bildschirm in die Wohnzimmer liefert. „Die Welt geht unter, wird mir vermittelt. Fukushima brennt. Und Libyen, mein Lebensmittelpunkt der letzten Monate, zerbricht. Und ich chille auf der Couch und genieße mein Goldfassl.“ Das Zeitgeschehen wird über die Perspektive eines Beteiligten vermittelt, dessen hervorstechendes Merkmal Ignoranz gegenüber der Wirklichkeit ist. So erfährt man außer den ohnehin bekannten Fakten, die über die BBC verbreitet wurden, nichts, und auch wenig über die Befindlichkeit eines 38-jährigen Muttersöhnchens. Auf indirektem Wege zeigt sich in dieser Gestalt das Exemplar eines gewöhnlichen, einsamen Zeitgenossen, der selbst im Auge des Taifuns blind und taub ist für die ihn umgebenden Turbulenzen.

Ein namenlos bleibendes, erzählendes Ich: Tiefbauingenieur, wohnhaft in Wien, Angestellter einer international tätigen Firma. Er soll den Bau einer Eisenbahn (die „Trans-Maghreb“) für den „Spinner“ Muammar al-Gaddafi vorantreiben. Während der Arbeiten an diesem Projekt bricht die Revolution in Libyen aus, von der der Ingenieur und seine Kollegen nur peripher etwas mitbekommen. Obwohl sie in der Nähe von Gaddafis Geburtsstadt Sirte, jener bis zuletzt umkämpften Festung seiner treuesten Anhänger, stationiert sind, registrieren sie die vor sich gehenden Veränderungen nicht. Erst als ihr Lager, das voller Gastarbeiter ist, eingezäunt und zu einem Internierungslager umfunktioniert wird, Lebensmittel und Wasser knapp werden, entwickeln sie ein Bewusstsein für ihre aktuelle Lage.

Doch die eigentliche Hauptfigur ist der Bauträger Anton Corwald, ebenfalls Österreicher.  Diese Figur, von der die Arbeiter inklusive Ich-Erzähler so gut wie nichts wissen, außer dass er ihr Boss ist, bleibt bis zuletzt ein mysteriöses Individuum. Verstrickt in allerlei Machenschaften, gelang es ihm, der Erzählung zufolge, ein weltumspannendes Netz von Beziehungen und Abhängigkeiten aufzubauen. Corwald wird zur Schlüsselfigur des internationalen Handels stilisiert, dem schließlich sogar die Organisation der NATO-Hilfe für die in Libyen eingeschlossenen Ausländer anvertraut wird. Bewundernd blickt der Erzähler auf, wenn es um den Bauträger geht. Der versteht es Macht auszuüben, der ist das genaue Gegenteil von ihm, sein Antipode: weltgewandt, einflussreich, phantasievoll. „Ich kann mit Menschen nicht kommunizieren, jonglieren, wie Anton Corwald es kann. Ich kann mich nicht mit ihnen zusammensetzen, plaudern, verhandeln, Geschäfte machen, wie er es tut.“ Während der Ich-Erzähler seine Freizeit vor dem Fernseher verbringt, umsorgt von seiner Mutter, ist es Corwald, der sich engagiert zeigt, dabei aber undurchschaubar bleibt. „Wenn Sie meinen, dass Sie Libyen kennen, dann müssen Sie wissen, dass Sie nur den äußersten Rand dieser Unendlichkeit gesehen haben. Die Einheimischen wissen, dass das Meer im Norden und die Wüste im Süden ein bodenloser Abgrund sind, über dem sie sitzen. Was immer sie da hinunterwerfen, verschwindet.“

Die Erzählstruktur folgt einem klaren Aufbau. Die im Präsens gehaltenen Passagen berichten vom Aufenthalt in Wien, nachdem der Erzähler das Job-Abenteuer überstanden hat. Dazwischengeschnitten sind im Präteritum erzählte Passagen von der Zeit in Libyen. Aber was ist das für ein Mensch, der diese Erlebnisse vor seinem geistigen Auge wie einen Film ablaufen lässt? Viel erfährt man nicht über ihn. „Ich war in die Wüste geschickt worden, um die Ausführungsplanung vor Ort zu überwachen. Da half kein Jammern über Straßenrowdys, die ihre Cola-Dosen aus dem Fenster warfen. Ich hatte mich mit langen Monaten in der Wüste abzufinden, bis dieser Job erledigt war, oder zumindest, bis meine Firma Erbarmen mit mir hatte und einen anderen schickte, der mich ablöste.“ Die Mentalität des Landes, die Menschen und ihre Gewohnheiten und Eigentümlichkeiten bleiben ihm fremd, auch das Feilschen um Preise ist ihm zuwider. Jede Reise in, jeder Gedanke an seine Heimat ist ihm lieber als Libyen. „Was war ich froh gewesen, wieder zurück im Abendland zu sein, wo es Schweinefleisch, Bier und Frauen gab.“ Er verhält sich wie ein Ignorant, als der er letztlich dargestellt ist.

Erzählt wird routiniert, wenn zum Beispiel der Erzähler höchst anschaulich in einem Taxi durch die libysche Wüste chauffiert wird. Als sich die Ereignisse zuspitzen, wird der Erzählrhythmus atemlos. Dass die Figur des Bauträgers Corwald blass wirkt, ist wohl der Perspektive des erzählenden Ichs geschuldet. Revolutionen, die ein ganzes Land und die Welt erschüttern, bleiben wie das Erdbeben in Japan mit seinen verheerenden Folgen für diesen Gelangweilten des 21. Jahrhunderts eine Meldung in den Medien.

Florian Braitenthaller

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Herbert Rosendorfer, Huturm. Nachrichten aus der Tiefe der Provinz. Roman
Wien - Bozen: Folio, 2012

© Folio, 2012 Erinnern Sie sich vielleicht an diese ersten sprachexperimentellen Versuche aus der Kindheit, bei denen ein Wort oder eine Phrase so lange bei sich steigerndem Sprechtempo wiederholt werden, bis sie befremdlich klingen und scheinbar ihren Sinn verlieren!? Ich denke an Dinge wie: „Blumento Pferde“ (Blumentopferde) oder „Kuhliefumtenteich“ (die Kuh lief um den Teich). So oder so ähnlich verhält es sich auch bei der Lektüre des unlängst erschienenen Romans von Herbert Rosendorfer „Huturm – Nachrichten aus der Tiefe der Provinz“. Rosendorfer rückt der Historie eines Dorfes und dessen Bevölkerung quasi so auf die „Pelle“, dass man als Leserin das Gefühl bekommt, man reise durch einen Minimundus, in dem das Leben nur so wuselt. Für jüngere Leserinnen und Leser, die mit der virtuellen Welt vertraut sind, eignet sich vielleicht der Vergleich mit PC-Spielen wie „Die Siedler“ oder „Die Sims“. Für erfahrene Leserinnen ist „Huturm“ eher in der Nähe von Jonathan Swifts „Gullivers Reisen“ anzusiedeln.

Nehmen Sie einmal an, sie lebten in einem Dorf. Sie leben in einem? Dann nehmen Sie weiters an, sie nähmen ein Mikroskop zur Hand und sähen sich Ihr Leben aus der Nähe an – wie nahe kann man seinem Leben kommen? Rosendorfers Roman kommt dem Leben so nahe, wie man ihm sprachlich und literarisch wohl kaum näher kommen kann. In gewohnt sartirischer Weise zeichnet der Autor hier eine Karikatur der Entwicklung des Dorfes „Huturm“ über mehrere Generationen hinweg, ohne sich dabei in historischen Details  oder epischer Breite zu ergehen. Kurz, prägnant und auf den Punkt gebracht sind sowohl Rosendorfers Sprache wie auch sein in 37 Kurznachrichten verpackter Roman.

Im Zentrum des Geschehens stehen vor allem der Fürst des Dorfes Huturm und der Zuwanderer Friedrich Guggemot – seines Zeichens Totengräber zu Huturm. Als „Zugewanderter“ (also nicht-gebürtiger Huturmer) muss Guggemot sich zunächst damit begnügen, die Schnur der hinteren Fahne halten zu dürfen, als Huturm zu Ehren seiner selbst den Aufstieg vom Dorf zur Marktgemeinde feierlich begeht. Auch aus dem Leben weiterer Lokalprominenzen wie dem des Doktors (Stanislaus Zoderer), des Lehrers (Hahn) oder des Apothekers wird berichtet. Mit einigem Augenzwinkern und etlichen Randbemerkungen (meist in Klammern gesetzt) kommentiert der Erzähler gekonnt und mit lakonischem Witz das Leben und Treiben der Huturmer aus der Perspektive eines – ja, so könnte man sagen – Berichterstatters.  Dies zeigt sich besonders eindrücklich in der Beschreibung der Auswirkungen des Ersten Weltkriegs auf die Bevölkerung und das Leben im Dorf:

„Dann 1925 sogar der Schilling statt Kronen. Ein Kriegerdenkmal: 153 Gefallene aus Huturm und den umliegenden Weilern. Mancher ist zwar zurückgekommen aus Galizien, vom Isonzo, aus Sibirien, ist aber nicht derselbe wie vorher. […] Das Leben geht weiter. Das Leben ist weitergegangen, trotz Krieg, trotz Inflation, trotz des Heeres von Toten – obwohl es keinen Kaiser mehr gibt“ (S.86).

Auch der Zweite Weltkrieg bleibt bei Rosendorfer ein Ereignis, das wie beiläufig geschieht, in seinen direkten Auswirkungen aber auf das Leben in der Provinz und die zwischenmenschlichen Beziehungen in Erscheingung tritt:

„Silberstein griff in seine mit dem Judenstern ‚gezierte’ Jacke, in die Brusttasche, und zog eine kleine Medaille in einem rot-weiß-roten Band hervor, hielt sie dem Kommerzialrat hin: ’Wo ich doch…’. Er steckte die Medaille wieder ein. ‚Wo ich doch ein alter Kaiserjäger bin. Wo ich doch… drittes Regiment, hat mir Exzellenz Generaloberst Křitek selber…’ Die Stimme versagte ihm. […] Daß der Kommerzialrat eines Tages vergeblich auf Silberstein wartete, hing nicht damit zusammen, daß der etwa unzuverlässig geworden wäre“ (S.128).

Mit nur einem Satz an der richtigen Stelle, einem kaum merklichen Kommentar, vermag Rosendorfer einen ganzen Kosmos, die Geschichte, die eine ganze Generation geprägt hat, zu verpacken. Schnell wird klar, dass das vergebliche Warten bedeutet, dass besagter Silberstein eben auch – wie andere im Dorf respektive Stadt „ja, Stadt[,] [p]olitisch-juristisch schon, aber Kleinstadt und im Kern immer noch Dorf“ (S.115) - Opfer des Nationalsozialismus geworden ist.

Trotz der äußeren Veränderungen und Neuerungen über die Jahrzehnte hinweg zeigt Rosendorfer, dass auch ein Dorf „nicht aus seiner Haut kann“. Mögen es auch die Nachfahren des einstigen Totengräbers Guggemots zu etwas gebracht haben, so bleiben die Menschen letztlich doch dem Vertrauten, Bekannten und Bewährtem verhaftet. Bei all der Geschichte, bei all der Entwicklung ist es doch so wie Herr Doktor es beschreibt: „Das Menschliche, das Allzu-Menschliche schimmert immer durch“ (S.96).

Bei all dem Geschichtlichen fehlt es dem Roman nicht an Märchenhaftem. Die sieben Töchter des Wirts, die das Schicksal gleichsam in „sieben Winde zerstreut“, erinnern an „Sieben auf einen Streich“ oder an „die sieben Zwerge hinter den sieben Bergen“ aber auch   daran, dass es sieben Todsünden gibt oder aber die sieben apokalyptischen Reiter …wie man es auch betrachten möchte, auf sieben Jahre der Dürre folgen immerhin sieben Jahre des Glücks. Es besteht also Hoffnung für die sieben Töchter des Kreuzwirts aus Huturm wie auch für Huturm selbst.

Wer also einen historisch anmutenden Roman lesen möchte, dem es weder an hintersinnigem Humor noch an literarischem Gespür mangelt, dem sei Huturm ans Herz und in die Hände gelegt – in dem Wissen, dass eine Leserschaft, die einen solch amüsanten, sprachwitzigen wie intelligenten Roman zu würdigen weiß, ihn trotz oder gerade wegen seiner Komplexität zu genießen versteht.

Kerstin Mayr

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Raoul Schrott, Das schweigende Kind. Erzählung
München: Hanser, 2012

Ein Mann leidet

© Hanser, 2012 Dieser Mann ist nicht zu bremsen. Er leidet und sucht sich ein Ventil im Schreiben. Er sitzt in einer Klinik und verschafft sich Luft, um an seinem Drama nicht zu ersticken. Er zieht Bilanz über ein verkorkstes Leben in Form einer ausgedehnten schriftlichen Rede an seine Tochter, die er nie abschickt. Als Künstler bleiben seine Erfolge bescheiden, im Privatleben ist der Wurm drin. Die Innenschau liegt dem Kerl nicht, deshalb nimmt er seine Umwelt und die Menschen, die am nächsten stehen ins Visier und rechnet ab. Schuld am Versagen sind die anderen. Dem Psychiater bleibt die undankbare Aufgabe überlassen, diese Schrift  nach dem Tod des Patienten dessen Tochter auszuhändigen.
So sieht die Konstellation der jüngsten Erzählung von Raoul Schrott aus, der, ein gewiefter Intellektueller, einen reinen Leidensbereicht niemals abliefern würde. Erleichterung ist dennoch nicht angebracht. Denn Schrott verbrämt die Zerstörung einer Seele hinter aufgedonnertem Bedeutungsschwulst. Ein Maler geht eine Beziehung mit einem Aktmodell ein, daraus erwächst ein Kind. Kaum zur Mutter geworden wird die Frau zur Furie und sucht, den Vater vom Kind fernzuhalten. Der kommt über diese Schmach nie hinweg. Er bringt seinen Schmerz in die Form einer aufgetakelten Prosa, er jammert auf hochgezüchtetem sprachlichen Niveau. Das hat einen Kitscheffekt zur Folge: „bereits ein Blick in deine Augen genügte und wir verstanden uns sprachlos, dein Vertrauen bedingungslos und ich dir damit ausgeliefert.“ So deutet der stolze Vater die Begegnung mit einem Neugeborenen, damit muss eine Tochter erst einmal fertig werden. Schon schreibt sich der Vater in einen Begeisterungstaumel, er kennt keine Hemmungen, sucht immer Worte der größtmöglichen Emotionalisierung: „Deine Augen sahen in den ersten Wochen kaum eine Armlänge weit; das Blinde darin aber war nun in mir und bestimmte mich.“ Ein sprachliches Blähwerk türmt sich vor uns auf, das auf das Kind, das er damit bedenkt, einschüchternd wirken muss in dieser monomanischen Suada. „Du warst mehr als eine Tochter und dies die Liebe eines Vaters: du warst der Teil, der sich abspaltet in diesem unmerklichen Dahinsterben von Tag zu Tag, das, was als einziges wirklich lebt.“ Es tut mir leid, aber ich kann darin nichts als schwurbelige Scheinwichtigkeit erkennen.
Was zählt ist der Mann, sein Schmerz, seine Trauer, sein Leiden, seine Wut. Alle anderen, das Kind und die beiden Frauen in seinem Leben haben gefälligst zurückzustecken. Das Kind darf nicht Kind sein, es wird zum Bedeutungsträger einer eitlen Selbsterhöhung. Die beiden Frauen bilden ein schönes Kontrastpaar, in beiden Fällen entspringen die dem Musterkatalog des klassischen Herrenreiters. Die Mutter des Kindes ist ein Biest, das eigennützig handelt, das Mädchen ganz für sich allein will und sich widerstandslos einem Hassprogramm fügt. Dazu passt, dass Sexualität für sie mit Gewalt verbunden ist. Sie will geschlagen, gewürgt, gebrannt, gedemütigt werden, der Erzähler spielt mit, erfüllt – der Gute - schlechten Gewissens alle Forderungen und fühlt sich als das Opfer. Gut, das wird nichts mit den beiden, eine andere Frau muss her. Die stellt sich in Gestalt der Asiatin Kim her, dem Krankenschwester-Typus. Wenn sich der Erzähler, weil er nicht mehr aus noch ein weiß – dramatische Selbsterhöhung - selbst schwere Verletzungen zufügt, ist sie zur Stelle und versorgt die Wunden. Die Frau als Mutter und Hure, auf dieser Bewusstseinsstufe befindet sich diese Erzählung. Dagegen dieses Porträt eines vor Liebe überschäumenden Vaters, rührender hätte sich Rosamunde Pilcher eine Geschichte auch nicht ausdenken können. Sprachlich allerdings agiert Schrott ungleich raffinierter. Er weiß, was er tut, ihm passiert der hohe Ton, den er immer wieder anschlägt, nicht.
Das aber macht es auch so schwierig, die Erzählung zu kritisieren. Wenn kurzfristig der Ansatz zur Selbstkritik aufkommt („Meine Selbstsucht war nicht geringer als die deiner Mutter“), dann wird sie entschuldbar, weil der Erzähler ja jemand ist, der nur reagiert. Der Aggressor ist die Frau. Der Mann bezichtigt sich, die Liebe des Kindes zur Mutter verraten zu haben, und das ist immerhin nicht weniger als „das einzig Heilige“. Jetzt befinden wir uns im Bereich der Religion, des Glaubens. Hier muss Kritik kapitulieren, man muss sich entscheiden kopfnickend auf Knien zu folgen oder man bleibt draußen.
Die Haltung des Künstlers steht nie in Frage. Als Erzähler hält er ja die Fäden in der Hand, er entscheidet über Dramaturgie und Auswahl des der Aufzeichnung Würdigen. Er ist die Instanz der Weltdeutung, der Erzähler als Despot über unser Denken und Fühlen. Er fordert Gefolgschaft, um Teil einer Verschwörung gegen empörende Verhältnisse zu sein. Einer „längst nicht mehr zeitgemäßen Judikatur“ wird hier der Prozess gemacht. Dennoch ist es etwas kurz gedacht, wenn wohlmeinende Kritiker das Buch als reinen Angriff auf die österreichische Praxis lesen, unverheirateten Vätern den Zugang zu ihren Kindern drastisch einzuschränken. Dafür ist diese Erzählung dann doch zu weitläufig.
Eine andere Erzählschicht schiebt sich nämlich noch ins Buch. Ein Auftrag führt den Künstler nach Kroatien, wo er es mit lauter windigen Gestalten zu tun bekommt. Diese Episode ist deshalb wichtig, weil sie Kim ins rechte Licht rückt. Der Verleger aus Deutschland, ein Profiteur, kroatische Politiker, eine korrupte Bande, die Verhältnisse auf dem Balkan erweisen sich als verworren, die Menschen sind roh und ungeschlacht. Es ist ganz normal, wenn einem Autofahrer als Strafe für ein minderes Vergehen von seinem Kontrahenten auf offener Straße ein Ohr abgeschnitten wird. Da gibt Kim einen schmucken Kontrast ab in ihrer aparten, selbstbewussten Art. Als Lichtgestalt bekommt sie Glanz und Aura, ein apartes Persönchen in einer rauen Männerwelt.
Ein schlechtes Buch – kein Drama. Passiert jedem Schriftsteller einmal.

Anton Thuswaldner

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Carolina Schutti, einmal muss ich über weiches Gras gelaufen sein
Salzburg: Otto Müller, 2012

© Otto Müller, 2012 Eine Figur steht am Rand. Sie kommt von außen, lebt abseits der Dorfgemeinschaft allein, wird mit Argwohn beobachtet. Und doch geht ohne diese Figur in Carolina Schuttis neuer längerer Erzählung, ihrem zweiten Buch, gar nichts. Marek bekommt sogar eine eigene Geschichte, die in die Tiefen des 20. Jahrhunderts zurückreicht. Alle anderen bleiben der Gegenwart verhaftet. Nur Maja, die um zwei Generationen Jüngere, macht eine Entwicklung durch vom Kind zur jungen Erwachsenen. Auch sie ist eine Geschädigte, ihr hängt die eigene Familiengeschichte nach. Sie bleibt immerhin noch ihm Rahmen eines überschaubaren Zeitrahmens. Der alte Marek aber, der sterben wird, bekommt ein eigenes Kapitel, das ihn als Jugendlichen im Zweiten Weltkrieg zeigt, der als Zwangsarbeiter aus dem Osten missbraucht wird. Also gut, dieser Abschnitt, in dem wir hautnah dabei sind, wenn Marek deportiert wird und seinen Frondienst ableistet, gehört zu den schwächeren Teilen des Buches. Zu sehr sieht man hier, dass sich die Autorin ihr Wissen angelesen hat, dass sie eine Pflicht abstottert, um den armen Marek in den Glanz der Unschuld zu stellen, wo er sich gut sichtbar abhebt von den ehrenwerten Kleinbürgern, die das Sagen haben. Man muss sich nur ansehen, wie die sich das Maul zerreißen, wenn einer ausschert wie der Bruder von Majas bester Freundin, der am Sonntagmorgen, wenn die anderen zur Kirche gehen, erst heimkommt. Dann weiß jeder Leser, auf welcher Seite er zu stehen hat.
Marek verkörpert in seiner Bescheidenheit und seiner stillen Liebe zu den kleinen Dingen die moralische Überlegenheit. Auf ihn kommt es an im Buch, auch wenn es im Dorf niemanden auf ihn ankommt. Bei ihm laufen die Geschichten zusammen, die über das Dorf verstreut sind. Mit diesem Erzähltrick, der einen Außenseiter zur Schlüsselgestalt umdeutet, gelingt es Schutti, Wertungen neu zu setzen. Sie verkehrt die Gesetzmäßigkeiten, die sich eingeschlichen haben, kurzerhand ins Gegenteil. Das schafft sie deshalb so gut, weil auch die eigentliche Hauptfigur, Maja, als Kind einen Blick auf ihre kleine Welt wirft, der jenen der Erwachsenen korrigiert. Sie hat sich nicht abgefunden mit der Sturheit der Großen, die alles, was fremd ist, der Verdammnis überantwortet. Maja schert auch später aus, weil sie ihren eigenen Kopf behalten will und ihn nicht mit den Kleinlichkeiten der Dörfler füllen mag. Sie weiß, dass sie nur eine Chance hat um unbeschadet durch ihr Leben zu kommen, sie muss den Aufbruch in die Stadt wagen, wo sie im Schutz der Anonymität ungehindert zu ihrem Ich stehen darf.
Bei Marek laufen die Fäden zusammen. Er ist der Schutzengel, der über der Kindheit Majas thront. Untergründig treffen sich die Biografien der beiden ja. Majas Mutter stammt aus Weißrussland. Als die Mutter stirbt, bringt der Vater das Mädchen zu einer Tante tief in der österreichischen Provinz. Die verlorene Sprache und die Babuschka _ „es heißt nicht Bauschka, sondern Matrjoschka“ – also gut: die verlorene Sprache und die Matrjoschka bilden das Glücksreservoir der Kindheit. Bei Marek, dem Mann aus dem Osten, ist dieser verlorene Tonfall zu hören. So bilden die beiden eine verschworene Gemeinschaft gegen die Dorfwelt. Dass bei Maja im Lauf der Jahre eine Entfremdung das Verhältnis stört, ist dem ganz gewöhnlichen Erwachsenwerden geschuldet. Erich holt sie raus aus der Enge, später stellt sich heraus, dass er der Sohn von Marek ist. Dass seine Mutter, die zwei vaterlose Kinder großzog, im Dorf als Geächtete ausgesondert wurde, wundert in diesem Klima der Borniertheit nicht. Marek, der Herzerwärmer, Marek, der verschwiegene Vater, er gibt den Störfaktor ab. Mit ihm kommt die Unruhe aufs Land, er deckt, so tief kann er sich gar nicht verkriechen in die Unsichtbarkeit, die Verlogenheiten auf.
Das ist alles wie beiläufig geschildert, Aufgeregtheiten aller Art meidet Schutti unbedingt. Maja gehört der Minderheit der Stillen und Unaufgeregten an, in deren Inneren es aber unentwegt brodelt und kocht. Sie steht unter Druck, ohne dass jemand anderem etwas auffallen würde. Sie wird nicht fertig mit ihrer unaufgeräumten Vergangenheit, es gibt auch niemanden, der ihr Auskunft geben würde. Das Stillschweigen ist über die Gesellschaft verhängt, also bedarf es einer starken Frau, um Ordnung zu schaffen. Die Vorgeschichte ist notwendig, um zu verstehen, wie Maja in einem großen Finale sich auf eigene Faust mit ihrer kleinen Tochter aufmacht, das Fürchten zu verlernen. Sie kommt in ein unwirtliches Weißrussland, um etwas über ihre eigene Geschichte, die Herkunft der Mutter und der Großeltern, in Erfahrung zu bringen. Nicht, dass das Unterfangen von Erfolg gekrönt wäre, wichtiger ist zu sehen, wie sich eine von allen Bevormundungen und Einschränkungen befreit, sich von niemandem etwas sagen lässt und ihr eigenes Ding macht. So ist die Erzählung als die Jahrzehnte währende Geschichte einer Emanzipation zu lesen. Alle Stationen in diesem Leben sind die Voraussetzung dafür, dieses sperrige, widerborstige Ich auszubilden. Schutti schreibt ein Plädoyer für das Widerstehen auf derart unaufdringliche Weise, wie es der Haltung dieser jungen Frau entspricht. Gegen ein Österreich der Duckmäuser stellt sie eine einsame Wölfin, der es nie einfallen würde, mit den anderen Wölfen zu heulen. Diese Maja brüllt für sich allein. An der Literatur von Carolina Schutti werden wir noch unsere Freude haben.

Anton Thuswaldner

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Reihe „Podium Porträt“ Nr. 64: Boško Tomašević

Der Band 64 der Reihe „Podium Porträt“ ist eine Hommage auf den serbokroatisch schreibenden Dichter Boško Tomašević und seinen Übersetzer Helmut Weinberger. Er enthält eine Auswahl an Gedichten aus den Bänden „Allerneueste Vergeblichkeit“ (2011), „Celan trifft H. und C. in Todtnauberg“ (2005) und „Früchte der Heimsuchung“ (2005). Walter Methlagl hat ein langes Vorwort dazu geschrieben - eine empathische und zugleich differenzierte Analyse des Gesamtwerks, zugleich eine Würdigung der kongenialen deutschen Übersetzung. Das Vorwort ist Lesehilfe, Interpretation und Mahnung zugleich, es verteidigt die Komplexität der in den Versen ausgedrückten Gedankenwelt gegenüber einer einseitig nihilistischen Lesart.

Methlagl kennt Tomaševićs gesamtes lyrisches Oeuvre, sein Blick ist umfassend und präzise zugleich, er erkennt Konstanten und Veränderungen, er nennt die Merkmale dieser „erschreckend schönen“ Lyrik, ihre Vorliebe für Sprachspiele und Überarbeitungen, für metaphysische Reflexionen und intertextuelle Bezüge.

Tatsächlich sind es die insistierenden Permutationen, die den eigentümlich intensiven Ton dieser Lyrik ausmachen:

 

Zu einer uralten Winterstille


Zu einer uralten Winterstille
wird die Zeit fallen
mit dem Schnee.

Wird uns bedecken.

Es wird sein die Zeit einer alten Stille
des Schnees unserer Stille
bedeckt
mit uns von oben.

Zu einer uralten Winterstille
wird die Zeit einer alten Stille sein
nicht zu früh
nicht zu spät
und gerade das ist es
was niemals kommen wird
sondern es wird sein
solange es sich nähert
Stunden Tage Wochen
Jahre
dieser Moment
die Zeit einer uralten Winterstille
einer Winternacht
dieser
jener Stille
unserer Stille
einer uralten Winterstille
gleich
dem Tod.

(aus: Früchte der Heimsuchung)

 

Ein poetisches Bild wird in seine Segmente zerlegt, wird gedreht, wieder und wieder gewendet, die kreisende Bewegung wirkt wie ein poetischer Sog, es ist, als ob der Leser dem prozessualen Schreiben zuschaute, das den Text im Werden verändert und offenhält. Lyrik, die sich an solchen Schreibverfahren orientiert, verlangt Leser, die bereit sind, sich den lyrischen Texturen zu stellen wie Geflechten aus sich verändernden Sinnspuren und sich auf distanzierte und zugleich neugierige Weise in Gedichte zu vertiefen. Tomaševićs Gedichte sind komplexe Sprachgebilde, bedeutungsoffene Kunstwerke, die ihren Sinn im Dialog zwischen Text und Rezipient immer neu entfalten.

Die Intensität der Verse nimmt die Farben der Realität an, auf die das lyrische Ich emotionell intensiv reagiert. Die Negativität ist keine Destruktivität, sondern die eine Seite dieser starken Empfänglichkeit. Die andere Seite ist die in vielen Gedichten ausgedrückte tiefe Verbundenheit mit Dichterkollegen (René Char, Rückkehr zu Joyce), die starke Anteilnahme z.B. am Schicksal Walter Benjamins (Port Bou, 27. September 1940), das verzweifelte Ringen um den Glauben. Die zornigen Gedichte schließlich offenbaren die leidenschaftliche Ablehnung von Gewalt, Heuchelei und Eitelkeit; die Verzweiflung, der Zorn und die leidenschaftliche Anteilnahme sind Register ein- und derselben leidenschaftlichen Antwort auf diese Welt.

Eleonore De Felip 

 podium porträt # 64: Bosko Tomasevic 

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Weitere Neuerscheinungen:

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